Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume

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Ab und zu blitzte wieder die alte, die couragierte Mutter hinter ihren traurigen Augen hervor und applaudierte Paula.
Und plötzlich wusste sie, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Familie wieder Halt finden würde, auch wenn der Abgrund immer noch mit schlüpfrigen Stellen lockte.
Ihre Mutter und sie würden sich festhalten können.
Jeden, den sie auf der Straße traf, begrüßte sie mit „Glück auf!“
Die Leute, die zu Anfang nur kopfschüttelnd an ihr vorübergingen, lächelten und grüßten sie bald zurück.
Einer muss immer den Anfang machen, dachte Paula.
Deshalb rief sie schon von Weitem laut „Glück auf“ in den verlassenen Schacht und wartete auf Kalle, auf ihren Freund, ihren Kumpel.
„Keine Kohle, nee datt gaabes bei uns nich, höchstens zu wenig Mettwurst im Eintopf. Man muss mit dem auskommen, watt man hatt und nich, watt man haben will. Watt man sich nich erlauben kann. Kär, watt haben wir imma malocht inne Schicht.“
Kalle hatte dieses Mal einen besonders prall gefüllten Stoffbeutel bei sich und breitete seine Schätze direkt vor Paulas Füßen aus. Sie aßen Fleischwurstbrote mit Gürkchen, Mettbrötchen mit Zwiebeln und Käsestullen mit Butter.
Zwischen lautem Geschmatze und leisen Rülpsern erzählte Kalle wieder von einer Schicht, die ihm fast seinen besten Kumpel gekostet hätte.
„Datt war eigentlich ein ganz normaler Tach, einer, an dene widda an Gott glaubs. Ein Tach, der ne schnelle Schicht und ein frisch Gezapftes am Abend versprach. Es ging widda im Heidentempo inne achte Sohle, ich hatte gleich sonn flaues Gefühl inne Magengegend, als ich meinen Riecher so inne Luft gehalten hab. Datt riecht nach Ärger, hab ich so bei mir gedacht und schon gabs einen Rumms sach ich dir, da wären dir vor lauter Angst die Zwiebeln aussm Mett gesprungen. Ich renn in den Schacht und brülle los, Karlarsch brüllt hinter mir her, abba ich renn weiter, huste, spucke, weil ich nur noch den verdammten Staub einatme. Renn weiter, nur noch nach Gefühl. Eine Decke iss eingestürzt, wie Streichhölzer sind die Holzbalken eingeknickt. Verdammich, denke ich bei mir und brülle nur noch Jupp, wo bisse, sach watt, gib mir Zeichen! Karlarsch war der Erste am Aufzug, der Erste, der mit ein paar Kumpels widda hochgefahren iss. Da iss keiner mehr, höre ich die anderen. Ich abba weiter, Jupp musste hier irgendwo sein. Ich kriech getz, meine Knie spüre ich schon nich mehr, so wund sind die. Noch immer knackt und kracht es über mir und ehrlich gesacht, hätt ich mir beinah inne Hose geschissen, abba ich robbe weiter, huste, spucke, blinzle den Staub ausse Augen. Da seh ich watt und höre ein Stöhnen, Jupp. Der liecht unter einem Haufen Schutt und kann sich nicht selbst befreien.
Ich brülle ihn an und schaufle mit bloßen Händen den Berch Schutt weg. Dann ziehe ich meinen Kumpel ausse Gefahrenzone und wir stolpern zurück, hinter uns rummst es wieder ohrenbetäubend.“
Paula kaute mit offenem Mund und angezogenen Knien, Kalle schilderte weiter in spannenden Tönen die Flucht aus der achten Sohle und die Rettung seines Freundes Jupp.
„Der wär glatt krepiert, wenn ich, wie Karlarsch, die Fliege gemacht hätte“, sagte er stolz und Paula bewunderte ihn noch mehr dafür.
„Ich habe auch etwas zu berichten“, sagte Paula mit leuchtenden Augen.
„Mein Vater hat eine Stelle im Museum der Zeche Zollern bekommen, er hat sich wieder im Griff, will seine Chance nutzen und aus dem Kreis ausbrechen. Er hat mich in den letzten Monaten beobachtet und erkannt, wie schwach er gegen seine kleine Tochter geworden war. Und hat meine gute Laune als Ansporn für sich genommen. Meine Mutter durfte ihm sogar die Haare schneiden. Sie haben das alte Klavier meines Opas stimmen lassen und mir geschenkt. Mein Vater sagte, dass unsere Eltern alle aus dem Pütt stammten und wir jetzt die Metropole Ruhr sind. Wir sind moderner geworden und können stolz auf unsere Region sein, auch in unserem Leben können und müssen wir ständig sanieren.“
„Glück auf“, antwortete Kalle lächelnd und wurde plötzlich still.
Abrupt, unheimlich und fremd.
Paula gefror das Lächeln im Gesicht, aber sie konnte nicht mal genau sagen, warum.
„Ab morgen bin ich nich mehr hier, muss widda ganz tief runter“, flüsterte er leise und blickte zu Boden: „Du komms auch getz ohne mich klar, da bin ich sicha. Du hass deine Familie gerettet, hast sie auch ausse achte Sohle widda hochgeholt. Familie ist das Wichtigste im Leben, du bissn echta Kumpel.“
Paula starrte ihm hinterher, als er in den dunklen Schacht ging, unfähig, ihn aufzuhalten. Immer kleiner wurde seine Gestalt und die Grubenlampe verblasste, bis nur noch ein blassgelber Schimmer an den Wänden tanzte und schließlich einen dunklen Schacht hinterließ.
Sie ging langsam zurück und trat in die helle Julisonne. Atmete tief ein und hätte fast eine Gruppe Rentner übersehen, die direkt auf den Eingang zuhielt.
Noch nie war sie hier einer Menschenseele begegnet.
„Glück auf“, grüßte sie und sah erst jetzt, dass alle Kerzen in den Händen hielten und sich vor dem Eingang platzierten. Sie blieb stehen und beobachtete die Gruppe, trat näher an sie heran. Sie steckten die roten Grablichter nacheinander an.
Paula stellte sich neben eine der Frauen und flüsterte, um die feierliche Zeremonie nicht zu stören.
„Was ist denn hier los, ist jemand gestorben?“
Aber niemand schien ihre Anwesenheit wahrzunehmen, so sehr war die Rentnergruppe in ihre Zeremonie versunken. Ein kleiner, untersetzter Mann fing laut zu reden an.
„Auf einmal hieß es Schicht am Schacht, keine Arbeit mehr im Stollen, die Zeche wird morgen dichtgemacht. Wir fragten uns, was wir nun tun sollen.
Wir haben unseren Weg mit deiner Hilfe gemacht und wünschen dir, wie jedes Jahr, Glück auf, Kalle, und gute Nacht.“
Plötzlich fing Paula laut an zu schreien, die Rentnergruppe drehte sich erschrocken zu ihr um.
„Ist Kalle tot?“, heulte sie laut auf.
Verwirrt blickten die Rentner sich gegenseitig an.
„Aber Mädchen, er hat sich doch umgebracht, als die Zeche geschlossen wurde.“
„Er konnte ohne seine Kohle und die Kumpels nicht leben, ist einfach in den Schacht hineingelaufen und nie wieder aufgetaucht“, sagte eine der Frauen.
„Wir kommen jedes Jahr hierher“, flüsterte eine andere.
Fassungslos starrte Paula die Gruppe an: „Wie viele Jahre schon?“
„Zwanzig“, sagte die Gruppe wie aus einem Mund.
„Feigling“, dachte Paula, drehte sich um und ging ihrem neuen Leben entgegen.
Sternenbild
Hans Feddersen lehnte sich einen Moment in seinem Bürostuhl zurück und blickte auf die unruhige Nordsee hinaus. Der Blanke Hans schlug seine kräftigen Arme schäumend gegen die Kaimauer am Hafen. Er mochte es nicht, wenn das Wasser so unruhig war wie heute. Ebenso wenig mochte er den Sprühregen im November, der die Hansestadt schon den ganzen Tag über in einen grauen Schleier hüllte. Er fuhr seinen Rechner herunter, 16.00 Uhr, Feierabend.
„Schietwetter heute“, sagte der Busfahrer zu ihm, als er wie jeden Tag in die Linie 146 einstieg.
„Das sagen Sie mal laut, meine Knochen ziepen schon an allen Stellen. Man ist eben nicht mehr der Jüngste.“
Als er durch den Gang ging, um sich wie jeden Tag auf seinen Stammplatz zu setzen, war dieser bereits belegt. Er nahm seinen Hut ab, setzte sich auf den Platz gegenüber und schaute aus dem Fenster. Mit einem leichten Ruck fuhr der Bus an und warme Luft drang durch einen schmalen Schlitz am Boden an seinem Knie entlang. Die Fensterscheibe spiegelte das Bild der Frau, die auf seinem Platz saß, sie schien zu schlafen. Er freute sich auf sein altes, aber bequemes Sofa und die Nachrichten. Wassertröpfchen rannen still die Scheibe herunter.
„Siehst du die Sterne?“, flüsterte die Frau plötzlich und fuhr mit einem Finger die Spur der Wassertröpfchen entlang. Feddersen bekam einen leichten Schreck und starrte die Frau an: „Entschuldigen Sie bitte, was sagten Sie gerade?“
Sie öffnete die Augen: „Unsere Sternenbilder sind wieder da, genauso wie du.“
Er wusste darauf keine Antwort und schaute wieder aus dem Fenster.
„Wo bist du so lange gewesen?“, flüsterte sie.
„Verzeihung, kennen wir uns?“, Feddersen sah die Frau wieder an und bekam ein mulmiges Gefühl im Magen, denn er mochte keine Unterhaltung mit fremden Menschen.
Die Frau begann leise und fein zu lächeln. Erst jetzt bemerkte er, dass sie unter ihrem Mantel ein weißes Nachthemd trug. Er schaute sich nach den anderen Fahrgästen um, die teilweise in ihren eigenen Unterhaltungen vertieft waren. Ein junges Mädchen wiegte ihren Kopf leicht hin und her, ihm fielen die kleinen Kopfhörer auf, die aus ihren Ohren herausschauten. Sie alle waren in ihrer eigenen Welt, niemand schien ihn und die Frau im Nachthemd zu bemerken. Er scharrte ein wenig mit seinen schmutzigen Schuhen und wäre ihr dabei fast auf die bloßen Füße getreten.
„Muscheln unter unseren Füßen im heißen Sand, salziges Wasser auf den Lippen und unsere Haut, die schon leicht brannte. Und am Abend unsere Sternenbilder am Himmel“, flüsterte sie wieder vor sich hin.
Dabei drehte sie einen schmalen Goldring an ihrem Finger. Vielleicht wäre es am besten, wenn er einfach mitspielte, dachte Feddersen.
Er hatte in seinem ganzen langweiligen Leben niemals eine feste Freundin gehabt, geschweige denn eine Ehefrau. Griesgram, Eigenbrötler nannten die Leute ihn hinter vorgehaltener Hand. Plötzlich nahm sie seine Hände in ihren Schoß, fast wäre er vor Schreck zusammengezuckt, und sah ihm tief in die Augen. Sie waren bernsteinfarben, solche Augen hatte er vorher noch nie gesehen.
„Auf einer unserer vielen Reisen hat das Meer einfach deinen Ring genommen.“
Sprachlos nickte Feddersen und konnte seinen Blick nicht von ihrem fast faltenfreien Gesicht wenden. Jetzt brachte sie ihre fein gezeichneten Gesichtszüge wieder ganz nah an die Scheibe heran und hauchte dagegen. Langsam malte sie mit einem Finger ein großes Herz auf das Glas rund um die Wassertröpfchen herum.
Er spürte einen Schweißfilm auf der Stirn, die Frau griff in ihre Manteltasche und holte ein Stofftaschentuch daraus hervor. Sie schlug es auf und wischte ihm damit zärtlich über die Stirn. Er hatte noch nie ein so sinnliches Gefühl gehabt. Währenddessen hielt der Bus an den verschiedenen Haltestellen und fuhr wieder an. Aber Feddersen achtete nur noch auf die Frau ihm gegenüber, wie sie versuchte, ihre grauen Haare in Ordnung zu bringen oder ein kleines Loch in ihrem Mantel zu verbergen.
„Ich habe immer die Fenster geöffnet und selbst gepflückte Blumen aus unserem kleinen Garten auf den Küchentisch gestellt“, sagte sie jetzt zu ihm und lächelte wunderbar. Er räusperte sich: „Genau so, wie ich es mag“, antwortete er ihr und drückte ihre Hand fest in seine.
„Unser Deich hat mich stets beschützt, wenn du auf dem Meer warst, um zu fischen. Tagelang saß ich auf ihm und habe mich von der Sonne wärmen lassen. Aber sobald ich einen Schatten auf dem Wasser sah, bin ich fast verrückt geworden vor lauter Sehnsucht. Dabei sangen mir die Möwen fröhlich ihr Liedchen vor.“
„Schön, dass du auf mich gewartet hast, auch ich hatte immer Sehnsucht nach dir“, Feddersen begann das Spiel zu gefallen, er mochte ihre Stimme, ihre schöne Ausdrucksweise, ihren reizenden Gesichtsausdruck. Jetzt summte sie vor sich hin und er hätte sie am liebsten in den Arm genommen.
Plötzlich nahm er eine schnelle Bewegung in seinem Rücken wahr und schaute neben sich in den Gang.
„Sind Sie belästigt worden?“, fragte ihn ein stämmig aussehender Mann burschikos.
„Was soll das?“, antwortete Feddersen mit einer Gegenfrage und spürte, wie unangenehm ihm diese Störung war.
Erst jetzt fielen ihm die weißen Klamotten auf, die der Mann trug. Er sah wie ein Arzt aus. Er bückte sich zu der Frau hinunter und griff ihr unter den Arm. Dann zog er sie in die Höhe: „Frau Hein, hab ich sie wieder erwischt. Dieses Mal sind sie Bus gefahren. Sie können es aber auch nicht lassen“, lächelnd sah er der Frau ins Gesicht.
„Knut und ich reisen halt gern“, dabei sah sie Feddersen liebevoll an.
„Ja, das tun wir“, sagte er wie aus der Pistole geschossen zu dem stämmigen Pfleger. Wie um diese zerbrechliche, ihm fremde Frau zu unterstützen. Der Pfleger nickte ihm dankbar zu. Dass die Frau keine Schuhe trug, war für ihn offensichtlich nichts Neues, denn er hatte ein paar rosa Fellstiefel dabei, die er ihr nun rasch anzog. Der Bus hielt so lange an der Haltestelle, bis die beiden ausgestiegen waren. Feddersen beobachtete, wie sie mit dem Pfleger in den Wagen eines Altenheimes stieg und fühlte sich plötzlich so alleine wie noch nie. Als hätte man ihn um einen Schatz beraubt. Während der restlichen Fahrt starrte er aus dem Fenster und fragte sich, wer von ihnen beiden verrückt gewesen war, denn er selbst hatte in den Wassertröpfchen noch nie ein Sternenbild gesehen.
Loslassen
Hatte ich diese senkrechte Stirnfalte, die einen sicheren Platz zwischen meinen fein gezupften Augenbrauen gefunden hat, etwa gestern schon?
Mein Spiegelbild starrt mich an, die Falte bleibt unverändert.
Ich massiere sie mit beiden Mittelfingern, ziehe die Haut straff, fahre jetzt mit allen Fingern darüber und trage Hyaluroncreme in dicker Schicht auf.
Stolz bleibt sie an ihrem Platz, genau so tief, so unwiderruflich sichtbar wie vorher.
Alles hat sich plötzlich verändert.
Ich habe mich gegen den Wind der Zeit gelehnt, wollte ihn mit einem ausgefüllten Alltag hintergehen, ihn ignorieren. Ich wollte alles richtig machen, obwohl er mir den Kontrollverlust immer schneidender ins Gesicht pfiff.
Wie konnte das alles nur passieren?
„Ich bin doch eine gute Mutter!“, sage ich laut zu mir und suche in meinem Spiegelbild nach den unbeschwerten Jahren. Die Melancholie, die ich jetzt darin finde, überrascht mich nicht.
Zwanzig dunkelrote Rosen stehen in einer silbernen Vase neben meiner Seite des Bettes.
Zwanzig Rosen, für zwanzig Jahre Ehe.
Wir gehen nachher zum Italiener um die Ecke, trinken edlen Wein, essen auch das Dessert, ich trage mal Spitze drunter, wir flanieren danach noch durch die Stadt. Endlich wieder ein vorhersehbar schöner Abend, so real wie der Tisch für neunzehn Uhr.
Ich drücke, zweimal mehr, auf den Make-up-Spender.
Die Stirnfalte verschwindet fast unter ihrer zart getönten Decke und nimmt ein wenig von meiner Schwermut mit. Mit einem dichten Pinsel tupfe ich mir schimmernden Puder ins Gesicht und zaubere so die Illusion eines vorzeigbaren Teints.
Wann habe ich das letzte Mal ein nettes Mutter-Tochter-Gespräch mit Laura geführt?
„Oh Mama, jetzt chill doch mal, was willst du schon wieder, nö, keinen Bock“, diese Worte hängen schon seit Jahren in den sonst so gemütlichen Räumen unserer Doppelhaushälfte, so kommt es mir jedenfalls vor.
Ich blicke wieder in den Spiegel und suche in dem Raum hinter mir nach einem kleinen Mädchen, das sich mit meinen Perlen behängt und knallroten Lippenstift überall im Gesicht verteilt hat. Sie drehte sich immer wieder um die eigene Achse und versuchte, mit meinen schwarzen Pumps nicht umzuknicken. Dabei trug sie einen rosa Schlafanzug mit Cinderellamotiv, dessen ausgebeulte Hose ihr nur noch bis zu den Waden reichte. Ihre blonden Haare standen wirr um den Kopf und signalisierten mir, dass die Haarspraydose leer sein musste.
„Mama, sieh mal, ich bin eine groooße Diena, ich bin ganz schickobello, sagt Papi auch immer!“
„Schatz, das heißt Diva und ja, du bist einfach wunderschön und richtig chic!“
Ich muss lächeln und sehe deutlich diese knallrote Schnute und eine kleine Hand, die den kümmerlichen Rest eines Shiseido-Lippenstiftes zerquetschte.
Den hatte ich zum Geburtstag von meiner Freundin bekommen, das durfte ich ihr gar nicht erzählen, sie wäre schier ausgeflippt.
Kinder hatte sie der Karriere wegen nicht für nötig gehalten. Sie ist Rechtsanwältin, zweimal geschieden und lebt nun allein mit ihrem Mops in einem riesigen, sterilen Penthouse in Frankfurt. Sie war schon immer frei, machte immer nur, was sie wollte, ohne Rücksicht auf Verluste. Vor ein paar Wochen sagte sie zu mir, dass ich doch endlich mehr Freiheit hätte und meinen Lebensinhalt nun auf Bruno und mich lenken könne. Ich sollte doch froh sein und mit Zumba anfangen oder Thai Bo.
Ich hatte ihr zugehört, konnte aber beim besten Willen die Worte nicht verstehen. Kurz nach Lauras Geburt hatte ich mich tatsächlich nach mehr Freiheit gesehnt.
Nach mehr Schlaf und weniger Kilos, nach mehr Freizeit und weniger Wäsche.
Nach mehr Spontanität und weniger Alltagstrott, nach mehr Sex und weniger Kinderkacke.
Nun ist sie da, und kommt doch zu früh.
Mit streichenden Bewegungen gebe ich meinen Wangen die nötigen Konturen, mit ein paar mehr Strichen als sonst. So impressionistisch wie Monet male ich in mein Gesicht und versuche, auch dort die Stille hineinzulassen.
Der Spiegel ist ehrlich zu mir, er kennt keine Gnade und auch heute, an diesem doch so wunderbaren Tag, zeigt er mir eine überlastete Mutter mittleren Alters, die mit ihrer wiedergewonnenen Freiheit nichts anzufangen weiß. Die sich immer noch wie eine Glucke auf ihr einziges Kind setzt und sie mit ihrer Fürsorge erstickt. Die die fortgeschrittenen Jahre einfach zurückdrehen möchte, aber das Rädchen im Dschungel der Gefühle nicht findet. Die sich auf eine ihr fremd gewordene Freiheit noch nicht einlassen möchte, weil sie sich dann vielleicht alt und nutzlos vorkommen könnte. Die Angst vor einem stillen Raum hat, der ihr die Geräusche des Familienlebens vorenthält. Die sich vor einer Langeweile graut, die wie Rübenkraut an ihr haften könnte, um ihre Tage in schwerem Einheitsbrei zu verkleben.
Den Rinderbraten für morgen hatte ich nach dem Einkauf sofort in den Kühlschrank gestellt, die Kartoffeln in den Keller gebracht, die Äpfel aus der Plastiktasche in den Obstkorb gelegt, die Rispentomaten heiß abgewaschen und frisches Basilikum, Thymian und rosa Primeln in Töpfen auf die Fensterbank meiner Küche gestellt.
Gekauftes Frühlingsgefühl.
Daran erinnere ich mich, aber wann ich mit Laura das letzte Mal ohne gegenseitige Vorwürfe, gemeine Bemerkungen und Respektlosigkeit gesprochen habe, weiß ich immer noch nicht.
„Du bist nicht für alles verantwortlich, was in unserem Haus passiert, lass sie endlich mal in Ruhe, sie muss auch mal Fehler machen können und daraus lernen.“
Beim Gedanken an seine Worte spüre ich den warmen Händedruck auf meinen Schultern wie eine warme, vertraute Decke.
„Ach nee, aber wenn deine Unterhosen nicht gewaschen sind, bin ich sehr wohl dafür verantwortlich“, hatte ich ihm, nach einem erneuten Streit mit Laura, gemein geantwortet.
Die Rosen sind wirklich perfekt im Einklang mit der Vase, ein Gefühl von Sicherheit durchströmt mich. Ich bin nicht perfekt, war es nie und wollte es doch immer sein. Ich entscheide mich für den grauen Lidschatten, den von YSL, den guten. Streiche vom äußeren Augenlid nach innen, erst den helleren Ton, dann den dunklen. Tupfe dabei eine einzelne Träne auf, verwische sie mit dem kleinen Pinsel, nur ich weiß um sie, habe ich doch gerade die perfekte Erinnerung im Kopf.
„Mamilein, ich hab dich einfach so so lieb, du bist die allerbeste Mami auf der Welt.“
Laura stürmt, mit genau diesen Worten, in meine ausgebreiteten Arme, wir fallen gemeinsam in den warmen Sand, Möwen singen ihre Lieder in den wolkenlosen Himmel und der Wind streicht durch unsere unordentlichen Haare. Bruno hatte diesen Augenblick auf Sylt mit seiner Digitalkamera festgehalten. In hellblauen Tönen hängt er über unserer Badewanne.
Eingerahmt für die Ewigkeit.
Jetzt tusche ich energischer meine Wimpern, dreimal mehr wiederhole ich die gleichen Bewegungen. Schon achtzehn Uhr, Bruno hat bestimmt unseren Tisch vergessen, was wird Laura morgen essen wollen, ist sie überhaupt morgen Mittag zu Hause, freut Bruno sich auf den heutigen Abend, auf mich?
Vielleicht sollte ich doch dem Rat meiner Freundin folgen und ein wenig Sport machen. Mein Spiegel bejaht diese Frage, indem er bedrohlich wackelt. Ich könnte auch meinen Ganztagsjob suchen und danach noch um den Block joggen. Ich könnte morgens um fünf schon Zeitung lesen und dabei gemütlich auf dem Klo sitzen. Kenne ich schon die neueste Frühjahrskollektion von Esprit?
Ich halte inne, schaue mich an und erinnere mich ein weiteres Mal.
„Mama, ich bin seit gestern Vegetarier, ich hasse Scheißtomaten und warum gibt es in diesem Haus keine normalen Brötchen mehr?“
Lauras Stimme tut mir jetzt schon in den Ohren weh, wenn ich an morgen denke.
Ja, ich werde all das tun und zwar sofort, ich meine ab morgen.
„Bin daa“, ruft Bruno in diesem Augenblick vom Erdgeschoss zu mir herauf, aber Laura nimmt erneut meine Gedanken in Beschlag.
„Patrick ist doch kein Schwerverbrecher, er hat halt keinen Bock auf Schule, er lebt in den Tag hinein, na und! Außerdem nehme ich schon lange die Pille. Du hast immer was zu kacken, bist nur noch genervt, nichts kann man dir recht machen. Ich bin sechzehn, Mann, keine sechs. Nein, Nina ist keine Schlampe, sie überredet mich zu nichts, wenn sie in den Brunnen springt, springe ich noch lange nicht hinterher.“
Vorwurfsvoll schleuderten die Worte mir entgegen und es gab kein Schutzschild, das mich vor ihnen geschützt hätte.
Diese Jetztzeit ist mir so fremd, manchmal habe ich das Gefühl, die Hauptdarstellerin in einem scheußlichen Plot ohne Happy End zu sein.
Vorsichtig ziehe ich die Linien meiner Lippen nach und male sie mit dem Lippenpinsel kräftig aus. Der perfekte Glücksmund hebt sich deutlich von meiner Inszenierung ab.
„Hoffentlich hast du meinen schwarzen Anzug gebügelt.“
Bruno stampft ins Zimmer, reißt die Kleiderschranktür mit Schwung auf, lacht über seinen eigenen Witz und fällt fast hinten über.
„Brauche ich auch noch eine Krawatte?“
„Du kannst auch im Jogger gehen.“
Bruno, der pragmatische Fünfundvierziger, der nie ein Ladykiller sein wollte. Bruno, der seine Familie über alles liebt und doch wenig Zeit mit ihr verbringen kann. Der falsch unter der Dusche singt und immer den richtigen Ton trifft. Der in allen zwanzig Rosen steckt, obwohl er ihren Geruch nicht ausstehen kann.
„Laura hat Schluss gemacht.“
„Mit Daniel, das war doch ein ganz patentes Kerlchen“, überrascht zieht er seine dichten Augenbrauen hoch und schält sich dabei umständlich aus seinem Pullover.
„Mit Patrick. Daniel ist leider schon längst Geschichte“, kopfschüttelnd beobachte ich den Mann im Spiegel.
„Anna, lass sie einfach mal in Ruhe, sie muss sich selbst finden.“
„Und die Steine wirft sie mir, auf ihrem Weg dorthin, genau vor die Schienbeine.“
„Du musst Geduld mit ihr haben, sie provoziert dich nur, will selbst entscheiden können. Du nimmst ihr die Luft zum Atmen, lass sie endlich frei!“
Dieses Wort möchte ich nicht hören, sie ist doch mein kleines Mädchen, mein Baby, das mir niemals schlaflose Nächte bereitet hat. Mein Kind, auf das ich immer zählen konnte. Das stets pünktlich, lieb und ehrlich war.
„Sagt dir der Name Zumba etwas?“, frage ich ihn und ernte eine hochgezogene Augenbraue.
„Kann man das essen? Dann hört es sich schön scharf an.“
Typisch.
Eine weitere Erinnerung rast wie ein Intercity in das Zimmer und ich sehe die Bilder ganz deutlich vor mir. Laura läuft weinend durch ihren Kindergarten, weil sie ihre Gruppe einfach nicht mehr finden konnte. Eine Erzieherin entdeckt sie unter der Treppe hockend und schluchzend. Sie nimmt Laura an die Hand und sie gehen gemeinsam durch alle Räume des Kindergartens, bis plötzlich ein erleichtertes „Ja, hier ist mein Hause“ ertönt. Diese Geschichte hatte sich im ganzen Dorf herumgesprochen und wir nannten auch unser Haus seitdem nur noch „Hause“.
Die Vorhänge bauschen sich im Wind und lassen die Erinnerung als alte Dampflok davonzischen. Ich möchte mich am liebsten in ein Abteil hineinsetzen. Traurig blicke ich ihnen hinterher: den Pantoffeln mit Filznase, den bunten Socken mit Loch, den Barbiepuppen mit Glitzerklamotten und dem König der Löwen.





