"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"

- -
- 100%
- +
Bereits im Verlauf dieser ersten Kontakte konnte Lienhard auch die oft unfreundliche, herablassende Art beobachten, mit der viele Weisse den Indianern begegneten. Als damals die vielen Kanus ihre Insel passierten, näherte sich eines davon durch einen Seitenarm des Flusses ihrer Blockhütte: «Es enthielt nur einen ausgewachsenen Indianer, eine Frau, ein Knabe von zirca 12 Jahren und ein kleines Knäblein von vielleicht zwei Jahren. Der Indianer schien geglaubt zu haben, er könne zwischen den Baumstämmen hindurch in den Hauptstrohm hinaus, [doch] er landete bei unserer Hütte, und [sie] traten in dieselbe ein. Alle waren für Indianer gut gekleidet, hatten verschiedene Zierarten an sich, besonders das kleine Knäblein, welcher der besondere Liebling Aller zu sein schien. Teuss hatte seine grosse Tabackspfeiffe im Munde. Ich bemerkte, dass der Indianer öfters nach ihm hinblickte, als ob in der Erwartung, dass Teuss diese ihm als Friedenszeichen reichen würde, damit er auch einige Züge daraus rauchen soll. Da Teuss aber keine Anstallten dazu machte, sagte der Indianer dem grossen Knaben etwas, worauf dieser sich entfernte, aber sogleich mit einer langstämmigen Tabackspfeiffe und einem Beutel voll Taback zurück kehrte, die Pfeiffe füllte, sie anzündete, sie dann dem Indianer hinreichte, welcher daraus einige Züge that [und] sie dann mir reichte. Ich that natürlich Dasselbe, denn ich nahm an, dass dieses ein Friedenszeichen sei, und gab sie dann dem Jungen, welcher unserm Beispiel genau folgte und sie dann dem Ältern wieder zurück gab. Teuss war somit von der Friedenspfeiffe ausgeschlossen, wahrscheinlich, weil er seine Pfeiffe nicht zum Zeichen des Friedens und Wohlwollens herum geboten hatte. Vielleicht wollte [der Indianer] damit dem Teuss bessere Manieren lernen.»144
Der Mississippi hatte sich endlich wieder in sein Flussbett zurückgezogen. Wenger war abgereist, Lienhard und Theus wollten auf der oberen Insel noch eine Weile weiterarbeiten. Doch auf die Flut folgte eine Plage anderer Art: Dichte Schwärme von Moskitos fielen über die Männer her, und zwar mit einer solchen Angriffslust, dass es vom Morgengrauen bis weit in die Nacht kein Entrinnen vor ihnen gab. Sie krochen in Mund, Nase, Augen, Ohren und unter die Kleider, ja selbst durch diese hindurch stachen sie zu. Nachts schlüpfte Lienhard in seinen Bettstrohsack und drehte ihn über seinem Kopf zu, um ein wenig Ruhe zu finden, hörte aber Theus und Minter fortwährend heftig gegen die lästigen Angreifer schimpfen.
Die Moskito-Plage wurde so schlimm, dass Lienhard und Theus übereinkamen, die Insel bei der nächsten Gelegenheit zu verlassen. Sie hatten beide gut über 20 Cord Holz gehackt, und Lienhard war entschlossen, ihren Arbeitsort nicht ohne den hart verdienten Lohn zu verlassen: «Die ‹Otter› war endlich angekommen und hatte in der Nähe unserer Hütte angelegt. Unsere Sachen waren zum Einladen bereit am Ufer, aber wier hatten unsere Bezahlung noch nicht, und es schien mir, als ob Minter lieber gesehen haben würde, wenn unser Eigenthum sogleich aufs Boot gebracht worden wäre. Ich erklärte aber entschieden, dass wier unser Gepäck erst, nachdem wier Zahlung erhalten hätten, auf das Boot werden bringen lassen. Minter mochte wohl ahnen, dass, sollten wier verhindert werden, mit der ‹Otter› wegzukommen, er nachher auf unsere Freundschaft nicht gar viel mehr zählen dürfte, worin er sich gewiss nicht geirrt haben würde. Da Minter endlich einzusehen schien, dass er uns nicht so leicht los würde, wie er gehofft zu haben schien, liess er sich vom Clerk des Bootes das nöthige Geld geben und zahlte uns damit aus, wonach alle unsere Sachen auf die ‹Otter› geladen wurden, welche sogleich den Fluss hinab dampfte. Somit hatte unsere Pinnien-Spekulation ihr Ende erreicht, und obschon wier zirca zwei Monate Zeit verloren und wier dabei trotz dem Holzhacken noch Geld eingebüsst hatten, waren wier Beiden froh, den Musquitos, Indianern, Insel und Schlangen Lebewohl sagen zu können.»145
Zurück in Galena – es war inzwischen Ende Juli geworden –, arbeitete Lienhard einige Wochen bei einem württembergischen Schlosser namens Mack, der mit einer Schweizerin verheiratet war. Lienhards eindrücklichstes Erlebnis in dieser Zeit war eine mehrtägige Fussreise von Galena nach Guttenberg146, die er im Auftrag seines Meisters unternahm. Dessen Schwager hatte sich dort eine Parzelle schönes Regierungsland gekauft, und Mack beabsichtigte, es ihm gleichzutun, weshalb er Lienhard beauftragte, sich das noch käufliche Land für ihn anzusehen und ihm dann Bericht zu erstatten. Die Strecke von rund fünfundsechzig Meilen (105 km) nach Guttenberg wollte Lienhard entlang dem linken, den Rückweg nach Galena entlang dem rechten Flussufer zurücklegen. Unterwegs stellte er bald fest, dass keine eindeutige Route nach Guttenberg existierte, und sein Vorankommen wurde in der Folge zu einem sehr beschwerlichen Abenteuer. Über weite Strecken waren weder Weg noch Strasse vorhanden, und wenn es welche gab, fand sich bei Verzweigungen selten jemand in der Nähe, den er hätte um Rat fragen können. Er verirrte sich deshalb mehrmals und machte lange Umwege durch unwirtliche Gegenden, bis er sich endlich daran erinnerte, dass er einen Kompass in der Tasche trug. Zwar konnte er nun einigermassen die Richtung einhalten, doch das tagelange Gehen über Stock und Stein in der Sommerhitze war mit grossen Strapazen verbunden. Die Füsse schmerzten ihn, er zerriss seine Hosen samt Hosenträger, verlor seine Jacke, stürzte einmal beinahe über einen hohen Uferfelsen und erreichte sein Ziel erschöpft und mit völlig verschmutzten Kleidern erst am dritten Tag um die Mittagszeit.
Für den Rückweg, den er drei Tage später antrat, nahm er sich vor, die Distanz von fünfzig Meilen (80 km) zwischen Guttenberg und Dubuque in einem Stück zu bewältigen. Doch nach einem langen Tagesmarsch bei wiederum hochsommerlichen Temperaturen musste er zehn Meilen vor dem Ziel kapitulieren. Selbst Macks sonst munterer Hund, der ihn begleitete, schien gegen Abend am Ende seiner Kräfte: «Mein Hund schien womöglich noch müder als ich, er suchte mir einigen Vorsprung abzugewinnen, legte sich dann hin, liess mich zirca 100 Schritte vorausgehen, dann erhob er sich wieder, und wieder Dasselbe, immer aufs Neue.»147 Zum Glück fand Lienhard bei einem freundlichen Farmer Aufnahme für die Nacht, und nach einem guten Frühstück erreichte er anderntags gegen elf Uhr morgens Dubuque, von wo er mit der Fähre auf das linke Ufer des Mississippi wechselte und nach weiteren fünfzehn Meilen wieder in Galena eintraf.
Im Anschluss an diese «verrückte Fussreise»148 arbeitete Lienhard nur noch kurze Zeit für Mr. Mack. Er wollte nach St. Louis fahren, wo eine kleine Geldsendung aus der Schweiz für ihn eingetroffen sein musste, danach auch Highland besuchen. Er wusste zwar, dass er dort in die schlimmste Fieberzeit geraten würde, doch der Gedanke an das Geld liess ihm keine Ruhe, denn er hatte gehört, dass ein Bekannter versuchen wolle, es in seine Hände zu bekommen. Da Lienhard beabsichtigte, später nach Galena zurückzukehren, liess er sein Gepäck bei Mack und fuhr mit der «War Eagle», «einem der besten Boote von damals»,149 nach St. Louis. Dort konnte er im Geschäft von Kaufmann Böschenstein150 erleichtert sein Geld in Empfang nehmen, wobei dieser ihm erzählte, dass der betreffende Landsmann tatsächlich versucht habe, es an seiner Stelle abzuholen.
In Neu-Schweizerland fand Lienhard wieder Aufnahme und Arbeit bei seinem Freund Schütz. Die vielen bleichen Gesichter, denen er in der Siedlung begegnete, verhiessen nichts Gutes, und wie befürchtet, erkrankte er nur wenige Tage nach seiner Ankunft ebenfalls wieder am Fieber: «Das biliöse151 und nachher das Wechselfieber waren in diesem Jahre 1845 so Allgemein, dass keine Familien davon verschont blieben und in denselben kaum ein einzelnes Glied. Es gab Fälle, wo mehrere Glieder einer Familie dem heftigen Fieber erlagen.»152 Die mangelhafte medizinische Versorgung hatte zur Folge, dass sich die Krankheit wie im vorigen Sommer über viele Wochen hinzog. In besseren Momenten half Lienhard seinem ebenfalls fieberkranken Freund Schütz die nötigsten Arbeiten auf der Farm verrichten.
Auch die Freundschaft mit Familie Gale erneuerte Lienhard nach seiner Rückkehr, und nicht ganz ohne Wehmut erinnert er sich an einen seiner letzten Besuche dort: «Die Mariet und ich ritten per Pferden durch den Sugar Kreek Wald, um irgend einen Auftrag von Mr. Gale an Squire Tomkins zu verrichten, welcher an der anderen Seite des Waldes am Saume der Shoalkreek Prairie wohnte. Wären damals meine Vermögensverhältnisse in solchem Zustande gewesen, dass ich im Stande gewesen wäre, eine Frau und folglich eine Familie zu ernähren, so würde es zwischen uns zu einer sichern Erklärung gekommen sein, und ich bedauerte aufrichtig, dass nur die nöthigen Mittel dazu fehlten. Denn ich liebte dieses Mädchen nicht nur aufrichtig, sondern ich hatte grosse Achtung vor ihrem guten Charakter, vor ihrem angenehmen Wesen und von ihrer Tüchtigkeit, eine Haushaltung zu führen. Dass ich die von mir gewünschten Mittel damals nicht besass, meinte Miss Gale, könnte am Ende kein positiver Grund sein, dass zwei sich liebende Personen [sich] nicht verbinden sollten. Sie gab mir als Beispiel ein junger benachbarter Amerikaner, welcher nicht einmal das Geld hatte, den gesetzlichen Erlaubnissschein zu bezahlen, sondern dieses zu dem Zwecke habe borgen müssen. Durch Fleiss und treues Zusammenhalten könne gar viel verrichtet werden. Ich meinerseits hatte wirklich nicht so viel Selbvertrauen, denn zwei Jahre hintereinander war ich krank mit diesem bösen galligen Fieber, und war ich sicher, ob ich nicht noch viel mehr an Krankheiten zu leiden haben würde? Und wie würde ich da im Stande sein, eine Familie zu erhalten? Der Gedanke, dass ich durch Krankheit in Verhältnisse kommen könnte, wodurch ich nicht nur eine Frau nicht erhalten [könnte], sondern eine Frau mich erhalten müsste, war mir Unausstehlich und auch Entscheidend gegen meine Wünsche. Nur eine schwache Hoffnung hegte ich: dass es mir vielleicht doch bald gelinge, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen, dann meine alte Liebe zu erneuern, und sollte diese Person noch ledig sein, sie dann um ihre Hand zu fragen.
Wie man spähter finden wird, wurden meine vermögens Verhältnisse allmälig besser. Aber da ich keinen Briefwechsel mit den Gales unterhielt und nur durch andere Personen Erkundigungen über sie einzog ohne ihr Wissen, mag die Miss Gale zu dem Gedanken gekommen sein, dass ich sie schon lange vergessen habe, und so gab sie ihre Hand einem Andern. Diese Nachricht erhielt ich kurze [Zeit] vorher, als ich mein Ziel bald erreicht zu haben glaubte. Es gibt halt auf der Welt kein vollkommenes Glück – diese Erfahrung wurde mir wie jedem Menschen zutheil!»153
Im Oktober fuhr Lienhard nach Galena zurück, um sein Gepäck abzuholen. Er traf sich dort auch wieder mit zwei Schweizern, die er im Sommer kennen gelernt hatte. Beide lebten schon mehrere Jahre in den USA, waren aber, wie er selbst, noch nicht zur Ruhe gekommen. «Der Eine hiess Heinrich Thomen154 [und] war gebürtig aus Biberstein, Canton Aargau. Er war kaum von mittlerer Grösse, hatte röthliche Haare und war in seinem Gesicht ein wenig Sommersprossig. Er war ungefähr acht Jahre älter als ich, aber sein Wesen hatte etwas Ansprechendes für mich. Der Andere war aus Kienberg, Canton Soloturn, mit Namen Jakob Ripstein.155 Er war ein grosser, schlanker und schöner Mann mit dunkeln, ein wenig scharfen Augen [und] dunkeln, etwas lockigen Haaren. Er war rasch in seinen Bewegungen, schien lebhaften, aufgeregten Temperamentes und war ebenfalls um acht Jahre älter als ich.»156
Gemeinsam diskutierten sie die Vor- und Nachteile verschiedener Reiseziele wie Oregon, Kalifornien und Südamerika, wobei Letzteres bald in den Hintergrund rückte, da eine Reise dorthin damals noch mit grossen Schwierigkeiten und Risiken verbunden war. «Mit Oregon oder California war das etwas Anderes. Um dahin zu gelangen, hatte man kein Meer zu kreuzen, keine Wellen, stürmische hoche See zu befürchten; das Schiff, welchem man sich anvertraute, war ein solider, starker Wagen, entweder mit Mauleseln oder Ochsen bespannt, das Steuer waren die Leitseile oder eine gute Ochsenpeitsche. […] Mit diesen zwei Männern sprach ich mehrere Mal über eine Reise dorthin, besonders nach California, denn damals hatte man bereits einige glühende Berichte über Californien gelesen, welche von einem Schweizer Captain Sutter geschrieben waren, und nach diesen Berichten hätte dieses Wunderland ein halbes Paradis sein müssen.»157 Oft erinnerte er sich auch noch an jene regnerische Nacht im November 1843, als er das magische Wort «California» zum ersten Mal gehört hatte und am liebsten sogleich in das geheimnisvolle Land am Pazifik aufgebrochen wäre. Obwohl die Verwirklichung dieser Pläne nun näher zu rücken schien, verliess er Galena ohne konkrete Abmachung mit seinen Freunden.
Lienhard führte das gescheiterte Fichtenwald-Projekt des vergangenen Sommers zu einem guten Teil auf seine noch immer mangelhaften Englischkenntnisse zurück. Zu oft musste er sich bei wichtigen Auskünften auf andere verlassen, und dies wollte er nun endgültig ändern. In den Wintermonaten 1845/46 nahm er deshalb keine feste Arbeit an, sondern besuchte zuerst in Greenville, rund zwanzig Meilen nordöstlich von Highland, den Sprachunterricht der öffentlichen Schule, auch nahm er dort Kost und Logis bei englischsprachigen Familien. Als die Schule schloss, setzte er den Unterricht noch eine Weile in Highland fort. Als er hier wieder am Wechselfieber erkrankte, das jetzt der Jahreszeit entsprechend «Winterfieber» genannt wurde, kam er zur Überzeugung, dass er in dieser Gegend wohl nie mehr ganz gesund würde, und die Ärzte, die er darüber befragte, bestätigten seine Befürchtungen.
Jakob Schütz allerdings wünschte sich, dass sein junger Freund in Neu-Schweizerland bliebe. Er beabsichtigte nämlich, bei seiner Farm158 einen Laden und eine Poststelle einzurichten, deren Leitung er Lienhard als Partner überlassen wollte. Die nötigen Kenntnisse sollte sich dieser in St. Louis erwerben, wozu sich, so Schütz, Kaufmann Böschensteins Geschäft gut eignen würde. Er wollte Lienhard deshalb so bald als möglich nach St. Louis begleiten, um persönlich mit Böschenstein zu reden.
Nun wurde es eng für Lienhards eigene Pläne, und das Angebot von Schütz machte ihm die Sache nicht leichter: «Dieser Idee, obschon insoweit angenehm für mich, pflichtete ich doch nur so halb bei, dazwischen drängte sich bei mir immer der Gedanke an Californien.»159 Von Unruhe getrieben, fuhr er zuerst noch einmal allein nach St. Louis, suchte die verschiedenen Marktplätze auf und erkundigte sich nach Personen, die beabsichtigten, bald die Landreise nach Kalifornien anzutreten. Doch die Reaktion der Leute fiel durchweg enttäuschend aus: «Ich fürchte, dass damals mehr als Einer der Befragten sich einbildete, es müsse mit mir nicht richtig in meinem Hirn sein, denn viele staunten mich an, als ob ich sie um eine Luftbaloonreise nach dem Mond gefragt hätte. ‹Nach Californien reisen? Wo ligt denn solch ein Land?› Auch keine einzige der befragten Personen schien etwas entweder von California oder Oregon, noch von Personen, welche nach jenen Gegenden reisen wollten, zu wissen. Ich war daher gezwungen, mein seit Jahren gehegter Gedanken, selbst dorthin zu reisen, aufzugeben, so ungern ich dieses that.»160
So kam es, dass er im März 1846 bei Böschenstein eintrat, um das Verkaufsgeschäft zu erlernen. Der Kaufmann hatte gerade einen neuen Gehilfen gesucht und Lienhard auf die Empfehlung von Schütz sogleich angestellt. Lohn wollte er ihm allerdings erst später bezahlen, wenn er ihn besser kenne und mit seiner Arbeit zufrieden sei. Immerhin war er bereit, Lienhard die Kost im Switzerland Boarding House zu bezahlen und ihn in seinem Laden schlafen zu lassen. Lienhard hatte sich inzwischen mit der Situation abgefunden und ging guten Mutes an die neue Aufgabe: «Unser Store war ein gemischter oder was man unter Dry goods and Groceries versteht, und wie ich glaube, ist ein solcher für ein junger Mann der Beste, um darin zu lernen. Was mich anbelangte, fand ich es durchaus nicht schwer, zu begreiffen und zu erlernen, was man mir einmal gezeigt hatte. […] Morgends, nachdem ich alles in den gehörigen Stand gesetzt hatte, kam dann Herr Böschenstein schon vom Frühstück, und ich gieng nach meinem Kosthaus, um mein Frühstück einzunehmen. Den Gedanken, dieses Jahr nach California zu gelangen, hatte ich bereits fallen lassen als Unausführbar, denn von Thomen und Ripstein hatte ich nichts mehr erfahren.»161
Nahezu drei Wochen waren vergangen, als Lienhard sich eines Morgens wie gewöhnlich zum Frühstück im Switzerland Boarding House einfand. «Da man noch nicht zum Essen geläutet hatte, setzte ich mich ein wenig in dem Vorzimmer auf einen Stuhl nieder, als plötzlich in der Thüre ein frisch angekommener Mann erschien und ich in demselben einen meiner Bekannten von Galena sogleich wieder erkannte. Es war Heinrich Thomen von Biberstein, der mich ebensobald erkannt hatte und mir sagte, dass Ripstein auch da sei und dass sie sich jetzt zu einer Reise nach California fertig machten. Man kann sich wol kaum vorstellen, welche Gefühle dadurch mit einem Mal wieder in mir wachgerufen wurden.»162 Es waren durchaus gemischte Gefühle, denn einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich seinen zwei Landsleuten anzuschliessen, anderseits fragte er sich, ob und wie er die erst vor kurzem angetretene Stelle werde verlassen können, «ohne dadurch die Gefühle meines Prinzipalen zu verletzen».163 Auch waren seine finanziellen Mittel nahezu erschöpft, so dass er sich ausserstande sah, sich am Kauf von Ochsen und Wagen zu beteiligen. Doch Thomann und Rippstein beschwichtigten seine Bedenken, und mit ihrer Hilfe sowie einer kleinen List, ähnlich wie damals in Stäfa, gelang es ihm, ohne Streit von Böschenstein loszukommen.164 Seinen Beitrag an die Ausrüstung wollten die beiden Kameraden ihm leihen.
Beschwingt marschierte Lienhard nun die vierundzwanzig Meilen zur Farm seines Freundes in Neu-Schweizerland zurück. «Als ich bei der Farm ankam, war Schütz westlich vom Hause mit irgend etwas beschäftigt. Wie war er überrascht, als ich so ganz unerwartet zu ihm über die fence hineinstieg! Mit einem halb verlegenen Lächeln sah er mich an, [und] als ich ihn rathen liess, warum ich gekommen sei, meinte er, das könne er nicht sagen. Als ich ihm darauf erzählte, dass ich in Gesellschaft [von] mehrern andern jungen Leute über land nach California wolle, da that es ihm wirklich leid, denn er habe etwas Anderes mit mir vorgehabt.»165 Schütz erzählte ihm, dass er beabsichtigt habe, ihm, wenn er bei ihm geblieben wäre, später seine Farm zu vermachen. «Die gütige Absicht des guten alten Mannes rührte mich»,166 gesteht Lienhard. Doch es gab nun nichts mehr, was ihn noch hätte umstimmen können. Seinem grosszügigen Freund erklärte er, dass er wünsche und hoffe, sich eines Tages auch aus eigener Kraft eine Existenz aufbauen zu können.
Bevor er nach St. Louis zurückfuhr, kaufte sich Lienhard eine gute Doppelflinte und ein Waidmesser, «wie die Schweizerischen Scharfschützen sie tragen»,167 dann verabschiedete er sich von seinen Freunden in der Siedlung und schliesslich auch von Jakob Schütz und seiner Familie: «Schütz hatte mir noch ein paar Dollars in meine Hand gedrückt und bemerkte, dass es ihm recht leid thue, gerade arm an Geld zu sein, da er mir sonst mehr gegeben haben würde. Der Postwagen war jetzt angekommen, worin ich Platz fand und der mich bald von meiner zweiten Heimath und von meinem gutmeinenden zweiten oder amerikanischen Vater hinweg führte.»168
1 Conrad Leonhardt (?–1686) ist in den Quellen mit dem Vermerk «Tagwenmann von Bilten, am Nussbühl» aufgeführt. Er heiratete 1664 die einheimische Verena Leuzinger und erhielt ein Jahr später das Bürgerrecht der Gemeinde Bilten. Kubly-Müller, Genealogie des Kantons Glarus.
2 Kaspar Lienhard (1784–1873) war in zweiter Ehe mit Dorothea Becker (1793–1842) von Bilten verheiratet. Seine erste Frau, Anna Margaretha Stüssi von Niederurnen und Bilten, war 1811, nur wenige Tage nach der Geburt ihres ersten, tot geborenen Kindes gestorben. Kubly-Müller, Genealogie des Landes Glarus.
3 Dies waren Johann Heinrich (19.4.–17.8.1815), Johann Heinrich (1.5.–15.5.1817) und Johann Jacob (15.6.–25.8.1828).
4 Manuskript 1/1.
5 Manuskript 1/2.
6 Manuskript 1/3.
7 Manuskript 1/3.
8 Manuskript 1/4.
9 Manuskript 2/1.
10 Manuskript 2/1.
11 Manuskript 1/2.
12 Manuskript 2/2.
13 Manuskript 2/4.
14 Pfarrer Johann Rudolf Schuler (1795–1868) bekleidete das Pfarramt der Gemeinde Bilten von 1820 bis 1862. Zur Entwicklung des glarnerischen Schulwesens und zu Pfarrer Rudolf Schuler siehe Gottfried Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Jahrbuch des historischen Vereins des Kantons Glarus, Heft 18 (1881) und Heft 19 (1882).
15 Die Gemeinde bildete damit noch für viele Jahre eine Ausnahme. So setzte beispielsweise der Nachbarort Niederurnen – eine Fabrikgemeinde – 1832 die Schulpflicht bis zum 12. Altersjahr fest und reduzierte sie ein Jahr später sogar auf das 11. Altersjahr, «theils aus Rücksichtnahme gegen die Herren Fabrikanten, welche bei der rasch aufblühenden Industrie die Kinder brauchten, theils aus dem vorwiegenden Interesse der Eltern selbst an dem Verdienste, den ihnen die Kinder heimbrachten». Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Heft 18, 133.
16 Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Heft 18, 134.
17 Manuskript 3/2. – Heer beschreibt Pfarrer Schulers grossen Einsatz für die Gemeindeschule mit lobenden Worten, bringt mit Verweis auf Pestalozzi aber auch eine kritische Bemerkung an. Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Heft 18, 135, Anm. 1.
18 Die Bankreihen waren offenbar gestuft und die oberste war den besten Schülern vorbehalten.
19 Pfarrer Schuler legte grossen Wert auf die sprachliche Förderung der Kinder. Bei den erwähnten «Gegensätzen» handelte es sich vermutlich um Wortpaar-Übungen.
20 Manuskript 3/3 f.
21 Manuskript 3/4.
22 Manuskript 3/4.
23 Manuskript 4/1.
24 Manuskript 3/4–4/1 f.
25 Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Heft 18, 135. – Heer bemerkt zum Widerstand gegen Pfarrer Schuler: «Auch bei andern Anlässen trat die Gemeinde Bilten ihrem Pfarrer Schuler und seinen Bemühungen in den Weg; eine aus andern Gründen herrührende Entzweiung mit einer zahlreichen Partei der Gemeinde, die in den frühern Jahren seiner Wirksamkeit zu einer ganzen Anzahl von Rathsvorständen führte und am Schlusse seiner vieljährigen, eifrigsten Thätigkeit ihn im Streit aus seiner Stelle scheiden liess, erschwerte ihm auch seine Thätigkeit für das Schulwesen, das in ihm einen so eifrigen Förderer besass. Einige Entschädigung für Misskennung in der Nähe mochte ihm die von auswärts werdende Anerkennung bieten; selbst Fellenberg und Wessenberg (Constanz) besuchten seine Schule, die damals als Musterschule galt.» Heer, Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens, Heft 18, 135f., Anm. 2.
26 Manuskript 3/3.
27 Manuskript 2/2.
28 Manuskript 4/3.
29 Heinrich Schindler entzog sich 1833 durch seine Auswanderung einer unglücklichen Ehesituation. Schindler und Lienhard trafen sich 1849 in New York (Manuskript 183/3f.).
30 1836 wanderten Peter Lienhards 18-jähriger Sohn Peter und Jakob Lienhards 23-jähriger Sohn, der ebenfalls Peter hiess, in die USA aus. Manuskript 12/3; Kubly-Müller, Genealogie des Landes Glarus.
31 Manuskript 3/1.
32 Es handelte sich um eine Neuauflage des Buches: Johann Evangelist Fürst, Der wohlberatene Bauer Simon Strüf, eine Familiengeschichte. Allen Ständen zum Nutzen und Interesse, besonders aber jedem Bauer und Landwirthe ein Lehr- und Exempel-Buch, 5., verb. Aufl., Augsburg: Kollmann, 1841.
33 Manuskript 6/3f.
34 Manuskript 4/4.
35 Peter Lienhard heiratete am 21. Februar 1837 die achtzehnjährige Elisabeth Speich von Luchsingen. Sie starb am 20. Juli 1838, eine Woche nach der Geburt ihres ersten Kindes, das seine Mutter nur um wenige Tage überlebte. Kubly-Müller, Genealogie des Landes Glarus.
36 Manuskript 4/4.
37 Manuskript 4/4.
38 Lienhards gelegentliche Schreibweise «Achs» für Axt wird hier und im Folgenden korrigiert.
39 Manuskript 7/2.
40 Manuskript 6/2.
41 Heinrich Lienhards Grosseltern väterlicherseits waren Peter Lienhard (1759–1828) und Afra Lienhard-Aebli von Bilten (1764–1797). Von ihren zwölf Kindern starben sieben im ersten Lebensjahr. Afra Lienhard-Aebli starb bei der Geburt ihrer Tochter Afra (1797–1802). Kubly-Müller, Genealogie des Kantons Glarus.





