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»Hannah, ich weiß, dass das schwer für dich ist. Und ich kann dich mehr als verstehen. Euer Leben war nie einfach.« Sie hörte die tiefe, sonore Stimme des Kommissars und versuchte, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
»Welches Leben meinen Sie denn? «
Herr Wiesner zuckte leicht zusammen, ehe er sie wieder klar und deutlich ansah. »Hannah es tut mir Leid. Wir bzw. deine Eltern hatten keine Wahl. Sie mussten in ein Zeugenschutzprogramm.« Er hob beschwichtigend die Hände. »Dass das nicht leicht werden wird, war uns bewusst.«
Ja ihnen war es das vielleicht gewesen. Aber sie und ihr Bruder waren ungefragt mit hineingezogen worden. Sie waren in diesem Strudel der Vergangenheit geboren worden.
»Warum? Ich habe nie eine Antwort darauf erhalten. Aber jetzt möchte ich endlich wissen was so verdammt Schlimmes geschehen ist, dass sie das tun mussten. Weshalb sie ihr und damit auch unser Leben aufgeben mussten.« Eigentlich hatte sie keine Ahnung, ob sie wirklich bereit dafür war, aber sie wollte jetzt ein für alle mal die Wahrheit. Für sich und ihren Bruder. Und für ihre Zukunft. Sofern ihr Bruder noch eine hatte.
Herr Wiesner nickte. »Du hast Recht. Wir haben es Dir nie gesagt. Wir hielten es einfach für das Beste. Du bist damals noch ein Kind gewesen. Es war für dich schwierig genug mit all dem umgehen zu müssen.«
»Ich denke, dass ich schon lange kein Kind mehr bin. Schließlich war ich schon vor drei Jahren offenbar alt genug, dass man mich mit Max alleine lassen konnte.« Es kostete Hannah alle Mühe nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie war wütend. Genauer gesagt sogar verdammt wütend. Auf ihre Eltern, die Polizei und vor allem auf sich selbst, weil sie nichts an der ganzen Situation ändern konnte. Aber diese Wut würde ihr nicht helfen, das war eines der Dinge die sie in all der Zeit gelernt hatte. Also zwang sie sich ruhig zu bleiben. Auch wenn das leichter gesagt wie getan war.
»Warum bin ich hier?« fragte sie daher nochmal.
Der Mann ihr gegenüber atmete schwer aus. Sein Kopf senkte sich und Hannah befürchtete schon fast, dass er wieder einen Rückzieher machen und ihr erneut die Wahrheit vorenthalten würde. Doch als Herr Wiesner seinen Blick wieder auf sie richtete lag darin sowohl Einsicht als auch Resignation.
»Es wird dir nicht gefallen.«
»Das hat es bislang auch nicht.«
»Hannah du verstehst das nicht. Deine Eltern, sie sind nicht aus den üblichen Gründen in einem Zeugenschutzprogramm.«
Als Herr Wiesner merkte wie sie ihn verwirrt ansah, fuhr er leise aber bestimmt fort. »Dein Vater, er war zuerst ein Täter, bevor er ein Opfer wurde.«
»Sie haben Recht. Das verstehe ich nicht.« Oder wollte es nicht. Ihr Vater ein Täter?
»Dein Vater war damals noch sehr jung. Gerade einmal Anfang zwanzig. Er wurde Mitglied in einer Organisation, die, nun sagen wir mal, nicht zu den netten Menschen gehörte. Er war gerade mit der Ausbildung als Elektriker fertig gewesen. Wir wissen nicht wie sie gerade zu deinem Vater kamen oder warum er sich darauf eingelassen hat. Aber letztlich spielt das auch keine Rolle. Wie auch immer, er war jedenfalls in dieser besagten Organisation. Ich denke, dass er am Anfang nicht wusste, worauf er sich da tatsächlich eingelassen hat. Es gab kleinere Einbrüche, ein paar illegale Drogengeschäfte, solche Sachen. Aber nach und nach wurden die Dinge immer größer. Irgendwann reichte das nicht mehr.«
Als Herr Wiesner eine kurze Pause machte, versuchte Hannah zu verstehen, was er ihr da gerade eigentlich erzählte. Konnte es tatsächlich sein, dass ihr Vater ein Krimineller war? Der gleiche Mann, den sie als einen der liebevollsten und gutmütigsten Menschen kannte sollte ein Verbrecher sein?
»Er hat nie jemanden ernsthaft verletzt oder getötet, falls du das denkst.« Hatte sie nicht. Oder doch? Sie wusste es nicht. Das alles war einfach viel zu unreal.
»Aber er konnte auch nicht mehr aussteigen. Nicht ohne getötet zu werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch schon deine Mutter kennengelernt.«
Entsetzt starrte Hannah Herrn Wiesner an. »Meine Mutter war auch daran beteiligt?«
Herr Wiesner schüttelte den Kopf. »Nein. Deine Mutter wusste von all dem nichts. Zumindest solange, bis dein Vater es nicht mehr geheim halten konnte.« Es entstand eine erneute Pause. »Die Organisation wollte ein Polizeipräsidium in die Luft sprengen.«
»Oh Gott …«
»Zu dem Zeitpunkt wurde deinem Vater klar, dass er eine Entscheidung treffen musste. Also hat er uns eingeweiht und versucht, zu helfen wo er konnte. Allerdings sind dabei dennoch einige Personen schwer verletzt worden, einschließlich deines Vaters. Er wurde damals angeschossen. Nach dem er wieder transportfähig war, haben wir ihn und deine Mutter umgehend ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen und außer Landes geflogen. Wir haben dafür gesorgt, dass sie sicher waren, so gut es ging. Aber die Gefahr war immer da. Deine Eltern wussten das, aber sie haben sich damals für dieses Leben entschieden. Deine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger. Sie hatten keine andere Wahl als zu verschwinden um dich zu schützen.«
Hannah merkte, wie ihr übel wurde. Sie hatte immer wissen wollen, warum ihr Leben so verkorkst war. Weshalb sie nie so sein konnte wie alle anderen.
Aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob es wirklich das Richtige war. Damals hatte sie sich einreden können, dass es nicht ihre Schuld war oder die ihrer Eltern, sondern ein schlimmer Wink des Schicksals, der sie in diese Situation gebracht hatte. Aber nun wusste sie es besser. Es war ihr eigener Vater, der dafür verantwortlich war. Tja, sie hatte es wissen wollten. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig als mit diesem Wissen zu leben.
Genauso wie sie sich zusammenreißen musste. Die Gründe änderten nichts an der Wahrheit. Und es gab immer noch eine Frage, die unbeantwortet war.
»Warum sind sie jetzt weg? Warum sind sie nicht mehr hier und wir schon?«
»Du musst mir glauben, dass ihnen diese Entscheidung nicht leicht gefallen ist. Aber wir hielten es für die einzige Möglichkeit euch zu schützen. Diese Organisation ist seit dem Zeitpunkt, an dem dein Vater sie verraten hat, hinter ihm her. All die Umzüge und die Kontaktverbote waren nur dafür da, keine Spuren zu hinterlassen. Diese Menschen sind verdammt gut darin, immer zu bekommen was sie wollen und haben ihre Finger überall. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie euch irgendwann finden würden. Wir haben daher beschlossen, dass es sicherer ist, wenn eure Eltern an einen anderen Ort gebracht werden. Wir dachten bislang eure Existenz wäre noch nicht aufgeflogen. Nun, wir haben uns offenbar geirrt.«
Hannah saß noch immer vor Herrn Wiesner, der Zeiger der Uhr ober ihm lief weiter, Sekunde für Sekunde strich vorüber, aber Hannah fühlte sich als wäre plötzlich alles stehen geblieben. Sie hörte die letzten Worte von Herrn Wiesner, hörte auch Schritte außerhalb des kleinen Büros und das Ticken der Uhr, aber irgendwie erschien das alles plötzlich so unendlich weit weg. Ihre Eltern lebten. Sie waren nicht tot. Und sie hatten sie mit voller Absicht im Stich gelassen.
»Wo sind sie? Meine Eltern? Sie sagten sie haben sie an einen sicheren Ort gebracht.« Sie wusste nicht wie, aber ihre Stimme klang gefasster als sie sich fühlte. »Und warum geirrt?«
»Das waren sie auch. Aber vor ein paar Tagen ist dieses Versteck aufgeflogen und sie haben deine Eltern fortgebracht.«
»Was heißt das fortgebracht? Was ist mit meinen Eltern?« Sie hatte gedacht, dass sie so schnell nichts mehr schockieren könnte, dass sie auf alles vorbereitet war, aber die bittere Realität belehrte sie mal wieder eines Besseren.
»Das wissen wir noch nicht. Unsere Ermittlungen dauern noch an, aber ich verspreche dir, wir tun alles in unserer Macht stehende um es heraus zu finden. Aber der Grund warum ich eigentlich hier bin, ist, um dir zu sagen, dass wir euch wegbringen müssen.«
»Nein.« Hannah sprang auf. Der Stuhl auf dem sie eben noch gesessen hatte, fiel mit einem dumpfen Krachen zu Boden. Wütend stemmte sie ihre Hände auf den Schreibtisch und funkelte den Mann ihr gegenüber an. »Das werde ich nicht zulassen. Nicht schon wieder.«
Ihr ganzer Körper zitterte als sie das ganze Ausmaß dieser Worte zu begreifen begann. Wieder sollte sie alles aufgeben, ihre Freunde, ihr zu Hause und ihre Arbeit. Nach all der Zeit die sie gebraucht hatte um endlich mit ihrem Leben klar zu kommen, sollte es ihr einfach so wieder weggenommen werden. Mit ein paar simplen Worten, die doch eine so große Bedeutung hatten.
»Hannah ihr seid in Gefahr. Wir gehen davon aus, dass dieser Anschlag an der Schule gezielt verübt wurde. Ich weiß, es ist schwer für dich zu begreifen, aber euer Leben hängt davon ab und ich werde kein weiteres Risiko mehr zulassen.« Sie hörte die Worte, klar und deutlich vernahm sie den Klang der Stimme des Kommissars, doch sie konnte und wollte es nicht wahrhaben. Es durfte nicht sein. Nicht schon wieder. »Nein.« wiederholte sie daher energisch.
»Du musst jetzt nach Hause gehen. Dort wird einer meiner Männer auf dich warten.« Herr Wiesner stand ebenfalls auf, lief um den kleinen Tisch herum und trat zu ihr. Dann legte er ihr die Arme auf die Schulter und drehte sie so, dass sie ihn anschauen musste.
Hannah versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Sie wollte nichts mehr hören. Keine weiteren Erklärungen oder Vorschriften. Sie wusste wie das enden sollte. Aber sie war nicht gewillt, das zu akzeptieren. Dieses Mal nicht. All die Jahre hatte sie keine Chance gehabt, war einfach mitgezerrt worden, ob es ihr passte oder nicht. Jetzt war sie diejenige die Entscheidungen traf. Nicht mehr ihre Eltern. Und sie würde sich ganz bestimmt nicht schon wieder so aus ihrem Leben reißen lassen, als wäre es lediglich ein verdammtes Drehbuch, dass man je nach Belieben ändern konnte wie es einem gerade passte.
Entschlossen starrte sie Herrn Wiesner an. »Ich werde nicht verschwinden.« Sie machte erst einen, dann noch einen Schritt zurück. »Das meine ich ernst.«
»Hannah, du kannst nicht ändern was damals geschehen ist. »Abwehrend hob Herr Wiesner die Hände in die Luft während er um sie herum lief. »Aber du musst jetzt das Richtige tun.« Damit ging er zur Tür, öffnete sie und verschwand. Ließ sie allein, mit all den Informationen und Fragen die durch ihren Kopf rauschten, wie eine Flutwelle die einfach nicht verebben wollte. Hier stand sie nun, mit der Gewissheit, dass ihr Vater ein Krimineller war, der nicht nur sein eigenes, sondern das Leben von ihnen allen verpfuscht hatte und der erbitterten Tatsache, dass sich ihr so mühsam aufgebautes normales Leben erneut in Luft auflöste.
Sie musste hier raus. Aber was dann? Ihr Bruder lag hier und wo sollte sie hin? Zu Hause würde ein weiterer Agent auf sie warten, der sie von hier fortbringen wollte.
Sie hatte gar keine andere Alternative. Sie war gefangen in ihrer Vergangenheit und nichts und niemand konnte daran etwas ändern. Erneut sollte sie ihr altes Leben aufgeben und dem Weg folgen, den das Schicksal ihr vorgelegt hatte.
5. Kapitel
Als Undercover-Agent hatte er schon viele verschiedene Einsätze gehabt. Nicht selten an Orten, die man im normalen Leben eher nicht unbedingt freiwillig betreten würde. Die Einsätze waren oft sehr lang und eintönig, es gab Zeiten da war er monatelang immer nur am gleichen Ort mit den gleichen Menschen gewesen, hatte sein normales Leben vollkommen seinem, dem Einsatz erforderlichen, untergeordnet. Das war nicht immer leicht, aber bislang hatte ihn das nie besonders gestört. Er war gern ungebunden und frei und die Arbeit hatte ihn befriedigt und seine Vergangenheit vergessen lassen, zumindest konnte er sich das einreden. Auch jetzt, als er diese Art von Tätigkeit aufgegeben hatte und fast ausschließlich als Personenschützer arbeitete, befand er sich immer mit einem Schritt zu nah an der Zielscheibe. Aber das war es, was sein Leben ausmachte. Er kannte nichts anderes.
Nun sollte er für die Sicherheit von Hannah Christensen sorgen.
Es war Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet dieser Auftrag viel zu sehr mit seiner Vergangenheit kollidierte, ihn an Dinge erinnerte, die er am liebsten für immer vergessen würde. Aber so sehr er sich das auch wünschte, es ging nicht. Er hatte alles ausprobiert. Von Alkohol über Frauen bis hin zu seiner Arbeit. Nichts hatte geholfen. Es gab immer wieder Momente, da holte ihn seine Vergangenheit einfach ein und er konnte rein gar nichts dagegen tun.
Tom runzelte die Stirn als er eine aktuelle Aktennotiz las.
Er wusste, dass Hannah einen kleinen Bruder hatte, aber man sollte sich nur um sie kümmern. Von Max stand hier kein Sterbenswörtchen. Niemand war abgestellt worden, um ihren Bruder zu beschützen. Da er den Anschlag überlebt hatte befand er sich aber eigentlich genauso in Gefahr wie Hannah.
Er klappte sein Notizbuch zu und starrte aus dem Fenster des gemütlichen kleinen Häuschens. Die Wände waren in einem fröhlichen gelb gestrichen und draußen in dem kleinen Vorgarten blühten neben einem weinroten Ahorn ein paar weiße Rosen. Die Zufahrt entlang war eine Hecke aus wildem Buchs gepflanzt und direkt vor der Eingangstür waren ihm zwei Rhododendrenbüsche aufgefallen. Nicht, dass er sich damit besonders auskannte. Dort wo er aufgewachsen war, hatte es immer einen Gärtner gegeben.
Unwillkürlich musste er wieder an seinen Vater denken. Wobei ihm dieses Wort dafür nicht unbedingt gefiel. Er war sein Erzeuger, derjenige, der zur Hälfte dafür verantwortlich war, dass es ihn gab. Mehr nicht.
Seine Mutter war schon lange tot. Gestorben durch einen tragischen Unfall, wobei er auch nach all den Jahren noch daran zweifelte, dass es ein solcher gewesen war. Vielmehr glaubte er daran, dass hinter diesem Ereignis Absicht steckte. Aber das konnte er nicht beweisen. Und nach all den Jahren sollte es auch keine Rolle mehr spielen. Es war passiert. Selbst wenn er den Fall aufklären würde, änderte das nichts daran, dass seine Mutter nicht mehr am Leben war.
Er legte seinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Die Erinnerungen strömten über ihn ein, langsam und rücksichtslos holten sie ihn dorthin zurück wo er schon lange nicht mehr sein wollte.
All die schrecklichen Ereignisse seiner Vergangenheit, die er so krampfhaft versuchte zu vergessen waren plötzlich wieder da, als wären sie nie fort gewesen. Unaufhaltsam und mit einem dumpfen Aufprall schlugen sie wie Gesteinbrocken in seine Gedanken. Einer nach dem anderen. Immer und immer wieder. Bis die komplette Fassade zerbrach und er nur noch ein Schatten davon war, was er geglaubt hatte zu sein. Er hasste diese Flashbacks. Aber egal was er versuchte, er konnte sie einfach nicht kontrollieren.
Es war wie ein Rausch. Oder Fliegen. Oder eine Kombination aus Beidem.
Er wusste nur, dass es sich genau so anfühlte, wie es sein sollte. Auch wenn es, betrachtete man es genauer, natürlich falsch war. Aber eben das war ja erst der Reiz daran. Jahrelang war er jemand gewesen, der stets das Richtige tun wollte. Es tun musste. Sein Vater war bis zu seinem Tod mit Leib und Seele Soldat. Für ihn hatte immer nur Zucht und Ordnung eine Rolle gespielt. Fehler duldete er nicht. Daher hatte er auch selten eine gemacht. Und wenn doch, dann hatte er gelernt sie zu vertuschen. Ja, das Leben war hart zu ihm gewesen. Aber jetzt war es vorbei. Von nun an gab es niemanden mehr der ihm etwas vorschreiben konnte. Nach all der Zeit war er endlich Herr seines Lebens geworden.
Vielleicht sollte er so etwas wie Reue oder Skrupel verspüren. Doch da war nichts. Nicht ein klitzekleiner Hauch davon. Die Versuchung war einfach zu groß gewesen und letztendlich konnte man einem Menschen ja auch nicht verübeln, wenn er nach den Sternen griff. Oder in seinem Fall nach dem Geld. Verdammt viel Geld.
Er klappte die Akte zu die vor ihm auf dem Tisch lag.
Bald würde er reich sein.
Als Hannah die Straße zu ihrem Haus einbog wusste sie nicht was sie erwarten würde. Sie hatte lange überlegt, ob sie überhaupt nach Hause gehen sollte. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ihr Bruder lag im Krankenhaus und brauchte sie. Was auch immer sie in Erwägung zog, sie durfte nicht vergessen, dass Max niemand anderen auf der mehr Welt hatte als sie. Auf gar keinen Fall würde sie sich ohne Max irgendwo anders hinbringen lassen! Sie brauchte Zeit. Zeit, um sich irgendetwas einfallen zu lassen, wie sie sich aus dieser mehr als vertrackten Situation herausmanövrieren konnte. Nur leider hatte sie mal wieder keine.
Völlig in Gedanken lief Hannah den schmalen Weg zu ihrem Haus entlang.
Im gleichen Moment als sie die Hand ausstreckte um die Haustür zu öffnen hörte sie ein Rascheln. Erschrocken hielt sie inne und lauschte den Geräuschen, die aus dem Esszimmer zu kommen schienen. Doch jetzt wirkte alles wieder ruhig.
Sie zwang sich ruhig zu bleiben. Herr Wiesner hatte gesagt, dass ein Polizist bei ihr zu Hause warten würde. Also atmete sie einmal tief durch, schloss sie die Tür und lief durch den engen Flur entlang um dann vorsichtig die kleine Stufe ins Esszimmer hinunter zu steigen.
Auf dem Stuhl saß ein Mann mit dem Rücken zu ihr, den Kopf auf seinen Händen abgestützt. Der Mann trug keine Uniform, aber an seinem Hosenbund bemerkte sie eine Waffe.
Sie schluckte, dann räusperte sie sich.
Der Kopf des Mannes bewegte sich zuerst nach oben eher er sich zu ihr umdrehte. Die Hand nun an seiner Waffe gelegen starrte er sie an. Hannah merkte, dass ihr leicht schwindling wurde. Was aber auch daran liegen konnte, dass ihr Gegenüber sich als ein sehr attraktiver, noch ziemlich junger Polizist entpuppte, der sie nun mit seinen dunkelblauen Augen musterte.
Dieser ganze Augenblick wirkte so unreal, dass sie beinahe laut losgelacht hätte, wäre es nicht so verdammt ernst gewesen. Aber genau das war es. Wie schon alle unzählige Male zuvor. Sie kannte dieses Spiel mit jeder einzelnen seiner Spielregeln. Nur dieses Mal lag es an ihr diese zu verändern.
Sie zwang sich noch einen Schritt auf den ihr unbekannten Mann zuzugehen und ihm die Hand entgegenzustrecken:« Hallo. Ich bin Hannah. Aber das wusstest du vermutlich schon.« Sie musste den Kopf in den Nacken legen, als der Mann aufstand und ihre Hand ergriff. »Tom.« Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. »Und ja, ich weiß wer du bist.« Als sich ihre Hände berührten spürte sie ein verräterisches Ziehen in der Brustgegend und zog so schnell wie möglich ihre Hand zurück. Dieser Mann bedeutete Ärger und den konnte sie nun weiß Gott nicht gebrauchen.
»Ich würde ja jetzt sagen, nett dich kennenzulernen, aber das wäre wohl gelogen.« plapperte Hannah daher schnell drauf los. Als sie sah wie Tom kaum merklich eine Augenbraue noch oben zog, drehte sie sich um. »Das ist jetzt nicht persönlich gemeint.« fuhr sie fort. »Aber du bist hier um mich fortzubringen.« Was keine Frage, sondern eine Feststellung war.
»Ja.«
»Siehst du. Und genau das ist das Problem. Ich werde nicht mitgehen.« Hannah wagte es nicht, ihn anzusehen während sie das sagte. Daher tat sie so, als würde sie irgendetwas in einem der vielen Küchenschränke suchen.
Als jedoch keine Antwort kam, warf sie, nun doch neugierig geworden, einen kurzen Blick über die Schulter.
Tom stand da, die Hände vor der Brust verschränkt und taxierte sie mit diesen herrlich blauen Augen. Aber immer noch sagte er nichts. Starrte sie nur an.
Mit einem Seufzer drehte Hannah sich dann doch vollständig um. »Hör zu,« fing sie an, stoppte jedoch abrupt, als sie merkte, dass Tom nun auf sie zu kam. Kurz bevor er sie berühren konnte blieb er stehen und seine Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben. »Das klingt fast so als hättest du eine Wahl.«
Verwirrt sah Hannah ihn an. »Ich verstehe nicht.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Du sagst du gehst nicht mit. Was machst du dann?«
Das wusste Hannah selbst nicht so genau. Was Teil des Problems war. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer was sie tun sollte.
»Ich werde nicht von hier fort gehen.« erwiderte sie und versuchte ihn so entschlossen wie möglich anzusehen.
»Das beantwortet nicht meine Frage.« Klugscheißer.
»Was spielt das denn für eine Rolle? Ich werde nicht mitkommen. Ich verzichte auf einen Aufpasser.« Noch bevor sie die Worte fertig gesprochen hatte, wusste sie, dass es vermutlich nicht so einfach sein würde. Aber man durfte ja wohl noch hoffen.
Toms Miene blieb unergründlich. »Du denkst also, dass es so einfach ist, ja?« Dieser Kerl machte sie wahnsinnig. Was spielte es für eine Rolle was sie dachte? »Hör zu. Ich weiß, dass es dein Job ist, aber ich lasse mich nicht von hier fortbringen. Schon gar nicht, während mein Bruder im Koma liegt.« Hannah lief an Tom vorbei, versuchte so gut wie möglich seinen maskulinen Duft zu ignorieren und setzte sich resigniert auf einen der freien Stühle. »Das meine ich ernst.«
Sie sah zu wie Tom sich den anderen Stuhl schnappte, diesen umdrehte, so dass das Rückenteil zwischen seinen Schenkeln war und gegenüber von ihr Platz nahm. Seine Arme legte er ebenso lässig, wie er sich eben auf den Stuhl gesetzt hatte, übereinandergeschlagen auf die Lehne. Noch immer sah er sie so eindringlich an, dass Hannah plötzlich weiche Knie bekam.
»Hannah«, begann er dann und seine Stimme klang nicht weniger entschlossen als ihre. »Ich werde mich nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob du mit kommst oder nicht. Diese Wahl hast du nicht.«
Er merkte, wie sich ihre vorhin noch so leuchtenden Augen zu zwei kleinen Schlitzen verengten, die ihn jetzt wütend anstarrten. »Das hier,« sie machte mit ihrem Zeigefinger eine kreisförmige Bewegung, »ist mein Leben. Meines. Ich glaube nicht, dass hier irgendjemand das Recht dazu hat, mir vorzuschreiben was ich tun muss.« zischte sie. »Wenn ihr mich von hier fortschleppen wollt, müsst ihr das schon mit Gewalt tun.«
Toms Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Das könnte durchaus interessant werden.«
Was ihm einen erneuten totbringenden Blick Hannahs einfuhr. »Das war keine Aufforderung.«
»Hörte sich aber so an.«
»Ich bin eine erwachsene Person. Ich habe Rechte. Glaubt bloß nicht, dass ich das nicht weiß.« fuhr sie ihn erbost an. »Niemand wird mich gegen meinen Willen irgendwo hinbringen. Auch nicht die Polizei.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Ich habe hier ein Leben. Mein Bruder hat hier ein Leben.« Sie schluckte. Zumindest hatte er es gehabt. Aber daran würde sie jetzt nicht denken. Max konnte jeden Augenblick wieder aufwachen. Daran musste sie festhalten. »Warum wollt ihr das wieder zerstören?« Sie klang resigniert.
»Weil du in Gefahr bist.« erwiderte Tom lapidar. Was Hannah offenbar komplett ignorierte. Oder nicht verstand. Wobei er persönlich eher auf ersteres tippte.
»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Wir sind durchschnittlich drei mal in einem Jahr umgezogen. Manchmal sogar noch öfter. Die Gefahr war immer da. Und sie wird immer da sein. Egal wo ich bin.« Hannah nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und legte es auf die Küchenablage. Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von Julia. Sie ignorierte sie. Sie wollte jetzt nicht mit irgendjemand reden. Auch nicht mit ihrer besten Freundin. »Warum also, kann ich dann nicht genauso gut hier bleiben?«
Tom antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Er würde sie von hier wegbringen, ob mit oder ohne ihrer Zustimmung. Eigentlich musste er ihren Standpunkt sogar bewundern. Auch wenn er letztendlich nichts änderte. Nun, dass würde sie schon noch früh genug merken.
Statt ihr also weiterhin einen Vortrag darüber zu halten, in welcher Gefahr sie schwebte, stand er wieder auf. Der geplante Aufbruch würde erst morgen Vormittag stattfinden, bis dahin würde er sie schon zur Vernunft bringen. Es wäre vermutlich klüger, sie vorerst in Sicherheit zu wiegen. »In Ordnung.« erwiderte er daher und stand auf.
»Wie in Ordnung?«
»Na in Ordnung eben.« Tom ging Richtung Tür. Dann drehte er sich noch einmal um. »Wir werden morgen in Ruhe darüber sprechen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne duschen, bevor ich mich auf´s Ohr haue.« Als er bemerkte wie Hannah ihn verwirrt ansah, fügte er hinzu: »Ich bin zu deinem Schutz hier, also werde ich wohl auch hier schlafen. Und das steht nicht zur Diskussion.« Damit drehte er ihr den Rücken zu und marschierte aus dem Raum. Als die Tür hinter ihm zufiel konnte Hannah nichts anderes tun als fassungslos dazusitzen und sich zu fragen, warum um alles in der Welt ihr das Leben immer wieder aufs Neue solche Komplikationen bereitete.