Wie die Milch aus dem Schaf kommt

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Zwei lange Tische. Fische, Salate, Kuchen, Wasser, Cola und Saft. Der Kiddusch wird gesungen, Saft getrunken, die Challa wird gebrochen und mit Salz bestreut.
Lea, die Frau des Rabbi Mordechai Kaplan – trotz der bleiernen Hitze mit hochgeschlossener Bluse, Jacke, Strümpfen und Perücke bekleidet –, will mich zu ihren Töchtern setzen, doch plötzlich Rufe: «Switzerland! Switzerland!»
Lea schubst mich zu einem Mann, der aus Zürich kommt. Weisse Haut, schwarzes Haar, rote Lippen, ein männliches Schneewittchen. Gesang ertönt, die schwarzen und die weissen Engel, die Namen sorgfältig ausgesprochen, für eine gute Woche, Leas Töchter tragen Hühnersuppe mit Nudeln auf.
Schneewittchen trinkt Obstsaft und fragt: «Sind Sie jüdisch?»
Selma: «Vielleicht. Zur Hälfte.»
Schneewittchen: «Mutter oder Vater?»
Selma: «Mutter.»
Schneewittchen: «Ja? Und bei der Mutter die Grossmutter oder der Grossvater?»
Selma: «Beide.»
Schneewittchen: «Für mich sind Sie jüdisch. Keine Frage.»
Selma: «Wenn überhaupt, bin ich halbjüdisch. Und nicht nur das. Ich komme aus einer Familie assimilierter Konvertiten. Ich bin Hybrid. Ich bin unbestimmt.»
Schneewittchen: «Kennen Sie die Halacha?»
Selma: «Ja.»
Schneewittchen: «Die Halacha ist das Gesetz.»
Selma: «Mag sein. Meine Familie aber ist die Realität.»
Der Rabbi klettert auf eine Bühne, erzählt eine Geschichte, Ivrit, Jiddisch und Englisch, die Worte brechen mit Gewalt aus dem rundlichen Mann heraus, die Gäste gehen herum, reden oder nutzen die Pausen, wenn der Rabbi Atem holt, um zu klatschen, einen neuen Gesang anzustimmen, doch er hebt die Hände: «Warten Sie! Warten Sie! Ich bin noch nicht fertig!» Und ich fühle mich zugehörig, Teil einer Gemeinschaft, Paulines Gemeinschaft – Paulines Vermächtnis, das ich aus den Tiefen der Geschichte, des Schweigens und der Kiste heraufhole. Und finde das Glück in Marielouises Herzen … Mitten in dieser Stadt, die sich Valparaiso nennt … Paradies … Offenes Meer … Woher kommen wir … Wohin gehen wir … Und ich bedaure, wegen Schneewittchen nicht bei den Mädchen in der Küche und im Hof sein zu dürfen. Das endlose Monologisieren der Männer langweilt mich, ich sehne mich nach Küchenklatsch mit Frauen, Spielen mit Kindern – wie auch die Erinnerung an meine Mutter ein Kinderspiel mit Verlangen ist. Auf Marielouises Flucht zu reagieren, sie zu verstehen, heisst wach zu sein für das, was an meinem Leben gut ist, oder vielmehr wach zu sein für das Gute im Leben schlechthin.
«So! Das hat gedauert, ein Chasside halt!» Schneewittchen springt auf und sucht Messer und Gabel, ich helfe ihm, Hühnerkeule, Kartoffeln und Gemüse, der Mann, der mir gegenübersitzt, will wissen, warum ich hier bin. Ich stelle die Gegenfrage. Er wohne in der Westbank und arbeite als Tourist Guide, Polen, Ukraine, Russland, Konzentrationslager und Erschiessungsstätten. Er berichtet von Auschwitz, das erst spät für ganz Europa errichtet worden ist, von Belcec, wohin die meisten Polen und Westukrainer verschleppt worden sind, und von Sobibor im Süden, wo es einen Aufstand gegeben hat. Er zählt Dörfer und die Anzahl der Erschossenen und im Wald Verscharrten auf, kann nicht aufhören, eine Litanei, eine Liturgie. Der Mann, rothaarig und voller Sommersprossen, kneift schliesslich die Augen zusammen und fixiert mich. Er lebe in Samaria, im heiligen Zentrum von Israel, sagt er, die internationale Gemeinschaft bezeichne das Gebiet aber als Westbank oder gar als besetztes Gebiet. Er wiederholt angewidert das Wort: WESTBANK! Nun ja, entgegne ich, auf die Perspektive, aus der man die Sache betrachte, komme es an.
Er ist gekränkt und verstummt.
Wodka wird ausgeschenkt. Lea verteilt Fruchtrouladen, ihre Töchter laufen hin und her, tragen auf und ab, in der Küche an der dröhnenden Abwaschmaschine zwei lachende, verschwitzte Frauen: Schabbes Gojim.
Lea umarmt mich: Schabbat Schalom. Und der Rabbi wirft sich auf einen Stuhl, wischt sich mit einem Tuch den Schweiss von der Stirn und entschuldigt sich, weil er seine Geschichten in Ivrit erzählt.
«Never mind», sage ich, und er wendet sich ächzend ab: «All the best.»
lea kaplan, frau des oberrabbiners, 32 jahre, lebt in lemberg: «Dieses gute Gefühl, ja, wir sind jüdisch, wir sind glücklich, jüdisch zu sein, wir sind stolz, jüdisch zu sein, ein sinnvolles, glückliches Leben zu haben, dieses Gefühl, mir und anderen etwas geben zu können, diese Ideale will ich weitergeben, ja, als Jüdin muss ich ein gutes Beispiel sein, mein Leben in dieser Welt ist Ausdruck eines göttlichen Willens, und wenn jemand meine Handlungen sieht, soll er sagen: Wow! Das muss ein wundervoller Gott sein! Und so kann ich andere dazu ermuntern, Unterstützung zu geben, zu teilen, aufrichtig und freundlich zu sein: uralte jüdische Ideale. Wer aber mag es jedoch, wenn man ihm dauernd unter die Nase reibt: Hey! Sei aufrichtig, sei freundlich, sei integer! Menschen sind unvollkommen und machen Fehler. Ein Jude ist aber aufgefordert, diese Ideale zu verkörpern.»
Wolltest du das, liebe Pauline? Immerhin weisst du nun, wie das geht. Eigentlich hast du es immer gewusst. Dieses Schabbat-Essen erinnert mich an die wöchentlichen Einladungen, die du gegeben hast. Den langen Tisch. Die ausgewählten Gerichte. Die Helferinnen. Die hitzigen Diskussionen. Das Geschrei. Lachen. Die Musik vom Plattenteller. Und du! Die Königin. Mit deiner schwarzen, krausen Haarkrone. Deinen strahlend grünen Blicken. Deinen Geschichten. Deinem Witz. Du hieltest sie alle in der Hand – wie der runde Rabbi Mordechai und seine Frau Lea ihre Gäste.
Und ich las in deinen Notizen, liebe Pauline, von deinem grossen Wunsch, in die Synagoge zu gehen. Aber du trautest dich nicht: «Wir beugten unsere Köpfe und unterwarfen uns der fremden Macht. Es stellte sich jedoch als fataler Irrtum heraus, die eigene Herkunft aus dem galizischen Judentum verdrängen zu wollen. Denn ich wurde zu einer Mischung all jener Mächte, denen wir uns unterwarfen. Bei Hendrik ging es so weit, dass er für kurze Zeit Mitglied der NSDAP wurde. Wie ich es verabscheute. Wie ich ihn und mich verachtete. Doch klopften zeitlebens beunruhigende Träume an meine Tür. Und dahinter lauerte die Masse der galizischen Juden, die ihr Dorf verlassen hatten, um in christlichen Gemeinden sich zu assimilieren. Bereit, von beiden Seiten attackiert zu werden!»
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