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Gerade als sie Paul, ihrem Chef, erklären wollte, dass er ab jetzt dann eben ohne Bedienung auskommen musste, stolperte Julia herein.
»Es tut mir so Leid,« keuchte sie. »Die Straßenbahn hatte Verspätung!«
Noch bevor sie überhaupt richtig die Tür hinter sich schließen konnte, drückte Hannah ihr bereits den Geldbeutel und den Notizblock in die Hand. »Hier. Ich muss dringend los und Max abholen. Sein Eishockeytraining ist zu Ende. Die beiden hinteren Tische sind noch nicht abkassiert. Der Herr da vorne wartet noch auf zwei Schinken-Käse-Sandwiches und die Dame am Tresen bekommt einen Makkaroni-Auflauf zum mitnehmen.«
»Meinst du nicht er ist langsam alt genug alleine nach Hause zu fahren?« stöhnte Julia und band sich den Geldbeutel, den Hannah ihr gereicht hatte um die Hüfte. Diese übertriebene Fürsorge verstand sie nicht. Max war ein kluger Junge. Er war durchaus in der Lage etwas eigenständiger zu sein. Hannah jedoch wollte das aber partout nicht einsehen. Was das anging, war sie irgendwie ziemlich paranoid.
»Ich möchte nicht das ihm etwas passiert.« erwiderte Hannah, wohl wissend, dass sie für ihre Freundinnen wie eine Übermutter wirkte. Aber wie sollte sie das auch jemand anderes erklären? Sie konnte ja nicht einfach sagen, dass sie sich Sorgen darüber machte, dass Max von irgendwelchen Leuten entführt wurde, weil sie eigentlich in einem Zeugenschutzprogramm lebten oder gelebt hatten. Vielleicht war ihre Angst auch übertrieben, aber sie konnte und wollte kein Risiko eingehen. Nicht seit ihre Eltern verschwunden waren. Schließlich konnte mit Max das Gleiche passieren und dann wäre sie ganz allein. Etwas, woran sie lieber nicht denken sollte. »Wir sehen uns morgen.« Flüchtig winkte Hannah noch einmal in Julias Richtung, welche ihr nur kopfschüttelnd hinterher sah, warf ihren anderen beiden Freundinnen noch ein schnelles »Tschüss« zu, dann lief sie endlich los.
Sie kam zu spät, aber Max würde warten. Von klein an hatte man ihm beigebracht, nirgends alleine hin zu gehen und immer dort zu bleiben wo er war, egal was geschah. Max war ein braves Kind. Er wusste das und würde sich daran halten.
Es war ein wunderschöner Spätsommertag im September, doch so trügerisch strahlend dieser Tag auch wirkte, er blieb nicht so. Es war wieder einer jener Tage, die alles veränderten …
2. Kapitel
Julia starrte ihrer Freundin hinterher, die mit einem Mal so schnell verschwunden war, als befände sie sich auf der Flucht. Manchmal war Hannah echt seltsam. Sicher, sie war für ihren Bruder verantwortlich. Aber die Fürsorge ihrer Freundin ging bei Weitem über das normale Pflichtbewusstsein hinaus. Hannah kümmerte sich nicht nur um ihren Bruder, sie beschützte ihn in beinahe jeder Situation seines Lebens.
Es war ja nicht so, als könnte ein nunmehr fast elfjähriger Junge keine drei Haltestationen mit der Straßenbahn fahren. Das hatte sie schon getan, da war sie noch nicht einmal in der Schule gewesen.
Hannah ging einfach ständig davon aus, dass ihrem Bruder irgendetwas zustoßen konnte. Aber Dinge passierten nun mal. Man konnte nicht alles in einem Leben verhindern.
Hannah und Max hatten ihre Eltern verloren. Das war schlimm und unter diesen Umständen war es sicherlich auch nicht ganz unverständlich, dass Hannah sich Sorgen machte. Nur änderte das nichts. Das Schicksal hatte seine eigenen Pläne und egal wie sehr man versuchte, dagegen anzukämpfen, würde man nicht gewinnen.
Julia wusste nicht, wie es war, seine Eltern für immer zu verlieren. Die Menschen, die einem Halt und Stabilität geben sollten. Ein zu Hause. Den Grundstein für ein schönes und solides Leben. Ihre waren zwar weiß Gott auch kein Paradebeispiel dafür, aber zumindest waren sie da.
Hannah hatte früh lernen müssen Verantwortung zu tragen und sie bewunderte ihre Freundin, wie sie trotz allem so stark geblieben war. Als sie Hannah kennenlernte, war diese gerade vierundzwanzig gewesen. Zu jung um mit all dem alleine fertig zu werden. Mittlerweile waren drei Jahre vergangen und sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, ohne Hannah in ihrem Leben. Und dann war da noch Max. Er war klug und lebenslustig und wahrscheinlich viel zu reif für sein Alter, aber auch er musste damit fertig werden nur noch seine Schwester zu haben. Hannah hatte nie erzählt, ob es noch andere Verwandte gab, aber offenbar spielten sie keine Rolle. Jedenfalls nicht in den letzten Jahren.
Sie drehte sich um und lief an den Tisch von Tanja und Coco.
Vielleicht sollte sie doch einmal mit ihr reden. Nicht, dass sie eine Ahnung davon hatte, wie es sich anfühlte so plötzlich allein zu sein, aber bislang hatte Hannah sich zu diesem Thema immer ausgeschwiegen. Möglicherweise war jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem sie zumindest versuchen sollte, das zu ändern.
»Kann ich Euch noch etwas bringen?« fragte Julia als sie an dem Tisch angekommen war und verdrängte die weiteren Gedanken an Hannah. Ihre Freundin hatte ihr Leben im Griff. Sie sollte sich lieber um sich selbst kümmern. Schließlich war sie diejenige, die, anstelle ihres großen Traums von einem Kosmetikstudio, immer noch als Kellnerin arbeitete. Sie war es, die vor ihrem Leben davonlief, nicht ihre Freundin.
»Also ich muss los. Ich habe gleich noch einen Termin.« Coco schnappte sich ihre Handtasche und zog ihren Geldbeutel heraus. »Ich hatte zwei Latte Macchiato und einen Kirschmuffin.«
»Ich komme mit.« Tanja griff in ihre linke Hosentasche und verzog dann stirnrunzelnd das Gesicht. »Komisch, ich dachte eigentlich das ich mir vorhin noch einen 20,00 EUR-Schein eingesteckt habe.« Vorsorglich schob sie ihre Hand auch noch in die andere Hosentasche, aber auch diese schien leer zu sein.
»Schon gut. Ich lade dich ein.« erwiderte Coco und sah wieder zu Julia. »Sie hatte noch einen Kaffee. Mit extra Sahne.« Wobei Coco das letzte Wort merklich betonte.
Julia zog die Augenbrauen noch oben und grinste ihre Freundin an. »Was ist den mit deiner ach so tollen Diät geworden?«
»Ich habe beschlossen, dass ich es lieber mit Sport versuchen werde. Und schließlich sollte man es ja nicht übertreiben.«
Julia lachte. »Na da bin ich ja mal gespannt.« Schließlich war Tanja in etwa so sportlich wie ihr Vater nüchtern. Was in letzter Zeit vermutlich nur noch dann wirklich vorkam, wenn er schlief. Aber auch daran würde sie jetzt nicht denken.
»Ihr werdet schon noch sehen.« antwortete Tanja gespielt beleidigt. »Nicht weit von hier hat nämlich ein neues Fitnessstudio aufgemacht. Dort wimmelt es sicher nur so von netten, sexy Männern.«
»Ja stimmt. Schließlich gehst du ja auch genau deswegen dort hin.« zog Coco sie auf. »Aber ehrlich gesagt klingt das gar nicht so schlecht. Ein bisschen mehr Bewegung würde mir auch nicht schaden.« Sie sah an sich herunter. »Meine Oberschenkel würden es mir sicher danken.«
»Deine Oberschenkel sind vollkommen in Ordnung.« versicherte ihr Julia. Beide ihrer Freundinnen hatten eine traumhafte Figur. Keine hatte es nötig, Sport zu treiben oder Diät zu machen. Wenn dann schon eher sie. Nur konnte sie sich leider ein Fitnessstudio nicht leisten.
»Na ja, mal sehen. Vielleicht begleite ich dich.« sagte Coco zu Tanja und lief um den Tisch herum. Diese folgte ihr. »Wir sollten alle hingehen. Das wäre bestimmt lustig.« Julia zuckte leicht zusammen. »Ich stehe nicht so auf Fitnessstudios.« beeilte sie sich zu sagen.
»Du musst ja nicht wegen dem Sport hin. Zumindest nicht ausschließlich.« Coco zwinkerte ihr zu.
»Ja, ja. Schon klar.« Julia steckte das Geld, das Coco ihr gegeben hatte in den Geldbeutel. »Geht ihr mal schön ins Fitnessstudio. Ich werde versuchen mir meinen Kerl auf der Straße zu angeln. So schwer wird das schon nicht sein.«
Coco und Tanja sahen nicht sehr überzeugt aus.
»Zahlen bitte!« rief dann einer der Gäste und Julia drehte sich, erfreut über die Ablenkung, eilig zu ihm um. »Ich komme sofort.« versicherte sie ihm, warf Tanja und Coco noch einen entschuldigenden Blick zu, dann floh sie in Richtung des Mannes, der sie gerufen hatte.
Mit ein wenig Glück konnte sie an diesem Tag wieder ein schönes Sümmchen Trinkgeld verdienen, welches sie natürlich sofort in ihre Spardose stecken würde um endlich das Geld für die Kosmetikschule zusammen zu haben, die sie schon seit ihrem Schulabschluss besuchen wollte.
»Macht 14,80 EUR.« Sie reichte dem älteren Mann die Quittung, der ihr daraufhin fünfzehn Euro entgegenstreckte. »Stimmt so.« Julia nahm das Geld, bedankte sich und stopfte die kläglichen 20 Cent in ihre Schürzentasche. So würde sie ihr Leben lang hier schuften müssen.
Als Hannah ins Freie trat, spürte sie die unglaubliche Hitze dieses Tages.
Die Sonne schien mit voller Kraft und keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Die Temperaturanzeige an der Haltestelle hatte 38 Grad angezeigt. Hannahs Kleid klebte an ihrer Haut während sich die Metallschnalle ihrer Handtasche brennend heiß auf ihren Oberschenkel drückte. Sie war jetzt schon über zwanzig Minuten zu spät und da sie heute morgen ihr Handy in dem vollen Spülwasser versenkt hatte, konnte sie noch nicht einmal Max anrufen um ihm Bescheid zu geben.
Es war doch zum verrückt werden. Sie schob sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr und versuchte sich einzureden, dass es egal war. Das Max schon warten würde. Aber das war es nicht. Und das würde es vermutlich auch nie sein. Wie sollte sie auch jemals diese fürchterliche Angst ablegen? Es würde keine Rolle spielen, dass ihr Bruder älter wurde oder irgendwann sein eigenes Leben haben wollte. Sie würde sich immer Sorgen machen.
Als Hannah in die Straßenbahn einstieg erinnerte sie sich an damals. An jenen Tag vor drei Jahren, der ihr Leben erneut über den Haufen geworfen hatte. Es war ein genauso heißer und schwüler Septembertag gewesen wie heute. An diesem Tag hatte sie zum allerersten Mal die ganze verdammte Situation verflucht. Sie war wütend gewesen. Auf sich, auf ihre Eltern und auf ihr ganzes verkorkstes Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie immer versucht damit klarzukommen, hatte alles so akzeptiert wie es gekommen war. Es konnte nicht immer alles perfekt sein. Sie hatte gelernt das zu verstehen und nicht zu hinterfragen warum gerade ihr und ihrer Familie dieses schwere Schicksal wiederfahren war. Sie wusste, dass das nicht helfen würde, nichts an der Situation änderte, also warum sollte sie sich damit unnötig quälen? Manche Fragen blieben eben ein Leben lang unbeantwortet.
Aber dieser Schlag war einer zu viel gewesen. Mit einem Mal waren die wichtigsten Stützen in ihrem Leben verschwunden und sie hatte bis heute nichts von ihnen gehört.
Sie erreichten die nächste Haltestelle und ein warmer Windstoß kam durch die geöffnete Tür, während ein paar Fahrgäste ausstiegen und neue dazukamen.
Wo zum Teufel waren nur ihre Eltern?
Drei Jahre waren nun schon vergangen. Drei Jahre in denen sie versucht hatte, ein Dach über dem Kopf zu behalten, einen Job zu finden und ihrem kleinen Bruder vorzulügen, dass Mama und Papa bald zurückkämen. Das Schlimmste aber war, dass sie Max irgendwann die Wahrheit sagen musste. Eine Wahrheit, die sie selbst nicht verstand.
Die Türen schlossen sich und die Straßenbahn setzte sich wieder in Bewegung.
Hannah war spät dran. Die Kirchenuhr schlug bereits halb vier und noch immer keine Spur von seiner Schwester.
Ihm war heiß und er hatte keine Lust mehr in dieser Hitze zu warten. Aber er wusste, dass er sich nicht alleine auf den Weg nach Hause machen durfte. Das hatten ihm zuerst seine Eltern und dann auch Hannah konsequent beigebracht. Max seufzte. Seine Schwester meinte es gut, aber sie machte sich definitiv zu viele Sorgen und sie führte sich oft ziemlich komisch auf, was Treffen mit seinen Freunden anging. Sie war seine einzige Bezugsperson seit seine Eltern plötzlich nicht mehr da gewesen waren und er liebte sie, aber mal ehrlich, manchmal konnte sie echt nervig sein. Er wusste, dass sie ihn nur beschützen wollte, doch es gab einfach Momente, da wollte er das nicht mehr. Hannah hatte ihm erklärt, dass seine Eltern auf einer langen Reise wären um armen und kranken Kindern zu helfen und sie ihn sehr vermissen würden. Jeden Monat kam eine Karte in der sie versicherten, bald zurückzukommen und ihn und Hannah sehr lieb hatten.
Er wusste, dass das nicht stimmte und dass Hannah die Karten schrieb, aber das konnte er ihr nicht sagen. Er wollte ihr den Glauben nicht nehmen, dass sie ihm dadurch Hoffnung schenkte. Hoffnung darauf, dass sie irgendwann zurückkamen. Noch so ein Punkt, den er längst hätte klären sollen.
Er war sieben Jahre alt gewesen als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Und wahrscheinlich würde es auch dabei bleiben. Er hatte aufgehört an Wunder zu glauben. Er war alt genug für die Wahrheit, Hannah würde das akzeptieren müssen.
Natürlich vermisste er seine Eltern. Das würde er immer tun. Aber auch wenn er jeden Tag trauern würde, konnte das nichts daran ändern, dass sie nicht mehr da waren. Er wollte seine Kindheit nicht damit verbringen, nur daran zu denken und darüber zu grübeln, warum seine Eltern verschwunden waren oder was mit ihnen passiert war. Er wollte mit seinen Freunden spielen, an Eishockeywettkämpfen teilnehmen und Spaß haben.
Sein Leben war gut so wie es war. Aber langsam war es an der Zeit
selbstständig zu werden. Er konnte nicht zulassen, dass Hannah immer alles für ihn stehen und liegen ließ nur um ihn irgendwo hinzubringen oder ihn abzuholen.
Es war Zeit erwachsen zu werden.
Er hinterließ ihr eine Nachricht auf der Mailbox und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.
Es war gar nicht so schwer gewesen, unbemerkt in die Grundschule von Max Christensen einzudringen. Aber darin war er schon immer gut gewesen. Er war darauf ausgebildet worden, sich im Hintergrund zu halten und immer dort zu sein, wo niemand ihn vermutete. Und auch jetzt gelang es ihm mehr als mühelos das zu tun was er wollte. Er war kein Mann der sich leicht aufhalten lies, schon gar nicht, wenn er noch dazu ein persönliches Interesse hatte. Er war ein ausgebildeter Navy-Seal und Scharfschütze. Außerdem hatte er sich während seiner Dienstzeit als Bombenentschärfer ausbilden lassen. Er wusste, was er tun musste um einen Sprengsatz auszuschalten, aber auch was zu tun war um einen zu bauen. So viele Jahre waren vergangen, seit jenem Tag, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Jahre in denen er immer nur ein Ziel gehabt hatte: Rache.
Und diese Rache würde er jetzt nehmen. Nach fast fünf Jahren hatte er es geschafft endlich das zu finden, wonach er seit dieser Zeit gesucht hatte. Er würde das Vollenden auf das er solange gewartet hatte. Vielleicht musste er hier und da etwas an dem ursprünglichen Plan verändern, aber das war ihm egal. Er war stets loyal gewesen, hatte die Aufgaben erledigt die ihm aufgetragen wurden und er würde auch diese erledigen, aber zu seinen Bedingungen.
Kurz bevor Hannahs Straßenbahn die Haltestelle der Schule endlich erreichte machte es einen fürchterlichen Knall und eine enorme Feuerbrunst explodierte am Himmel. Der Boden begann zu vibrieren. Erst leicht, dann immer stärker. Dann folgte ein dumpfer Schlag, die Straßenbahn wurde aus ihren Gleisen gerissen und donnerte mit starker Wucht hart auf den Boden zurück. Hannahs Kopf flog nach vorne und sie schlug gegen eine Haltestange.
Dann war alles wieder ruhig.
»Was zur Hölle war das denn?« Sie rieb sich erschrocken den Kopf und starrte aus den Fenstern der Straßenbahn. Vor ihnen lag die Kreuzung zur Rothenbaumchausseé, jener Straße in der sich der Eisplatz und Max Schule befanden und von dort schlugen ihnen riesige Flammen entgegen.
»Oh mein Gott!« Bestürzt starrte Hannah auf die riesige Feuerbrunst. Die Menschen um sie herum begannen wild durcheinander zu reden, versuchten die noch immer verschlossenen Türen zu öffnen oder ließen sich geschockt wieder auf die Sitze nieder.
Sirenen ertönten und kurz darauf fuhren zwei Krankenwagen und ein Polizeiauto um die Ecke, dicht gefolgt von drei Löschfahrzeugen der Feuerwehr.
Als dann endlich die Türen der Straßenbahn geöffnet wurden strömten die Leute einer nach dem anderen ins Freie. Auch Hannah packte ihr Tasche und rannte los. Sie rannte so lange bis sie fast direkt vor dem brennenden Gebäude stand und ruckartig stehen blieb.
Es war als würde jemand ihr Herz rausreißen und darauf herum Trampeln. Winzige kleine Füßchen die immer und immer wieder dagegen traten bis nichts mehr davon übrig war. Es war ein Albtraum.
Wie in Trance starrte sie auf den Feuerball vor ihr, der aus den Überresten des gesamten Eisplatzes und der Schule hervorquoll.
Panisch stürzte sie weiter auf das Feuer zu während sie immer wieder Max Namen rief. »Oh bitte lieber Gott, bitte …« Sie lief vorbei an Trümmerresten und Betonklumpen die überall verteilt auf der Straße lagen. Sie wusste nicht genau wo sie war, nur, dass hier nirgendwo mehr eine Schule stand und auch kein Eisplatz mehr zu sehen war. Menschen schrien um Hilfe während das Feuer weiter unaufhaltsam in den Himmel schlug. Kurz bevor sie die Flammen erreicht hatte packte sie jemand am Arm und zog sie unsanft zurück. »Sind Sie wahnsinnig?« fragte eine tiefe wütend klingende Männerstimme hinter ihr während ein kräftiger Arm sie zur der Stimme umdrehte. Ein Feuerwehrmann starrte sie böse an.
»Mein kleiner Bruder, er muss da noch drin sein.« Brachte sie nur mühsam hervor, während links neben ihr eine weitere Wand in sich zusammenfiel. »Oh Gott », verzweifelt schlug sie sich die Hände vors Gesicht.
»Hören Sie, meine Männer tun was sie können. Also bleiben sie bitte hinter der Absperrung und melden Sie sich bei meinen Kollegen dort hinten an der eingerichteten Hilfestation. Er wird die vermisste Person aufnehmen. Sie helfen niemanden wenn sie sich vorher umbringen.«
Er hatte recht. Natürlich hatte er das. Sie hätte nie auch nur den Hauch einer Chance diese Flammen zu durchqueren. Ihr Verstand wusste das, aber sollte sie zusehen wie das Feuer ihren kleinen Bruder unter sich begrub, sofern es das nicht schon längst getan hatte?
Sie wollte schreien. Den ganzen Frust und die unendliche Panik einfach herausbrüllen. So laut sie konnte. Aber wie so oft in ihrem Leben würde auch das nichts ändern. Es würde ihren Bruder nicht herbringen oder das Feuer löschen und alles rückgängig machen.
Wie immer war sie dem Schicksal hilflos ausgeliefert.
Er rang nach Luft, doch irgendetwas schnürte ihm seinen Hals zu und es würgte ihn zu einem erstickenden Husten. Die Kufe seines Schlittschuhes rammte sich widerlich schmerzend in seinen Bauch, aber nicht so schlimm wie sein Körper zu brennen begonnen hatte, als plötzlich harte, schwere Gesteinbrocken über ihm zusammengebrochen waren. Er wollte weglaufen, doch der Bändel seiner Sporttasche hatte sich an irgendetwas verfangen und er war sie nicht schnell genug losgeworden.
Mit einem Mal überkam ihn eine solch heftige Müdigkeit, dass er an Ort und Stelle einschlafen konnte. Doch das durfte er nicht. Er musste wach bleiben. Leise vernahm er die Stimme seiner Schwester die ihm zurief, dass er auf keinen Fall die Augen schließen sollte.
Als er sich mit der Zunge über den Mund fuhr schmeckte er Blut. Überall war Blut und es drehte sich alles. Sein Kopf pochte gegen die Schmerzen an, die seinen Körper durchfuhren, doch es war zwecklos. Krampfhaft hatte er versucht seine Augen offen zu halten, aber er war einfach so entsetzlich müde gewesen.
Es dauerte fast eine Stunde bis das Feuer einigermaßen wieder unter Kontrolle war. Eine Zeit in der sie nichts tun konnte als warten und hoffen.
Mit jeder Minute die verging, wurde ihre Panik größer. Auch wenn genau diese eine Situation meist nur verschlimmerte. Ihr Bruder war verschwunden. Vermutlich verschüttet unter schweren, harten Betonmauern. Unter solchen Umständen musste Panik erlaubt sein. Danach konnte sie wieder vernünftig und rational sein. Aber im Augenblick war das einfach unmöglich.
Das Schulgebäude war um diese Zeit bereits nicht mehr besucht gewesen, es hatte lediglich noch das Eishockeytraining stattgefunden und auch das war bereits zu Ende als diese Katastrophe passierte. Mit viel Glück würde es nicht viele Verletzte oder gar Tote geben. Bislang wurde zumindest noch niemand gefunden. Die Hoffnung war groß, dass bereits alle Kinder und Eltern sowie der Trainer der Mannschaft sich nicht mehr an diesem Ort befunden hatten, als es explodierte, hörte sie neben sich eine Reporterin in eine der unzähligen Kameras der Nachrichtenteams berichten.
Doch Hannah wusste es besser. Es waren nicht alle Kinder in Sicherheit. Ihr kleiner Bruder war noch dort gewesen. Hilflos und allein hatte er dort auf sie gewartet. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Ihre Schuld war es, dass er vielleicht nicht mehr am Leben war.
Einzelne Tränen liefen ihr über die Wangen. Leise und haltlos hinterließen sie feuchte Spuren an ihrer Haut. Spuren der Angst und Verzweiflung, die nichts an all dem ändern konnten.
Auch in der nächsten Stunde hatten sie niemanden in den Trümmern gefunden.
Rettungskrans hoben immer mehr Bruchstücke des Schulgebäudes beiseite, Spürhunde wurden eingesetzt und die Feuerwehrleute kämpften sich weiter in die Tiefen der Zerstörung.
Hannah irrte ziellos inmitten dieses Chaos umher. Immer wieder schrie sie Max Namen. Aber er blieb weiterhin spurlos verschwunden.
Mittlerweile war das Feuer in den größten Teilen unter Kontrolle und die Rauchschwaden stiegen in den Himmel empor. Die Hitzehölle dieses Tages ging über in einen lauen Spätsommerabend.
Duzende Rettungsteams waren vor Ort und kämpften sich durch das enorme Chaos, dass diese Explosion hinterlassen hatte. Nichts war mehr ganz geblieben. Überall lagen einzelne Teile des Schulgebäudes und der Turnhalle verstreut. Vorhin war sie an dem Stück einer Tafel vorbeigelaufen, zumindest glaubte sie das. Sicher war sie sich nicht.
Mühsam schleppte sie sich von einem Schutthaufen zum nächsten, warf einzelne Mauerreste zur Seite, bis sie irgendwann erschöpft über irgendetwas stolperte und Richtung Boden fiel.
Als sie sich versuchte mit den Beinen abzufangen, brach ein Teil des Ziegelhaufens auseinander und sie stürzte mit einem erschrockenen Aufschrei in die Tiefe, ehe sie hart auf den Beton schlug.
Für einen kurzen Moment blieb sie einfach liegen. Sie registrierte, dass sie einen Schmerz spürte und ihre Beine bewegen konnte. Das war gut. Vorsichtig hob sie ihren Kopf und drehte ihn von links nach rechts. Ok, auch das schien zu klappen, auch wenn ihr Kopf höllisch weh tat.
Sie würde jetzt einfach die Augen schließen und wenn sie sie wieder öffnete war dieser ganze Albtraum vorbei. Das alles wäre nie passiert.
Doch die hektischen Schreie der Menschen um sie herum und die über ihr befindliche Rauchwolke waren leider bittere Realität.
Plötzlich wurde ihr übel und alles verschwamm vor ihr. Kurz bevor sie ohnmächtig wurde zogen sie zwei kräftige Oberarme aus dem Loch heraus und trugen sie fort. Wohin merkte sie nicht. Es war alles so verschwommen um sie herum und es wirkte alles so verdammt weit weg.
Sie hörte wie die Menschen weiter um sie herum Befehle schrien, dann wurde sie auf etwas Weiches gelegt und mit einem Mal war alles dunkel.
3. Kapitel
»So habe ich das wirklich nicht gemeint!« jammerte Coco nun schon zum dritten Mal. »Habe ich gesagt, dass etwas Schlimmes passieren soll? Nein! Ich wollte ein bisschen Aufregung. Vielleicht mal wieder einen netten Mann kennenlernen, aber Himmel, doch nicht dass gleich eine ganze Schule in die Luft fliegt!« theatralisch schwang sie ihre Arme in die Luft, nur um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen.
Julia saß neben Tanja auf einer Wartebank vor der Notaufnahme des Alster-Klinikums und sah ihrer Freundin hilflos hinterher, die ebenso verzweifelt den Krankenhausgang auf und ab lief. Natürlich hatte sich Coco so etwas nicht gewünscht. So etwas wünschte sich keiner. Aber es war nun einmal offenbar passiert.
Noch immer hatte sie nicht so ganz begriffen was überhaupt los war. Eine Krankenschwester hatte sie angerufen und gesagt, dass Hannah im Krankenhaus lag weil es eine Explosion gegeben haben soll.