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Eine Explosion! Sowas musste man sich erst einmal vorstellen.
»Ich nehme alles zurück! Unser Leben ist perfekt so wie es ist.« Immer noch war Coco vollkommen aufgelöst. »Oder war es zumindest.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. »D-Das i-ist a-alles m-meine Schuld.«
»Unsinn. Soviel Macht hast du nun auch wieder nicht.« Tanja warf Coco einen leicht genervten Blick zu. »Wie wär´s wenn du dich jetzt einfach mal hinsetzt und mit uns wartest. Das einzige was du mit deinem ständigen Herumgelaufe bezweckst, ist, dass irgendwann deine Sohle total im Eimer ist.«
Julia sagte nichts. Das war auch nicht nötig. Egal wie verrückt sich Coco machte oder wie sehr Tanja sich darüber aufregte, es änderte nichts, aber auch gar nichts daran, was geschehen war.
Die Ärztin hatte ihr zwar bereits am Telefon versichert, dass Hannah keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten hatte, aber was war mit den anderen? Menschen die sich ebenfalls dort aufgehalten hatten? Männer, Frauen oder Kinder die zu diesem Zeitpunkt nichts ahnend auf dem Schulgelände oder dem naheliegenden Park gewesen waren? Um diese Zeit war dort bestimmt nicht wenig los. Das Wetter war perfekt gewesen und gleich um die Ecke der Schule, am Eingang des Parks, gab es einen wunderschönen Kinderspielplatz. Die Straßenbahnhaltestelle befand sich ebenfalls nicht weit entfernt.
Oh nein! Erschrocken riss sie die Augen auf. Wie konnten sie das nur vergessen? Max! Hannah war dort gewesen um ihn abzuholen.
»Was ist los?« Tanja sah Julia verwirrt an. »Was hast du?«
»Max.«
»Was ist mit … Oh Gott.« Sie schlug sich geschockt die Hand vor den Mund. »Nein.«
»Was ist wenn Max noch da draußen ist?« Julias Gesicht wurde bleich. »Ich meine, die Krankenschwester hat nur von Hannah gesprochen.«
»Das muss aber nichts heißen. Max kann bereits in Sicherheit gewesen sein.«
»Und was wenn nicht?« fragte Julia, auch wenn ihr darauf im Augenblick niemand eine Antwort geben konnte. Sie alle konnten nur hoffen und beten. Es ergab alles keinen Sinn. Rein rationell betrachtet wusste sie auch, dass es nicht notwendig war. Schlimme Dinge ergaben das selten. Aber sie konnte einfach nicht glauben, dass so etwas tatsächlich passiert war. In ihrem Leben gab es so etwas nicht. Das konnte einfach nicht sein. Sie war fünfundzwanzig und lebte seit sie denken konnte hier in Hamburg. Sicher gab es hin und wieder Vorfälle, bei denen sich tragische Dinge ereigneten. Vergewaltigung, Entführung bis hin zu Mordfällen. Hamburg war schließlich keine Kleinstadt und solche Sachen geschahen eben. Sie war kein naives Kleinkind mehr, doch bislang hatte sie so etwas noch nie so nah betroffen. Wie oft hatte sie in den Nachrichten davon gelesen oder gehört. Im Fernsehen Bilder von all den Anschlägen die in der letzten Zeit verübt wurden gesehen. Terrorangriffe die nahezu in jedem Land stattfanden. Natürlich war das alles furchtbar und selbstverständlich dachte sie dabei auch an die Angehörigen der Opfer. Aber irgendwann nach ein paar Tagen, wenn niemand mehr darüber berichtete, war es eben so, dass man damit nicht mehr konfrontiert wurde und dann spielte es für einen selbst keine Rolle mehr. Weil man eben niemanden gekannt hatte.
Aber jetzt war alles anders. Auf einmal befand sie sich mitten drin. Dieses Mal gehörte sie zu den Angehörigen. Oder zumindest beinahe.
Hannah war ihre beste Freundin. Und Max war fast wie ihr eigener Bruder.
Seit die beiden vor knapp drei Jahren in ihr Leben getreten waren, hatte sich so vieles verändert. Sie hatte sich verändert. Ihre Familie war nie einfach gewesen. Ihr Vater verlor schon vor einigen Jahren seinen Job und verbrachte seine Zeit nun damit, sich selbst zu bemitleiden und von Kneipe zu Kneipe zu ziehen. Ihre Mutter schlug sich als Putzfrau durch um zumindest das Notwendigste bezahlen zu können. Da dies dennoch kaum reichte war ihr damals nichts anderes übrig geblieben als sich anstelle eines Studienplatzes für einen Job zu bewerben. Also war sie Kellnerin geworden. Paul Sander, ihr und Hannahs Chef, hatte sie eingestellt ohne viel nach ihren Referenzen zu fragen. Er war eine Seele von Mensch und eigentlich so ziemlich der netteste Mann in ihrem Leben. Zu dumm nur, dass ausgerechnet er beinahe 50 und schwul war.
Trotz allem gefiel ihr die Arbeit, sie war abwechslungsreich und auch wenn sie dadurch nie reich werden würde, verdiente sie zumindest soviel, um ihre Mutter zu unterstützen und einen kläglichen Betrag auf die Seite zu sparen.
Dann hatte er Hannah eingestellt. Bislang waren Paul und sie ein Team gewesen. Das Lokal war nicht besonders groß und sie hatten es einige Jahre ganz gut zu zweit hinbekommen. Wenn es einmal doch zu stressig wurde oder sie frei hatte, dann war einfach Jessy, die Putzfrau, eingesprungen. Es hatte super funktioniert. Zumindest für Julia. Sie war nie sonderlich gut mit Mädchen oder Frauen in ihrem Alter ausgekommen. Schon in der Schule wurde sie oft ausgegrenzt. Ihre familiären Verhältnisse waren für die meisten der Anlass dazu, sie zu hänseln und ihr das Leben zur Hölle zu machen. Daher hatte sie früh gelernt, nur mit sich selbst klar zu kommen.
Julia hatte jedoch schnell erkannt, dass Hannah anders war. Sie war freundlich und hilfsbereit aber fast noch zurückhaltender und skeptischer gegenüber Fremden als sie, was irgendwie seltsam war.
Mit der Zeit waren sie Freundinnen geworden. Julia erfuhr, dass Hannahs Eltern aufgrund eines Autounfalls nicht mehr lebten und sie für ihren Bruder alleine sorgen musste. Durch Hannah hatte sie gelernt, ihr Leben endlich in die Hand zu nehmen und für das zu kämpfen was sie wirklich wollte. Hannah war diejenige gewesen, die sie ermutigt hatte, ihren Traum von der Kosmetikschule nicht einfach aufzugeben. Das Geld würde sie schon irgendwie zusammenbekommen, sie musste nur daran glauben. Ihre Freundin hatte sie gelehrt, stark zu sein und niemals aufzugeben.
Aber wie viel Kraft hatte Hannah? Wie oft konnte sie dem Schicksal entgegentreten ohne zu zerbrechen? Das Leben war einfach nicht fair.
Frustriert lehnte Julia sich zurück. Dann ging die Tür eines der unzähligen Behandlungsräume auf und Hannah trat heraus. Ihr Gesicht wirkte blass und ihr Gang war noch etwas unsicher, aber ansonsten schien offenbar alles okay zu sein. Julia sprang eilig auf und lief auf sie zu. Direkt gefolgt von Tanja und Coco.
»Da bist du ja.« Sie drückte Hannah fest an sich. »Geht es dir gut?«
Die Angesprochene lächelte schwach. »Ja. Ja, mir geht es gut. Es war nur der Kreislauf.«
»Was um alles in der Welt ist denn nur passiert?« wollte Coco wissen. »Die sagen alle es hat eine Explosion gegeben?«
Hannahs Lächeln schwand. »Ja.«
»Ich verstehe das nicht. Die ganze Schule ist explodiert?« wiederholte Tanja noch immer fassungslos.
Hannah drehte den Kopf zur Seite und starrte ins Leere. »Es ist alles zerstört. Die Schule, der Eisplatz. Überall war nur Feuer und Schutt. Ich habe versucht Max zu finden. Dabei bin ich eingebrochen und habe wohl das Bewusstsein verloren.«
Hannah machte eine kurze Pause, dann sah sie mit Tränen in den Augen wieder ihre Freundinnen an. »Ich habe ihn nicht gefunden.« Die Erinnerungen holten sie ein. Ob sie es wollte oder nicht erschienen ihr wieder die enormen Flammen und die endlose Zerstörung. Und irgendwo dort draußen war Max. Alleine und hilflos.
Sie hatte ihn im Stich gelassen. Es war ihre Schuld. Sie war seine Schwester und nicht rechtzeitig da gewesen. Ihre Beine gaben nach und sie stützte sich auf eine der Stuhllehnen. Sie spürte, dass ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte und sanft darüber streichelte. »Vielleicht war er gar nicht mehr da,« hörte sie Julia sagen. Sie sprach leise. Sanft. »Er könnte sich schon auf den Weg nach Hause gemacht haben.« Worte, die Hoffnung machen sollten. Ihr diese schlimmen Schuldgefühle und diese erbärmliche Angst nehmen sollten. Aber das konnten sie nicht. Max wartete immer. Weil er dazu erzogen worden war. »Hast du ihn schon angerufen?«
Hannah nickte schwach. »Mein Handy ist heute früh ins Wasser gefallen und funktioniert noch nicht. Aber ich habe vorhin vom Krankenhaus versucht ihn zu erreichen. Sein Handy ist aus.« Sie sah verzweifelt in die Runde. »Ich muss ihn finden. Er ist alles was ich noch habe.«
Sechs tröstende Arme umfingen sie. »Das werden wir. Versprochen.«
Die Frage war nur, ob lebend oder tot.
»Frau Bender?« Hannah drehte sich um. Eine Krankenschwester kam auf sie zu. Wie sehr sie diesen Namen hasste. »Ja.«
»Es tut mir leid wenn ich störe, aber wir haben gerade einen kleinen Jungen hereinbekommen und auf dem Rucksack den man bei ihm gefunden hat steht Max Bender. Ich dachte, er könnte vielleicht mit Ihnen verwandt sein.«
Max war nun schon mehr als drei Stunden im OP, was nie ein gutes Zeichen war.
Hannah wusste nicht, ob sie erleichtert sein oder vollkommen in Panik ausbrechen sollte. Sie hatten ihn gefunden. Er lebte, aber niemand hatte ihr sagen können, wie schlimm es um ihn stand. Und diese Ungewissheit machte sie verrückt.
Julia und Tanja saßen neben ihr. Coco lief ungeduldig den schmalen Gang auf und ab. Freundinnen, dachte Hannah. Auch wenn sie an Situationen nichts ändern konnten, so waren sie dennoch da und machten sie, zumindest meistens, etwas erträglicher. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen oder etwas Geschehenes ungeschehen machen. Aber man konnte dafür sorgen, dass man nicht alleine war. Es hatte lange Zeit gedauert bis Hannah das begriffen hatte. So viele Jahre waren vergangen, in denen niemand anders als ihre Familie ihr Halt geben konnte. Und dann waren auch ihre Eltern plötzlich fort gewesen. Ihr Bruder war zu jung um das Ganze zu verstehen. Was ihr blieb, waren lediglich die Erinnerungen. Erinnerungen an ein gutes, wenn auch nicht perfektes Leben.
Aber mit der Zeit, verblassten auch diese und zurück blieb nichts, außer der kläglichen Hoffnung, irgendwann ihre Vergangenheit hinter sich lassen und ihr Leben wieder ordnen zu können.
Erneut spürte Hannah eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich danach um. »Es wird alles wieder gut.« hörte sie Julia sagen. Ihre Stimme klang immer noch zuversichtlich und aufmunternd. Es fühlte sich so leicht an daran zu glauben. Nur hatte sie vor Jahren aufgegeben, das zu tun. Glauben half niemand. Das zumindest war die bittere Erkenntnis, die sie in ihrem Leben lernen musste. Wie oft hatte sie das getan? Wie oft gebetet, dass alles gut werden würde? Sie hatte nie etwas Falsches oder Schlimmes getan. Aber was hatte es geholfen? Nichts. Denn sonst würde sie nicht hier stehen, ohne ihre Familie, ohne richtige Zukunft und der bitteren Angst auch noch ihren Bruder zu verlieren.
Das Schicksal machte was es wollte. Entweder man kam damit klar oder eben nicht.
»Frau Bender?« Als sie dieses Mal aufsah, blickte sie in das Gesicht eines jungen Arztes, dessen weißer Kittel einige Blutspritzer aufwies. Max Blut. Sie versuchte sich einzureden, dass das nichts zu sagen hatte, schließlich hatten sie ihn operiert und aufgeschnitten. Aber so richtig wollte es ihr nicht gelingen.
Der Mann zog sich seine Handschuhe aus und schob sie in eine Seitentasche seines Umhangs, dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Dr. Christian Kallert. Ich habe ihren Bruder operiert.« Er sah von ihr zu den drei anderen Frauen die sich sofort zu Hannah gesellt hatten und ihn nun ebenfalls unverwandt und besorgt anstarrten.
Zitternd ergriff Hannah seine Hand und schüttelte sie. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut? Kann ich zu ihm?«
Julia trat dicht neben Hannah und musterte den Mann. Er hatte dunkelblondes, festes Haar, tiefblaue Augen und ein ziemlich attraktives Gesicht, wenn gleich es auch gerade nicht sonderlich erfreut wirkte.
»Ich schlage vor, wir besprechen das am besten in meinem Büro.« sagte dieser dann und ließ Julia und die anderen nicht aus den Augen. »Schließlich handelt es sich hierbei um eine Familienangelegenheit.«
Julia zog verächtlich eine Augenbraue noch oben. »Wirklich?« fragte sie dann ungehalten. »Sie wollen uns jetzt ernsthaft damit kommen?«
Dr. Kallert warf ihr einen kaum zu deutenden Blick zu, dann drehte er sich in Hannahs Richtung. »Wenn Sie mir bitte folgen würden?« Die Aufforderung galt eindeutig nur ihr. Diese nickte. Mit einem letzten Blick zu ihren Freundinnen folgte sie dem Mann, der das Schicksal ihres Bruders in seinen Händen hielt. Okay, das klang jetzt vielleicht etwas dramatisch, aber im Augenblick kam ihr das eben so vor.
»Wir warten hier.« rief Julia ihr noch zu, nicht ohne dem Arzt nochmals einen vernichtenden Blick zu zuwerfen. »Idiot.«
»Aber ein verdammt heißer.«
»Wie bitte?«
Coco ließ sich wieder auf den harten Metallstuhl nieder. »Ich sage ja nur die Wahrheit.«
»Also bitte.« Julia verschränkte die Arme vor der Brust. »Das einzige was an dem heiß sein mag, ist der Stock den er im Arsch hat.«
»Solange er ein guter Arzt ist und er Max gesund macht, sollte euch das doch schnurzpiepegal sein.« Tanja lehnte an der Wand und starrte Julia und Coco an. »Das ist schließlich das einzige was jetzt zählt.«
»Du hast recht.« antwortete Julia. »Hier geht es einzig und allein um Max.«
»Setzen Sie sich.« Die Worte hallten durch das kleine Büro, das lediglich aus einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einem winzigen Wandschrank bestand. Das einzige was die kahle weiße Wand überdeckte, war ein, aus verschiedenen ineinander gemischten Farben bestehendes Bild.
Der Schreibtisch war bis auf eine einzige Akte sorgfältig aufgeräumt. Drei einzelne Kugelschreiber steckten in einer kleinen kegelartigen Form, daneben ein Lineal und ein Bleistift, dessen Mine perfekt gespitzt war.
Alles an diesem Arzt wirkte peinlich genau organisiert.
»Was ist jetzt mit meinem Bruder?« fragte Hannah, während sie auf dem Stuhl gegenüber Dr. Kallert Platz nahm. Sein Blick war neutral, stellte sie fest. Was jetzt weder gut noch schlecht war.
Er setzte sich eine Brille auf, dann räusperte er sich bevor er sprach:« Ihr Bruder hat ein paar ziemlich komplizierte Brüche erlitten. Diese werden ihn einige Zeit in Anspruch nehmen, aber ich denke sie werden ansonsten gut verheilen. Zudem hat er eine Lungenquetschung erlitten und viel Blut verloren. Wir konnten ihn stabilisieren und die Operation hat er soweit ganz gut überstanden.«
Da waren sie. Endlich. Die Worte, auf die sie die letzten Stunden so sehnsüchtig gewartet hatte. Erleichterung überkam sie und sie spürte wie ihre Anspannung ein wenig nachließ. Brüche und Wunden konnten heilen. Ihr Bruder würde wieder gesund werden. Sicher, es würde einige Zeit dauern aber er war nicht in Lebensgefahr. Ihr kleiner Bruder würde leben.
Doch dann kam er, jener Satz, der so gar nicht nach Leben klang. »Leider liegt er derzeit noch im Koma.«
»Im Koma?« Tanja, Coco und Julia starrten Hannah ungläubig und geschockt an.
»Ja. Ich verstehe das nicht. Er hat Knochenbrüche und viel Blut verloren. Aber warum liegt er deswegen im Koma?« noch immer hatte Hannah das ganze Ausmaß dieses einen kleinen Wortes noch nicht wirklich realisiert. Sie stand neben ihren Freundinnen vor der Tür zu Max Zimmer auf der Intensivstation und beobachtete ihn durch die dicke Glaswand.
»Er wirkt so blass. Ich hätte bei ihm sein sollen.«
»Wenn du dort gewesen wärst, würdest du jetzt wahrscheinlich neben ihm liegen.« stellte Julia sanft fest. »Du warst nicht dort, weil du nicht dort sein solltest.«
Sie mochte Recht haben, dennoch fühlte sich Hannah als hätte sie ihn im Stich gelassen. All die Jahre hatte sie versucht ihn von allem fern zu halten was ihr altes Leben betraf, hatte ihm erklärt, dass ihre Eltern in einem fremden Land waren um armen Kindern zu helfen und sicher bald zurückkämen. Sie würde ihm die Wahrheit sagen müssen. Aber noch nicht jetzt. Nicht, wenn ihr das Schicksal schon wieder auf so brutale Art und Weise ins Leben pfuschte. Und jetzt lag er hier. Hilflos und verletzt in einem viel zu großen Krankenhausbett mit unzähligen Kabeln und Schläuchen, die aus seinem jungen, zierlichen Körper ragten und sie hatte nichts davon verhindern können. Manchmal war das Leben echt ungerecht.
»Frau Bender?« die Tür der Intensivstation wurde geöffnet und Dr. Kallert trat ein. Einmal nur, ein einziges beschissenes Mal wollte sie ihren richtigen Namen hören.
Widerwillig drehte sie sich um. Sie wollte ihm nicht schon wieder unter die Augen treten. Es war nicht fair, dass wusste sie, aber er war nun einmal derjenige, der ihr eröffnete hatte, dass ihr Bruder vielleicht nie wieder aufwachen würde. Nun, so hatte er es zwar nicht ausgedrückt, aber wie oft waren Komapatienten denn schon aufgewacht? Niemand konnte sagen, ob ihr Bruder die Augen wieder aufschlagen würde oder ob er, gesetzt den Fall er käme wieder zu sich, ganz der Alte sein würde.
Flüchtig dachte sie an Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und so einen Kram. Himmel, ihr Bruder war kaum 11 Jahre alt. An so etwas sollte man in diesem Alter noch nicht denken müssen.
»… Formulare ausfüllen.« holten sie die Worte des Arztes aus ihren Gedanken zurück.
»Was?«
»Sie müssten uns noch einige Formulare ausfüllen.« wiederholte Dr. Kallert steif. Sein Blick wirkte genauso sachlich wie eben. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass er, obwohl er immer noch mit ihr sprach, nicht sie, sondern Julia ansah. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.
Auch erinnerte sie sich daran, bereits in der Zeit in der sich Max im OP befunden hatte, sämtlichen Papierkram erledigt zu haben.
Tja, offensichtlich nicht alles.
»Ich komme.« Dann wandte sie sich an ihre Freundinnen. »Geht nach Hause. Es ist schon spät. Ich komme hier alleine klar.« Drei zweifelnde Augenpaare sahen sie an. »Ehrlich. Es ist okay. Wir können im Augenblick ohnehin nichts tun. Ich melde mich morgen bei euch.« erwiderte Hannah. »Versprochen.« Dann verließ sie mit Dr. Kallert den Raum. So sehr sie ihre Freundinnen auch liebte, brauchte sie jetzt einfach etwas Zeit. Zeit um erst einmal selbst mit all dem zurecht zu kommen, was geschehen war.
»Das wird sie nicht tun.« Coco verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah die beiden anderen an. »Das hat sie noch nie getan.«
»Das stimmt. Sie wird wieder versuchen alles alleine durchzustehen.« gab Tanja ihrer Freundin Recht. »Wie damals als Max diese schlimme Mandelentzündung hatte oder als sie selber diese hartnäckige Grippe bekam. Sie hat sich drei Tage lang kaum bewegen können. Trotzdem hat sie Max zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Jeden Tag.«
»Von heute auf morgen allein zu sein muss sehr schlimm gewesen sein.« bemerkte Coco. »Sie tut mir so leid.«
»Aber sie hat es geschafft.« Julia drehte sich entschlossen um. »Und sie wird es wieder schaffen. Max wird gesund werden.« Er musste einfach. Etwas anderes war nicht vorstellbar.
»Ich werde hierbleiben und auf Hannah warten.« sagte sie entschieden. »Ich rufe euch an.«
4. Kapitel
»Es geht nicht um die Papiere.«
Dr. Kallert lief neben Hannah in Richtung seines Büros. Sein Gang war schnell. Was in Anbetracht seiner Größe wohl normal war. »Aber das wollte ich vor ihren Freundinnen nicht sagen.«
Überrascht drehte Hannah sich zu ihm um. »Um was geht es dann?«
Sie musste sich anstrengen um auf gleicher Höhe mit dem Mann neben ihr zu bleiben. »Ein Polizist möchte mit Ihnen reden. Er wartet in meinem Büro auf Sie.« Beinahe wäre sie gestolpert. »Ein Polizist?«
»Ja.« Dr. Kallert blieb kurz stehen und sah sie an. »Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen.« erwiderte er dann in diesem typischen Patiententonfall, der sie vermutlich beruhigen sollte. Bei Hannah jedoch genau das Gegenteil bewirkte.
»Hören Sie,« redete der Arzt weiter, ohne sich auch nur einmal die Mühe zu machen, auf Hannahs entsetzen Blick zu achten. »Es wird sicher alles gut werden. Ihr Bruder ist bei uns in guten Händen.«
Nur machte sich Hannah im Augenblick ausnahmsweise gar nicht um ihren Bruder Gedanken. »Ja, ich weiß.« Es konnte viele Gründe haben, dass die Polizei mit ihr reden wollte. Vielleicht benötigten sie nur eine Aussage oder mussten die Personalien aufnehmen für die weiteren Ermittlungen. Schließlich war vor wenigen Stunden eine ganze Schule explodiert. Natürlich würde die Polizei auf sie zukommen. Ihr Bruder war ein Opfer dieses Vorfalls. Es war alles in Ordnung. Reine Routine. Sie interpretierte da mal wieder viel zu viel hinein.
Sie hatte fast ihr ganzes Leben mit Polizisten verbracht. Da war es doch verständlich, dass sie sofort an das Schlimmste dachte, oder?
An jeden Ort an den sie gebracht wurden, waren sie von Leuten umgeben die für sie und ihre Familie verantwortlich waren. Menschen, für die sie ein Job wie jeder andere waren. Die Erinnerung daran deprimierte sie. So viele verschiedene Personen waren es gewesen, die sie kennen gelernt und wieder verlassen hatten. Personen, die mit ihnen Geburtstage und Weihnachten gefeiert hatten, als wären sie eine richtige Familie. Die meisten davon, waren sehr lange bei ihnen geblieben. Manche aber auch nur sehr kurz. Aber niemand auf Dauer. So wie eigentlich alles in ihrem Leben nicht auf Dauer war.
Nur einer war all die Jahre derselbe gewesen. Polizeihauptkommissar Wiesner. Er war seit sie denken konnte der leitende Beamte ihres Zeugenschutzprogrammes, hatte ständig mit ihnen in Kontakt gestanden und ihr Leben organisiert.
Das letzte Mal als sie mit ihm gesprochen hatte, war vor ziemlich genau drei Jahren gewesen. Kurz nach dem ihre Eltern verschwunden waren und er ihr erklärt hatte, dass sie von nun an auf sich allein gestellt wären. Seit diesem Tag hatte sie ihn nie wieder persönlich getroffen. Er hatte sie lediglich ein paar Mal angerufen. Vermutlich um sich zu vergewissern, dass mit ihr und Max noch alles in Ordnung war. Oder so.
»Wie heißt dieser Polizist?« Sie hoffte inständig, dass sie sich irrte. Das ihr Gefühl sie trog. Es musste einfach so sein.
»Wiesner, glaub ich.«
Er war älter geworden.
Das Haar war inzwischen fast ganz ergraut und er hatte hier und da ein paar Falten mehr im Gesicht bekommen. Er wirkte erschöpft und fast so, als würde ihm eine schwere Last auf den Schultern liegen. Aber vermutlich brachte das sein Job so mit sich. Leiter eines Zeugenschutzprogramms zu sein war sicherlich kein Zuckerschlecken. Sie kannte das nur zu gut. Es gab immer jemanden, der eine Gefahr darstellen würde. Fehler, die bittere Konsequenzen hatten. Man organisierte die kontrollierte Flucht in allen nur erdenklichen Situationen.
Dabei waren es nicht die Menschen, mit denen man nicht zu Recht kam oder diejenigen, vor denen man diese beschützen musste. Es war das Leben selbst, dass einem so zusetzte.
»Hallo Hannah.« Der Mann der hinter dem Schreibtisch saß nickte ihr leicht zu.
»Herr Wiesner.« Hannah setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Mann, den sie bereits ihr ganzes Leben lang kannte. Sie konnte nicht sagen, dass sie sich über das Zusammentreffen freute, aber er war auch jemand, der sie in fast allen Lebenslagen begleitet hatte.
Möglicherweise war die Tatsache, dass er nun hier war, auch durch Max Unfall begründet. Vielleicht wollte er einfach nur wissen, wie es ihm ging. Aber wahrscheinlich wusste er das schon.
»Du fragst dich sicher warum ich hier bin nach all der Zeit.«
»Und? Warum sind Sie es?«
»Nun, ich denke nicht dass du das hören willst,« fing Herr Wiesner an und legte beide Hände auf den Schreibtisch. Dann sah er sie an.
»Oh, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich das nicht will.« erwiderte Hannah. »Aber das ändert nichts daran, dass sie es mir trotzdem sagen werden, richtig?« So wie damals. Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag, hart und fest katapultierte er sie zurück in die Vergangenheit und sie konnte nichts tun um ihn aufzuhalten. Vor drei Jahren war sie Herrn Wiesner genauso gegenübergesessen wie jetzt, mit dem einzigen Unterschied, dass es damals sein Büro und nicht das eines fremden Arztes gewesen war. Und natürlich der Tatsache, dass ihr Bruder zu dieser Zeit nicht um sein Leben kämpfte. An jenem Tag hatte er ihr eröffnet, von nun an ohne ihre Eltern auskommen zu müssen. Es wäre das Sicherste für alle und sie solle sich keine Sorgen machen. Aber sie hatte sich Sorgen gemacht. Entsetzliche Sorgen. Von heute auf morgen war sie mit vierundzwanzig Jahren und einem siebenjährigen Bruder alleine dagestanden. Ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, warum. Mit einem Leben, dass ein einziges Chaos war. Damals hatte sie nicht geglaubt, dass sie es schaffen konnte. Aber sie hatte es getan. Weil ihr keine andere Wahl geblieben war. Es gab so viele Fragen und es würde einzig und allein ihr Problem sein, wenn ihr die Antworten darauf nicht gefielen.