- -
- 100%
- +
Oben im Dorf meldeten wir uns in der Bäckerei. Meine Mutter kannte die Besitzerfamilie von früher, als sie im Tal ihre Ferienlager durchführte. Bis zur Seilbahn nach der Alp Grattigen hätten wir noch einen einstündigen Fussmarsch zurücklegen müssen. So hatte die Mutter arrangiert, dass wir mit dem Bäcker mitfahren konnten. Er versorgte zweimal wöchentlich das ganze Tal mit Lebensmitteln. Hinten im Tal wohnte die Schwester von Sophie, das Griti. Griti war eine weisshaarige Frau, etwas grösser und nicht so rundlich, jedoch gleich resolut und mit dem gleichen Humor ausgestattet wie ihre Schwester oben auf der Alp. Bei Griti musste man sich melden, wenn man mit der Seilbahn hinauffahren wollte. Dann telefonierte sie mit dem Seilwart. Der musste jeweils seine Arbeit liegen lassen und zur Bergstation hinabsteigen.
Wir warteten in Gritis Küche. Auf dem Feuerherd brodelte Wasser in einer von Russ geschwärzten Pfanne. Griti nahm fein gemahlenes dunkles Pulver aus einer Büchse und rührte es direkt in die Pfanne. Mit einer Schöpfkelle goss sie ein wenig kaltes Wasser nach. Es spritzte und zischte. Man müsse den Kaffee «verchlipfe», erklärte mir Griti, damit sich das Kaffeepulver auf den Pfannenboden setze. Ich nippte genüsslich an dieser mit viel Zucker gesüssten braunen Brühe. Kaffeetrinken war uns Kindern sonst nicht erlaubt. «Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank …», sangen wir in der Schule im Kanon. Von dem dazu gereichten – im Kamin getrockneten – Ziegenfleisch konnte ich kaum genug bekommen. Doch Mama sagte mir, dass es nicht anständig sei, so viel davon zu nehmen.
Die offene Seilbahn, welche uns auf die Alp bringen sollte, sah sehr abenteuerlich aus. Als halsbrecherisch und lebensgefährlich fand ich sie später in der Presse beschrieben. Sie bestand aus zwei mit Rollen an Drahtseilen aufgehängten Lattenverschlägen, die sich gegenseitig hochzogen. Hinten war ein Tank angebracht. Oben wurde dieser jeweils mit Wasser aufgefüllt. Der mit Wasser gefüllte Tank gab das Gegengewicht für den Antrieb des unteren Gefährtes. Beim Einlaufen in die Talstation entleerte er sich automatisch. Dieses Bähnchen funktionierte ganz ohne Strom, nur mithilfe der Schwerkraft. Das konnte in trockenen Sommern problematisch sein. Es kam vor, dass die Seilbahn stecken blieb, weil der Wassertank zu wenig gefüllt oder die Fracht zu schwer war. Dann musste der Seilwart das Bähnchen von Hand heraufkurbeln.
Wir hatten nun das Gepäck aufgeladen und uns in der schaukelnden Kiste eingenistet. Dann schlug Griti mit einer rostigen Stange auf das Seil. Das Seil begann zu schwingen und das war das Abfahrtssignal für den Seilwart, das Bähnchen setzte sich in Bewegung. Langsam glitten wir nach oben. Mama sagte mir, ich solle die Augen schliessen, als wir über eine tiefe Schlucht pendelten.
Es waren erst drei Jahre vergangen, seit die Mutter an einem kühlen Herbstabend mit dieser Seilbahnkiste talwärts fuhr, ihr fieberndes Söhnchen in eine Wolldecke gewickelt. Onkel Emil wartete an der Talstation auf die beiden. Er fuhr die Mutter mit dem schwerkranken Bruder zuerst zu unserem Kinderarzt und anschliessend in das Kinderspital der nächstgelegenen Grossstadt. Es war eine lange abenteuerliche Fahrt. Spät in der Nacht erfuhr die Mutter von den Ärzten in der Klinik die vernichtende Diagnose.
Was mag ihr damals auf dieser Reise alles durch den Kopf gegangen sein? Die Mutter sprach nie darüber.
Heil auf der Alp angekommen, mussten wir noch zwanzig Minuten den Berg hinaufsteigen, bis wir auf der Vorderen Egg bei Sophie und Gusti waren. Dort sprang uns der Bruder entgegen. Er roch nach Stall. Mama übernachtete mit uns oben auf der Alp, da es zu spät war, um am gleichen Tag wieder zurückzureisen. Als am andern Morgen mein Bruder und ich aufwachten, war sie bereits weg. Sie hatte sich wohl davongeschlichen, um uns allen den Abschied zu erleichtern. Am Vorabend gab mir Mama ein Päckchen mit roten Plastikperlen, die man nach verschiedenen Mustern zusammenstecken konnte. Solche Ketten waren bei den Mädchen gerade in Mode. Wie sehr hatte ich mir auch eine solche Kette gewünscht und immer wieder darum gebettelt! Mama wollte mich wohl über das Heimweh hinwegtrösten.
Mein Bruder und ich sassen in der Küche beim Frühstück. Sophie schenkte uns aus dem grossen Milchkrug mit den blauen Tupfen Ziegenmilch ein, röstete Brotschnitten am offenen Herdfeuer und bestrich sie dann mit frischer Butter. Dann schnitt sie uns ein grosses Stück vom Käse ab. Wir sollten hier wieder zu Kräften kommen. Es war ein wenig wie beim Alpöhi. Der Bruder schaute nachdenklich zur Bergkette hinauf, welche in der Morgensonne rötlich leuchtete. Dann sagte er: «En Isebahn – was macht de Ma det obe?»
Sophie freute sich über diese kreative Beobachtung. Ich erzählte ihr voll Stolz, was mein Bruder sonst noch alles wisse. Mit meinen acht Jahren sprach ich schon wie eine Expertin.
«Du darfst nicht heiraten, denn du musst später einmal zu deinem Bruder schauen, wenn eure Mutter nicht mehr da ist.»
Diese Worte von Sophie blieben an mir haften. Warum durfte ich nicht über mein eigenes Leben bestimmen? Obwohl ich bis anhin nicht ans Heiraten dachte, so sammelten wir Schwestern eifrig für unsere Aussteuer. Es waren hübsche Porzellantässchen mit kleinen Fehlern, welche uns die alte Frau Heggli aus ihrem Geschirrladen für unsere Sammlung überliess. Ich stellte mir immer vor, Kinder zu haben. Aber ich dachte mir, dass ich diese adoptieren würde. Das schien mir einfacher, als selbst Kinder auf die Welt zu bringen. Dass das Kinderkriegen nicht so einfach und gefahrenlos war, hatte ich ja bei unserer Mutter erlebt. Und wozu brauchte es denn einen Mann?
Vermutlich hatte ich durch die Erfahrungen mit meinem einzigen Bruder ein etwas – sagen wir einmal – besonderes Verhältnis zu Buben oder Jungen. So war es dann auch, als ein paar Tage später Wisi auf der Egg auftauchte. Wisi kam von unten aus dem Tal. Er war gerade aus der Schulpflicht entlassen worden. Nun sollte er den Winter über Gusti im Stall helfen, denn die Tiere waren von der Sömmerung zurück. Wisi war ein braver, arbeitsamer Bursche. Vielleicht war es, weil ich keinen Bruder zum Streiten hatte und ich mich vor den fremden Buben fürchtete, dass ich es nun nicht lassen konnte, Wisi zu necken und ihm Streiche zu spielen.
Es war ein sternenklarer, aber eisig kalter Abend. Die Hemden, welche Sophie draussen zum Trocknen aufgehängt hatte, waren so steif gefroren, dass man sie auf den Boden stellen konnte. Sophie schimpfte beim Einsammeln der Wäsche unablässig über das «Mannevolch», welches zu nichts nutze sei. Die Wettervorhersage von Gusti hatte sich als falsch erwiesen.
Am andern Morgen glitzerten die Berge in weisser Pracht. Über Nacht war der Winter eingebrochen und brachte mehr als einen halben Meter Neuschnee.
Mein Bruder und ich tummelten uns im Schnee vor dem Haus. Auf einmal liess sich der Bruder den Abhang hinunterrollen. Er rollte und rollte. Ich sah die Gefahr. Doch wie verzweifelt ich ihm auch zurief, er liess sich nicht aufhalten und rollte weiter und weiter, bis er endlich von einem kleinen Tännchen gestoppt wurde. Sein Gesicht war mit Schnee verklebt. Handschuhe und Mütze hatte er verloren. Er war völlig aufgelöst und heulte. Mühsam stapfte ich durch den tiefen Schnee. Ich kam aber nur langsam vorwärts, weil ich immer wieder einsank. Endlich konnte ich dem Bruder meine Hand reichen. Seine war eiskalt. Doch wir schafften es nicht, den Berg wieder hinaufzuklettern. Der Schnee war zu tief, und der Bruder lamentierte und schlug um sich.
Da trat Wisi aus dem Stall. Er erkannte gleich unsere prekäre Situation. Trittsicher stieg der Bauernbub zu uns hinab, und gemeinsam brachten wir den Bruder den Hang hinauf.
Von oben war das Gezänk von Sophie zu hören, da ihr Mann keine Anstalten machte, uns zu Hilfe zu eilen. Gusti schwieg beharrlich und rührte sich nicht. Gebannt schaute er den Hügel hinunter und behielt die Situation im Auge, damit er im Notfall hätte Alarm schlagen können, wie er uns später gestand. Er hatte nämlich befürchtet, dass der ganze Hang ins Rutschen komme und uns unter dem Schnee begraben würde.
Die Jacke des Bruders war voll von Schnee, der inzwischen gefroren war. Seine Stiefel konnte Sophie erst ausziehen, nachdem sie warmes Wasser hineingeschüttet hatte. Der Bruder wurde mit einer Wärmeflasche ins Bett geschickt. Ich blieb bei ihm. Ich fühlte mich schuldig, da ich auf ihn zu wenig aufgepasst hatte.
Kürzlich las ich in der Zeitung einen Nachruf über den «Tannliwisi». Ich bemerkte sogleich, dass es sich um den Wisi von damals handelte. Er war der älteste Sohn einer armen kinderreichen Familie und musste gleich nach dem Schulabschluss arbeiten gehen, um die Familie ernähren zu helfen. So kam er als vierzehnjähriger Junge auf die Egg. Er blieb sein Leben lang Knecht. Wisi heiratete nie. Später wurde er wegen seines Hobbys, der Aufzucht von Christbäumen, als «Tannliwisi» bekannt. Wie bin ich ihm dankbar, dass er uns damals gerettet hat.
Anfang Dezember wurden mein Bruder und ich von der Alp geholt. Ich drängte darauf, wieder in die Schule zu gehen. Als ich am ersten Schultag nochmals einen starken Hustenanfall hatte, wollte mich die Lehrerin sogleich nach Hause schicken. Ich hatte in der Schule einiges verpasst. Im Schlusszeugnis stand, dass ich im zweiten Schuljahr neunundsechzig Halbtage gefehlt hatte.
Ich war immer gut im Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten. Darum versprach mir unsere Lehrerin bereits in der ersten Klasse eine grosse Rolle, wenn sie mit uns in der zweiten Klasse ein Krippenspiel aufführen würde. Als ich nun wieder zurück in die Schule kam, waren alle Rollen bereits vergeben. Ich musste die Hefte nachführen und seitenweise Texte abschreiben, während die andern probten. Bei der Aufführung war ich die Einzige, die keine Aufgabe hatte. Die Lehrerin hatte ihr Versprechen nicht gehalten und mich einfach vergessen.
Von uns Schwestern umsorgt
Mit dem Bruder unterwegs
Unsere Aufgabe als Kindermädchen unseres Bruders wurde ja bereits in den Gratulationsschreiben zu seiner Geburt bestimmt. Nun kam noch das kleine Schwesterchen dazu. Da die Mutter mit der grossen Familie sehr beschäftigt war, so war es die Aufgabe der älteren Mädchen, in der Freizeit zu den beiden jüngsten Geschwistern zu schauen. Wir durften nur irgendwo hingehen, wenn wir die beiden Geschwister mitnahmen, sei es in die Badeanstalt, zum Schlitten- oder Skifahren oder – etwas ganz Besonderes für damals – einen Filmnachmittag besuchen, Hauptsache, es schaute jemand zu den Kleinen. So habe ich es in Erinnerung.
Vielleicht war es auch umgekehrt, und wir erstritten uns unsere Teilnahme an bestimmten Freizeitaktivitäten damit, dass wir anerboten, unsere kleinen Geschwister mitzunehmen. Ich erinnere mich an einen vorweihnachtlichen Filmnachmittag des Kaufmännischen Vereins. In der Pause gab es warme Schokolade in einem Fläschchen mit Trinkhalm, so wie damals die «Pausenmilch», die im Winter in der Schule bestellt werden konnte. Wir durften in der Schule nie solche Milch bestellen, da diese zu viel Geld kostete und wir zu Hause genug Milch bekamen, wie die Mutter sagte. Wir konnten aber manchmal davon profitieren, dass ein Kind aus der Klasse krank war und uns der Lehrer die überzählige Milch zusteckte. Für uns war diese warme Schokolade deshalb ein besonderer Genuss.
Jetzt mühten wir uns jedoch die ganze Pause damit ab, unserem Bruder beizubringen, wie man mit einem Strohhalm trinkt, d. h. wie man durch den Trinkhalm einsaugt, ohne alles auf dem Boden zu verschütten.
Wie oft schämten wir uns und versuchten heimlich, das durch unseren Bruder entstandene Malheur zu vertuschen! Bei allen Aktivitäten mussten wir zudem auf der Hut sein, dass der Bruder nicht einen seiner Wutanfälle kriegte.
Da waren noch die Missionsfilmnachmittage. An diesen Nachmittagen wurden Filme von den Missionen in Afrika, Indien und auf Formosa, dem heutigen Taiwan, gezeigt. Diese waren oft nicht sehr zimperlich und nach heutigem Ermessen nicht für Kinder geeignet. Ich weiss noch genau, wie mich die Darstellung erschütterte, als während einer indischen Hochzeitszeremonie der Bräutigam von einer Schlange gebissen wurde und starb und die junge Witwe bei lebendigem Leibe mit dem Leichnam mitverbrannt wurde. Die Szene, wie der afrikanische Vater dem Sohn mit dem Hammer nachrannte, als er erfuhr, dass dieser in die Katechetenschule ging, löste bei unserem Bruder einen aggressiven Anfall aus, und es war schwierig, ihn nach Hause zu bringen.
Das Baden im See war nicht ohne. Aber vermutlich hatten wir so lange gequengelt, dass wir die kleinen Geschwister mit zum Baden nehmen durften. Wir hätten ja sonst bei diesem heissen Sommerwetter zu Hause bleiben müssen. So gingen meine um drei Jahre ältere Schwester und ich mit dem Bruder und der jüngeren Schwester in das Seebad. Ich bin mir nicht sicher, ob wir beide wirklich schwimmen konnten, sicher aber waren wir keine guten Schwimmerinnen. Meine jüngste Schwester sagt mir heute, wie ich ihr das Leben gerettet habe, als sie jemand ins tiefe Bassin schubste und ihr der Schwimmring wegrutschte. Alle hätten gelacht, wie sie im Wasser zappelte, bis ich die Situation begriff und sie herauszog.
Bei unserer grossen Familie gab es immer durchgelaufene Schuhsohlen, die zum Flicken gebracht werden mussten. Der Besuch in der Werkstatt des Schuhmachers ganz in der Nähe war für uns Kinder ein besonderes Erlebnis. Beim Eintreten in das ebenerdige Lokal mussten sich die Augen zuerst an die Dunkelheit gewöhnen. Der Schuhmacher, ein älterer bärtiger Mann, sass auf einem kleinen Stühlchen auf einem etwas erhöhten Podest vorne am einzigen Fenster, durch welches ein wenig Tageslicht in den Raum gelangte. Über seinem Arbeitstisch brannte immer eine lose Glühbirne. Es roch nach Leim und Leder und überall am Boden lagen kleine Leder- und Gummireste herum. Wenn der Schuhmacher gerade an einer kniffeligen Arbeit war, die er nicht unterbrechen konnte, so vergnügten wir uns in der Werkstatt. Wir sammelten Leder- und Gummireste ein, die wir dann «heimlich» in unsere Taschen steckten. Der Schuhmacher liess uns gewähren. Er sprach kaum ein Wort mit uns. Es schien mir aber, dass er uns Kinder nicht ungern um sich hatte. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, so stemmte er sich mühsam von seinem kleinen Hocker hoch, holte mit schlurfenden Schritten unsere Schuhe von dem Gestell und erklärte uns dann, dass es leider nicht mehr möglich war, nur ein Schuheisen einzuschlagen, sondern dass der Absatz oder die ganze Sohle ersetzt werden musste. Ich habe den Eindruck, dass er von uns dafür einen sehr moderaten Preis verlangte. Besonders freundlich zeigte er sich immer unserem Bruder gegenüber. Später erfuhr ich, dass der Schuhmacher gerade über der Werkstatt seine Wohnung hatte und dort sein inzwischen erwachsener schwerstbehinderter Sohn tagein und tagaus in seinem Gitterbett dahinvegetierte.
Wieder einmal war ich mit meinem Bruder unterwegs, als mich eine Frau ansprach und sich erkundigte, was mit ihm denn los war. Ich erzählte freimütig von seiner schweren Krankheit und den Schwierigkeiten rund um ihn und mit ihm. «Es wäre besser, er wäre gestorben», war ihr Kommentar. Ich war entsetzt. Es war doch mein Bruder. Warum sollte er nicht mehr leben? Und doch, hatte das damals nicht auch schon die Grosse Tante angedeutet …?
Familiäre Frühförderung
Im Schuleignungsbericht ist von einem «schwachbegabten, jedoch gut geförderten Knaben» zu lesen.
Es gab damals noch keine heilpädagogische Frühförderung. Es war unsere Familie, welche die Förderung in ihren Alltag einbaute. Grossmutter war oft mit ihrem Enkel unterwegs. Der liebte das Spazieren und Herumreisen und zeigte reges Interesse an allem, was er sah. Grossmutter besuchte mit ihm auch verschiedene Wallfahrtsorte in der Hoffnung auf eine Besserung seines Zustandes.
Nach seiner Krankheit musste der Bruder das Gehen und Sprechen wieder neu erlernen. Beim Gehen blieb er unsicher. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, hielt er beim Rennen seine beiden Arme ausgespreizt wie zwei Flügel. Er fiel oft hin, hatte meist zerschundene Knie und überall blaue Flecken. Mit viel Mühe versuchten wir Schwestern dem Bruder auf dem roten Dreirad – ein Geschenk seines Patenonkels – das Radfahren beizubringen. Auf einem Schwarz-weiss-Foto trägt er einen grossen Verband um den Kopf, da er mit seinem Dreirad über eine Mauer hinunterfuhr. Wir Geschwister hätten auf ihn aufpassen müssen, aber es ging alles so blitzartig!
Beim Sprechenlernen machte der Bruder hingegen rasche Fortschritte. Aufgrund seines guten Gedächtnisses nahm er die sprachlichen Anregungen seines Umfeldes schnell auf und sein Wortschatz vergrösserte sich in kurzer Zeit rasant. Mag es sich bei abstrakteren Dingen um reine Worthülsen gehandelt haben, so konnte er sich doch bald adäquat ausdrücken. Sein Mitteilungsbedürfnis war gross. Sein pausenloses Fragen war durch sein Interesse an seiner Umwelt gesteuert. Bis heute dauert seine Fragerei an. Sie scheint auch seine Form zu sein, die Kontrolle über die Welt zu halten; sein Versuch, sich zu vergewissern, ob die eigenen Wahrnehmungen stimmen.
Wir Geschwister hatten grossen Anteil an der Förderung unseres Bruders. Es gab dafür ganz praktische Gründe: Seine neu- oder wiedererworbenen Fertigkeiten erleichterten manches, wenn wir mit ihm unterwegs waren. Deshalb versuchten wir, ihm Alltagsverrichtungen beizubringen: seine Jacke zuzuknöpfen, Hände waschen, Schuhe richtig anziehen. Beim Binden die Schlaufe zu ziehen, war für ihn sehr schwierig. Seine Finger verkrampften sich. Diese grosse manuelle Ungeschicklichkeit ärgerte ihn. Er versuchte vieles, was er bei uns abschaute, selbst zu machen, und wurde wütend, wenn es ihm nicht gelang.
Schon früh fiel seine besondere Freude an der Musik auf. Der Bruder hörte gerne Musik jeglicher Gattung und sang aus voller Kehle mit, wenn ihm ein Musikstück oder Lied bekannt war.
Diese Musikalität wurde im wohl väterlicherseits vererbt. Bereits der Urgrossvater und Grossvater liebten die Musik. Der Urgrossvater trat mit seiner Gitarre als Bänkelsänger bei Hochzeiten auf.
Der Grossvater leistete sich von seinem ersten Lohn Klavierstunden, als er als junger Mann vom Lande in die Grossstadt kam. Mit seiner sonoren Stimme war er später ein treues Mitglied des Männerchors.
Unser Vater erlernte in seiner Jugend das Geigenspiel. Das Spielen weiterer Instrumente brachte er sich selbst bei. Als junger Mann gründete er zusammen mit Kameraden eine Tanzkapelle. Er war am Bass, wenn die Kapelle an Festen wie Fasnacht und Kilbi öffentlich zum Tanz aufspielte. Später, wenn der Vater auf seiner Handharmonika spielte, stand unser Bruder daneben und schwang mit seiner kleinen Fahne voll Freude den Takt dazu.
Die beiden älteren Schwestern hatten jeweils an Weihnacht mit mir zusammen ein Krippenspiel improvisiert. Nun hatten sie keine Lust mehr dazu. So beschloss ich, das weihnachtliche Singspiel von der Herbergssuche, welches wir gerade in der Schule eingeübt hatten, mit meinen beiden jüngeren Geschwistern zu Hause aufzuführen. Der Bruder sollte den Part des Josefs übernehmen, die kleine Schwester war die Maria, ich spielte die Rollen der verschiedenen Gastwirte. Die grosse musikalische Begabung unseres Bruders war durch seine Krankheit unbeeinträchtigt. Eine einmal gehörte Melodie konnte er sich sofort merken und wiedergeben. Wenn auch die Melodie stimmte, den Text gab er undeutlich und manchmal etwas entstellt wieder. Die kleine Schwester hingegen war gut im Auswendiglernen und sehr ausdrucksvoll im Aufsagen. So ergänzten sich die beiden: Josef intonierte die Melodie, während Maria die Worte deutlich aussprach. Da der Bruder sehr leicht ablenkbar war, löschte ich das Licht und wir übten im Dunkeln. Das war meine erste heilpädagogische Förderlektion!
Der Bruder war nun sechs Jahre alt. Wir fanden es an der Zeit, dass er lernte, kleine Botengänge auszuführen. Zuerst ging er zusammen mit seiner kleinen Schwester zum Einkaufen. Wir älteren Schwestern schlichen wie Detektive hinter den beiden her. Sie machten ihre Sache gut.
Dann schickten wir den Bruder alleine mit einem Einkaufszettel los. Er machte das gerne, beeilte sich immer sehr und kam dann ausser Atem nach Hause.
Als ich an einem Freitagnachmittag von der Schule nach Hause kam, erwartete mich eine besorgte Mutter. Der Bruder war noch nicht von seiner Einkaufstour zurück. Ich wurde auf die Suche geschickt.
Der Bruder war wohl in den verschiedenen Geschäften vorbeigekommen und hatte seine Einkäufe getätigt, wurde mir versichert, doch nirgends fand sich eine Spur von ihm. Erfolglos kehrte ich nach Hause zurück.
Inzwischen hatte sich der Suchtrupp vergrössert. Nicht nur die älteren Geschwister machten mit, Freunde, Verwandte und Bekannte halfen – mittlerweile war die ganze Nachbarschaft unterwegs. Die Polizei war auch benachrichtigt.
Der Vater kam früher als sonst nach Hause. Er holte sein altes klappriges Militärvelo aus dem Keller hervor. Nie hatte ich ihn darauf fahren sehen. Wir Kinder schauten ihm ängstlich zu, wie er sich unsicher auf sein Fahrrad schwang und schwankend davonfuhr. Uns war mulmig zumute.
Von der Mutter wurden wir zum Nachtessen gedrängt. Doch niemand brachte einen Bissen herunter. Es wurde langsam dunkel draussen, und wir Mädchen wurden ins Bett geschickt, wie sehr wir uns auch dagegen sträubten. Wir waren zu aufgeregt, um einschlafen zu können. Wenn ihm nur nichts passiert war!
Da plötzlich hörten wir fremde Stimmen im Wohnzimmer. Wir spähten durch den Türspalt und sahen zwei Jugendliche und zwischen ihnen unseren kleinen Bruder. Er war wieder da! Aber wer waren diese Burschen? Am anderen Morgen erfuhren wir, dass sie zwei entfernte Verwandte von uns waren. Am Abend in der Stadt unterwegs, trafen sie auf den Präses ihrer Jugendgruppe – unseren Onkel Pfarrer, der auch auf der Suche nach dem Bruder war. Von ihm erfuhren sie von dem vermissten Buben. Auf dem Heimweg fiel ihnen dann ein kleiner Junge auf, der bei einbrechender Dunkelheit ganz allein über die lange Eisenbahnbrücke schlenderte. Als sie ihn ansprachen, wollte er davonrennen. Er war jedoch zu müde nach dieser langen Wanderung und liess sich widerstandslos auf eines der Fahrräder hieven und nach Hause chauffieren, die volle Einkaufstasche fest an sich gedrückt.
Da der Bruder immer so abgehetzt nach Hause zurückkehrte, hatte die Mutter diesmal zu ihm gesagt, er müsse sich nicht so beeilen, er könne schön spazieren. Das hatte er offensichtlich zu wörtlich genommen. In der Stadt fand gerade der internationale Rotary-Kongress statt, und die Strassen waren beflaggt. Der Bruder mochte die Fahnen gerne. Er war diesen Fahnen kilometerweit bis ans andere Ende der Stadt gefolgt.
Im Kindergarten
Nach einem weiteren Kuraufenthalt war es nun höchste Zeit, dass der Bruder mehr Förderung und Beschäftigung erhielt. Er war inzwischen sieben Jahre alt geworden.
Schwester Maria Leo, bei der wir drei älteren Mädchen den Kindergarten besuchten, war bereit, unseren Bruder bei sich aufzunehmen. Sie bereitete die anderen Kinder darauf vor, dass nun ein spezieller Junge in ihre Gruppe komme, der sehr krank gewesen sei, und dass die Kinder besonders lieb zu ihm sein sollten. Die Kinder nahmen sich diese Aufforderung sehr zu Herzen und ertrugen mit grosser Toleranz seine unberechenbaren Stimmungen, auch wenn sie manchmal im wörtlichen Sinn etwas «Haare lassen» mussten.
Die ersten Tage wurde der Bruder von zwei Mädchen liebevoll nach Hause begleitet. Bald hatte es sich herumgesprochen, dass es bei uns Kekse oder etwas Schokolade gab. So gesellten sich täglich immer mehr zur Begleitgruppe und die Kinder blieben so lange vor der Türe stehen, bis alle ihre kleine Belohnung erhalten hatten.
Leider musste sich Schwester Maria Leo einer Operation unterziehen und fiel für längere Zeit aus. Ihre Stellvertretung, eine ältere Schwester, liess schon bald ausrichten, dass der Umgang mit unserem Bruder zu sehr an ihren Kräften zehre, und bat unsere Mutter, ihren Sohn nicht mehr in den Kindergarten zu schicken. So war unser Bruder wieder zu Hause bis zur Schaffung des ersten öffentlichen heilpädagogischen Kindergartens vor Ort. Es war – aus der Not geboren – der erste «inklusive» Kindergarten, und zwar in umgekehrter Verteilung! Es wurden nichtbehinderte Kinder in einen Normalkindergarten integriert oder inkludiert, sondern normale Kinder in einen heilpädagogischen Kindergarten! In einer neuen Überbauung, der ersten Hochhaussiedlung der Stadt, waren zwei Kindergärten geplant. Im unteren Stock war der Quartierkindergarten einquartiert, darüber sollte der erste heilpädagogische Kindergarten eröffnet werden. Da es im Quartierkindergarten überzählige Kinder gab, im heilpädagogischen Kindergarten hingegen noch Plätze frei waren, so wurden im heilpädagogischen Kindergarten auch Kinder aus dem Quartier aufgenommen.





