- -
- 100%
- +
„Ich will im Sommer nach Wien, können Sie mir einige Sehenswürdigkeiten empfehlen?“
„Sie müssen mich unbedingt vorher anrufen, es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen Wien zu zeigen.“
Er gab ihr seine Karte mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse.
„Sind Sie Tänzer?“
„Ich bin in Wien in die Tanzschule gegangen, beim berühmten Elmayer.“
„Dann kommen Sie und zeigen Sie mir Ihre österreichischen Tanzkünste.“
Die beiden gingen in den Salon, er nahm sie in die Arme, und sie begannen sich zu den Rhythmen zu bewegen, natürlich mit gebührendem Abstand. Lukas hielt ihre warme und trockene Hand mit gleichmäßigem Druck und fühlte mit seiner anderen Hand durch das Seidenkleid ihren Körper. Ein angenehmes, unaufdringliches Parfüm umgab sie wie ein unsichtbarer Schleier. Er widerstand der Versuchung, einen engeren Kontakt herbeizuführen, obwohl er es gern getan hätte. Nach einigen Tänzen wurde sie ihm entrissen, und er ging zum Tisch zurück, um seine Stiefmutter aufzufordern.
Marie flüsterte ihm ins Ohr: „Ich bin heute unvorstellbar glücklich.“
Er scherzte: „Vielleicht bekomme ich noch einen kleinen Bruder.“
„Du Narr, ich bin schon fast fünfzig.“
Lukas tanzte noch mit anderen Frauen, trank mit Bekannten auf das Wohl des Brautpaars, und dann nahm ihn die Frau eines Freundes seines Vaters, der die Gesellschaft aus geschäftlichen Gründen früher verlassen hatte müssen, in Beschlag. Als er zu seinem Tisch zurückkehrte, saß seine schöne, arrogante Nachbarin immer noch dort, neben ihr ein älterer Herr. Er setzte sich dazu und trank einen Espresso. Als der Fremde aufstand und sich verabschiedete, drehte sich Lukas zu seiner Tischnachbarin und sah ihr in die Augen.
„Ich tanze nicht“, sagte sie unaufgefordert.
„Ich will nicht tanzen“, antwortete er.
Er wendete sich ihr zu, legte seine rechte Hand auf die Lehne ihres Stuhls, und mit seiner linken griff er unter dem Tisch auf ihr Knie. Ihre Augen weiteten sich erschrocken, aber anstelle der erwarteten Abwehr wurde sie zuerst blass und dann rot. Sie hielt den Atem an, um dann mit kurzen raschen Zügen weiterzuatmen. Niemand schien die beiden zu beachten. Er fuhr mit seiner Hand rasch die Innenseite ihres Oberschenkels hinauf und umfasste ihn fest, sie packte seine Hand, aber nicht, um sie zurückzustoßen, sondern um sie festzuhalten. Er begann, sie sanft zu streicheln. Sie blieb wie erstarrt sitzen, ihr Gesicht zeigte keine Arroganz mehr, sondern schien sich in Leidenschaft aufzulösen. Langsam zog er seine Hand zurück und nahm auch seinen Arm von der Sessellehne. Sie stieß den Sessel zurück, stand abrupt auf, und ohne ihn eines Blickes zu würdigen verließ sie den Saal. Niemand schien dieses Intermezzo bemerkt zu haben. Er wusste nicht, was ihn dazu getrieben hatte, sich so unentschuldbar zu benehmen. Es war wahrscheinlich ihre Überheblichkeit gewesen, die ihn herausgefordert hatte.
Er stand auf, wanderte herum, tanzte zwischendurch mit vielen Damen und musste immer wieder mit irgendwem anstoßen. Nach Mitternacht stieg er einigermaßen betrunken zu seinem Apartment hinauf. Zu seinem Erstaunen war die Zimmertür nicht verschlossen, im Vorraum brannte Licht. Er zog sein Jackett aus, ging in den Schlafraum und merkte an dem ihm unbekannten Duft eines Parfüms, dass er nicht allein war. Eine Frau war im Zimmer.
Seine elegante Tischnachbarin saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Fauteuil und sah ihn wütend an. Er setzte sich ihr gegenüber aufs Bett.
„Sind Sie noch nüchtern genug, um mich zu verstehen?“, fragte sie.
Er nickte.
„Ich erwarte von Ihnen eine Entschuldigung für Ihr unmögliches Verhalten.“
„Madame, Sie sind schön, arrogant und begehrenswert. Sie haben mich herausgefordert, es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders. Aber ich weiß, mein Benehmen war unmöglich. Ich entschuldige mich dafür.“
Sie stand auf und blickte auf ihn hinunter.
„Sie sind wie ein Tier, das seinen niedrigen Instinkten folgt. Mich in so eine Situation zu bringen! Wenn uns jemand gesehen hätte. Ich bin eine verheiratete Frau.“
Er stand ebenfalls auf. Sie standen sich gegenüber, ihre Augen funkelten ihn voll Empörung an. Er merkte, dass sie sich ihre Lippen nachgezogen hatte, dass ihr Haar sorgfältig frisiert und ihr Parfüm erst vor kurzer Zeit benützt worden war. Er spürte, sie war für ihn bereit. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sie in die Arme und küsste sie. Sie ließ es mit herunterhängenden Armen geschehen, ihr Mund war voll und weich, und sie öffnete ihn bereitwillig. Sie sanken auf das Bett, und ihre Körper pressten sich aneinander. Er öffnete die Verschlüsse ihres Seidenkleids am Rücken, und es glitt bis zu ihrer Hüfte. Mit einem Griff öffnete er ihren BH und nahm ihre Brüste in die Hand. Er saugte an ihren Brustwarzen, was sie zum Aufstöhnen brachte.
„Tun Sie das nicht, ich will das nicht, ich bin meinem Mann immer treu gewesen.“
Sie fasste seine Hand und hielt sie, während er mit seinem Daumen zärtlich ihre Nippel rieb.
„Nein, nein, ich darf das alles nicht tun.“
Er ließ von ihrem Busen ab und schälte sie aus dem Kleid. Nur schwach wehrte sie sich, was ihn ungeheuer erregte. Er nahm ihre Hand und führte sie zu seinem Glied, dann öffnete er seinen Gürtel und einige Knöpfe und ließ es von ihr berühren.
„Ich habe so etwas noch nie getan“, stöhnte sie.
Er sprach nicht, küsste sie, griff unter ihrem Slip an ihr Gesäß und fasste sie zwischen den Beinen.
„Bitte tun Sie das nicht, das ist eine Sünde.“
Sie hatte Lukas mit ihrem vorgeblichen Widerstand und ihrer unglaubwürdigen Gegenwehr so erregt, dass er beinahe die Kontrolle verlor. Als er in sie eindrang, tat er es mit einer solchen Heftigkeit, wie er es nie zuvor getan hatte.
„Sie töten mich, Sie sind so brutal“, rief sie.
Sie stöhnte immer lauter.
„Hören Sie auf, Sie tun mir weh“, schrie sie, während sie ihren ersten Orgasmus hatte. Er hielt kurz inne.
„Bitte weiter, weiter, hören Sie nicht auf.“
„Hören Sie auf, bitte weiter“, so ging es dahin. Durch den Alkohol, den er getrunken hatte, brauchte er länger, bis er zur Erfüllung kam. Sie aber hatte noch nicht genug, bewegte sich weiter, und als er von ihr glitt, blieb ihre Hand zwischen ihren Beinen und rieb ihr Geschlecht. Endlich hörte sie damit auf. Der Kampf, es war mehr ein Kampf als ein Liebesakt gewesen, hatte aufgehört, trunken und ermattet fiel er in die Kissen zurück und schlief ein.
Als er am nächsten Tag erwachte, war es zwölf Uhr mittags. Er war allein. Sein Zustand war ziemlich übel, aber er hatte zumindest keine Kopfschmerzen. In seinem Gehirn bestand eine gewisse Leere, die die Mediziner als retrograde Amnesie bezeichnen. Er versuchte, den Verlauf des Abends zu rekonstruieren. Er hatte getanzt und getrunken, aber mit wem? Er hatte doch etwas geträumt? War er allein ins Bett gegangen, oder doch nicht? Und wenn jemand da gewesen war ... Wer?
Er saß am Bettrand und dachte intensiv nach, da sah er neben sich im Bett ein kleines Seidengespinst liegen, einen Slip. Ein unwiderlegbarer Beweis, dass es kein Traum gewesen war. Er hob das zarte Gebilde in die Höhe und dachte nach. Die Gesichter der Frauen, mit denen er getanzt hatte, zogen an ihm vorbei. Die junge Bretonin konnte es nicht gewesen sein, aber da waren noch zwei andere, an die er sich erinnerte. Dann fiel ihm Catherine Deneuve ein. Ihre harten Nippel, die Raserei ...
Nach einer ausgiebigen heißen Dusche betrachtete er sich eingehend im Spiegel. Die Nacht hatte Spuren hinterlassen, die Kratzer auf seinem Rücken sprachen Bände.
Mit einer Sonnenbrille bewaffnet betrat er vorsichtig die sonnenüberflutete Terrasse des Hotels, auf der seine Eltern und etwa zwanzig andere Gäste einen Brunch einnahmen. Marie und seinem Vater gab er einen Kuss. Marie musterte ihn kritisch. Dann begrüßte er vage einige Leute, holte sich Kaffee, nahm sich ein Croissant und setzte sich allein an einen Tisch.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Die bretonische Jungfrau stand vor ihm, und wie er hatte sie einen Kaffee und ein Croissant in der Hand.
„Es ist mir ein Vergnügen, Madame.“ Er rückte ihr den Sessel zurecht.
Schweigend tunkte er sein Croissant in den Kaffee und blickte in den Park hinaus.
Nach einer Weile sagte Charlotte: „Sind Sie am Morgen immer so gesprächig?“
„Meistens bin ich am Morgen allein, und mit mir selbst spreche ich noch nicht.“
„Diese Einsamkeit muss furchtbar sein.“
Er blickte auf, sie saß mit einem unschuldigen Lächeln vor ihm, ihr frischer bretonischer Teint ließ sie heute eher wie einen Teenager denn als eine Aristokratin aussehen.
„Ich bin eben ein einsamer Wolf.“
„Gestern Abend hatte ich diesen Eindruck aber nicht. Sie scheinen Geselligkeit zu lieben, Sie gingen förmlich von einer Hand zur anderen. Sie schienen mir wie ein Fisch im Wasser zu sein. Ist das in Wien auch der Fall?“
Er stand auf, um sich einen zweiten Kaffee zu holen, trank stehend ein Glas Mineralwasser und kam zum Tisch zurück. Diese junge Dame setzte ihm zu.
„Bevor ich Ihnen auf Ihre kritischen Fragen über mein Privatleben eine Antwort geben kann, muss mein Kopf etwas klarer werden. Derzeit bin ich Ihnen noch nicht gewachsen.“
Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab.
„Diese Spitzentaschentücher, bekommt man die in Wien zu kaufen?“
Er griff nochmals in die Hosentasche und zog das Taschentuch wieder heraus. Entsetzt betrachtete er es, er hatte in seinem benommenen Zustand den spitzenbesetzten Slip eingesteckt, den er im Bett gefunden hatte. Er wurde rot, brachte kein Wort heraus.
„Also ich kann Sie beruhigen, mir gehört er nicht“, meinte sie begütigend. „Wir Bretoninnen tragen nur weiße Baumwollunterwäsche.“
Verzweifelt sagte er: „Ich habe keine Ahnung, wie er in mein Bett gekommen ist.“
„Dann haben Sie auch keine Erinnerung, was passiert ist und ob es überhaupt ein Vergnügen war?“
„Doch, ich erinnere mich, einen erotischen Traum gehabt zu haben.“
„Das ist doch wenigstens etwas. Also ich tippe auf die Dame, die dort im Schatten sitzt. Die macht ein so zufriedenes Gesicht. Der könnten Sie das Corpus Delicti anbieten.“
„Von der habe ich nicht geträumt.“
„Aber Sie haben mit ihr eng umschlungen getanzt.“
Zu seiner Erleichterung war Catherine Deneuve nicht auf der Terrasse zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich ihr gegenüber verhalten hätte sollen.
„Was machen Sie jetzt mit dem interessanten Taschentuch?“
„Ich behalte es als Souvenir.“
Der Kaffee schien seine Wirkung zu entfalten, sein Verstand begann wieder zu arbeiten.
„Ich wäre noch gern geblieben, vor allem, um Ihnen Rede und Antwort über mein Privatleben zu stehen, aber mein Flug geht heute am Nachmittag, und morgen sitze ich wieder im Streifenwagen und halte Verkehrssünder an.“
„Ich fahre heute noch nach Paris, wenn Sie vom Charles de Gaulle abfliegen, kann ich Sie vor der Oper absetzen, von dort können Sie den Bus nehmen ...“
„Womit verdiene ich so ein Angebot?“
„Mit gar nichts. Betrachten Sie es als Samariterdienst. Aber wir sind jetzt immerhin verwandt, Cousins, da Marie meine Tante ist. Und ich werde doch meinen Cousin mitnehmen. Abfahrt in zwei Stunden.“
Sie stand auf und verließ den Tisch, er tat desgleichen, setzte sich aber zu seinen Eltern, um noch ein wenig mit ihnen zu plaudern.
„Charlotte ist ein hübsches Mädchen, aber sie hat eine lose Zunge“, meinte Marie.
„Damit habe ich bereits Bekanntschaft gemacht. Hat sie einen Freund?“
„Was höre ich da, bist du an ihr interessiert? Frag sie doch selbst!“ Sie lächelte. „Von mir erfährst du nichts.“
Er verabschiedete sich von allen. Die Dame, die ihn in der Nacht besucht hatte, bekam er nicht zu Gesicht.
Um drei Uhr nachmittags fuhr Charlotte in einem kleinen Peugeot vor dem Hotel vor. Er stellte seinen Koffer auf den Rücksitz und nahm neben ihr Platz. Zu seiner Erleichterung fuhr sie gleichmäßig und angenehm, so blieb er während der Fahrt entspannt, und sie konnten sich unterhalten. Ihre Mutter war die Schwester von Marie und hatte tatsächlich einen Aristokraten geheiratet. Zunächst sprachen sie über die beiden Frischvermählten, dann erzählte er ein wenig von seinem Leben als Polizist.
Dann fragte er sie: „Wohnen Sie in einem richtigen Schloss?“
„Schloss ja, aber es ist nicht Amboise. Es ist eher ein Landhaus, aber es kostet uns mehr als genug.“
„Was studieren Sie?“
„Ich werde nächstes Jahr mit Medizin fertig.“
„Dazu sind Sie noch zu jung.“
„Ich bin vierundzwanzig.“
„Haben Ihre Eltern schon einen standesgemäßen Mann für Sie ausgesucht?“
„Sie sind gerade dabei, es zu tun, aber unter einem Herzog geht gar nichts.“
„Sie haben recht, wenn schon, denn schon. Was würden Ihre Eltern sagen, wenn Sie etwa einen Flic heiraten würden?“
„Ich habe nicht die Absicht, das zu tun. Das war aber jetzt nicht ein Heiratsantrag?“
„Nein, nein, nur ein rhetorische Frage.“
„Also, meine Eltern würden unter der Bedingung zustimmen, dass derjenige ein lieber, treuer Ehemann wäre, aufopfernd für mich sorgen und mich nie verlassen würde.“
„Sie Arme. Diesen Mann gibt es nicht mehr, dann werden Sie eine alte Jungfrau bleiben.“
„Alt werde ich sicher, aber Jungfrau bleibe ich nicht. Aber ich merke, Sie haben bereits wieder zu Ihrer Form zurückgefunden, der Kopf ist klar.“
Inzwischen hatten sie die Oper erreicht und sie hielt an. Er blieb kurz sitzen.
„Charlotte, vielen Dank, und wenn Sie nach Wien kommen, werde ich mich für Ihre Freundlichkeit revanchieren. Entschuldigen Sie, wenn ich etwas keck gesprochen habe. Es war für mich eine Freude und ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben. Ganz abgesehen davon, dass Sie mir als Frau gut gefallen.“
Sie hielt ihm ihre Wangen huldvoll zum Kuss hin. Er kam der Aufforderung dreimal nach, stieg aus, holte seinen Koffer vom Rücksitz. Sie fuhr mit quietschenden Reifen los, er winkte ihr etwas traurig nach und bestieg den Roissybus, der ihn zum Flughafen Charles de Gaulle brachte.
Die neue Dienststelle
Seine Arbeit begann er am Montag bereits in seiner neuen Dienststelle. Die Sonderkommission hatte ihren Standort im Landeskriminalamt. Er betrat ein großes Besprechungszimmer, in dem rund um einen langen Tisch ein Dutzend Personen saß. Alle blickten ihn erstaunt an.
Frau Gruppeninspektor Bauer nickte ihm zu und sagte: „Das ist unser neue Kollege, Lukas Bernard, er war es, der Kabakow zur Strecke gebracht hat. Bernard, setzen Sie sich, ich werde Sie nach der Besprechung jedem einzeln vorstellen.“
Er sah sich neugierig um. Im Raum befanden sich drei Frauen und neun Männer. Eine Kollegin war etwas massiv, die andere zart, beide um die dreißig; die Männer waren im Alter zwischen dreißig und fünfzig, alle Größen und Figuren waren vertreten, drei von ihnen wirkten sportlich und schienen gut trainiert zu sein. Das Zimmer war spartanisch und funktionell eingerichtet, an den Seitenwänden standen PCs, auf eine Leinwand wurden gerade Fotos projiziert. An einer Wand hing das Bild des Bundespräsidenten.
Lara Bauer erläuterte den Einsatzplan für die kommende Woche und die Aufgabeneinteilung. Als sie fertig war, stellte sie ihn allen einzeln vor. Die Händedrücke waren fest, bei einem der sportlichen Kollegen spürte er eine Handkante mit harten Schwielen. Ein Judoka, dachte er sich. Einige waren freundlich, zwei ältere mürrisch, alles in allem kein unfreundlicher Empfang. Lara ging mit ihm zu einem der älteren Kollegen.
„Kollege Nowotny wird Sie über unsere Arbeit aufklären, Sie haben eine Woche Zeit, um sich theoretisch einzuarbeiten.“
„Kumm, gemma“, sagte der Mann in breitem Wienerisch.
Lukas folgte ihm in ein kleineres Zimmer.
Der neue Kollege begann: „Zuerst einmal eine kurze Einführung über die Prostitution in Wien. Bei uns kann man in der ganzen Stadt Huren finden. Einen Straßenstrich haben wir am Gürtel und einen im Stuwerviertel, beim Prater. Daneben gibt es entlang des Gürtels und der angrenzenden Gebiete eine Häufung von Puffs. Das Gleiche gilt für das Stuwerviertel. Insgesamt sind es etwa dreihundert. Und dazu in fast jeder größeren Straße irgendeine Art von Sexshop, Laufhaus, Swingerclub oder Animierbar. Die einheimische Bevölkerung nimmt das aber kaum wahr. Wir haben ungefähr dreitausend registrierte Prostituierte, die Abgaben zahlen, ärztlich kontrolliert werden und laut Gesetz für ihre Leistung Recht auf Entlohnung haben. Tatsächlich dürften aber acht- bis zehntausend Frauen und Männer in der Branche arbeiten. Dazu kommt der Sex-Tagestourismus, das heißt junge Mädchen und Frauen, die aus der Slowakei und Tschechien kommen, keine Zuhälter haben und von uns auch nicht kontrolliert werden. Sie verdienen in einer Nacht mehr als in ihrer Heimat als Friseurin oder Krankenschwester in einem Monat. Sie führen ein riskantes Leben, weil sie als unlautere Konkurrenz betrachtet werden. Fünfundneunzig Prozent aller Huren kommen aus dem Ausland, sie sind illegal und legal da, manche haben Arbeitsbewilligungen, zum Beispiel als Tänzerin oder Kellnerin, manche nicht. Die meisten arbeiten für Zuhälter oder, wie es jetzt immer öfter der Fall ist, für Organisationen. Momentan haben wir eine neue Situation, denn im Stuwerviertel, wo es schon seit ewigen Zeiten einen Strich gibt, greift die Polizei plötzlich durch. Und zwar wegen der neuen Wirtschaftsuniversität, weil in der Gegend jetzt Häuser saniert werden, in denen Zwei-Zimmer-Eigentumswohnungen um dreihunderttausend Euro angeboten werden. Die Politik will die Prostitution dort hinausekeln. Das heißt häufige Kontrollen, Einbahnregelungen, die es den Freiern schwerer machen, mit dem Auto auf Aufriss zu gehen. Was dabei herausschauen soll, weiß ich nicht. Das ist aber alles nicht unsere Aufgabe. Vor der Ostöffnung war die Situation einfacher, wir hatten eine gute Kommunikation mit allen Beteiligten. Aber heute ist alles anders. Die einheimische Prostitution wurde fast ganz von mafiösen Organisationen verdrängt, die ihre eigenen Mädchen mitbringen. Zum Beispiel hatten wir auch eine Zeit lang viele Nigerianerinnen im Geschäft.
Die SOKO wurde eingesetzt, weil derzeit, um es in der Sprache der Wirtschaft zu sagen, eine unfreundliche Übernahme erfolgt. Ein mächtiger Konzern, der den ganzen Markt übernehmen will. Nicht nur Prostitution, sondern auch Menschen- und Rauschgifthandel. Mit Sitz im Osten, wir vermuten in Moskau. Kleinere Bordelle werden angezündet, Zuhälter und Frauen verprügelt oder sogar erschossen. Die, die übrig bleiben, arbeiten jetzt nur mehr für diese große Organisation, zahlen vermutlich Schutzgeld. Für frische Ware ist immer gesorgt – durch Agenten, die in den russischen und ukrainischen Provinzen und auch in den neuen EU-Ländern ständig auf der Suche nach jungen Mädchen sind, die mit falschen Versprechungen in den Westen gelockt werden. Dabei helfen ihnen nicht selten lokale Polizisten, die von ihnen bestochen werden. Den Mädchen wird Arbeit versprochen – als Model oder als Tänzerin. Aber sie enden in den westlichen Bordellen. Es spielen sich unzählige Dramen ab. Wien ist für viele nur eine Zwischenstation, von hier aus gehen sie weiter, in die Schweiz, nach Frankreich und Deutschland. Die Kundschaft will Abwechslung, und so wandern sie von einem Etablissement zum anderen. Wir arbeiten auch mit den russischen Behörden zusammen, denn auch im Lande Putins will man nicht, dass gerade ihre hübschesten Mädchen bei uns als Prostituierte enden.
Kabakow, den du angeschossen hast, war eine Schlüsselfigur. Wie du vielleicht weißt, suchte er wegen politischer Verfolgung durch Russland um Asyl an, weil er Tschetschene ist. Schon während sein Ansuchen lief, begann er, Wien unsicher zu machen. Er war überaus gefürchtet und verhasst, schlug Zuhälter zusammen und verprügelte Mädchen. Er ist ein Sadist. Irgendjemand muss ihn protegieren, denn sein Asylantrag ist noch immer nicht abgelehnt. Es hat lange gedauert, bis wir ihm endlich etwas nachweisen konnten. Seine DNA wurde an einem erschossenen Zuhälter festgestellt. Aber er hat irgendwie davon erfahren und ist untergetaucht. Mehrere Versuche, ihn zu erwischen, misslangen. Anscheinend wurde er immer vorher gewarnt, bis wir den Tipp mit der Parksauna bekamen. Den Rest der Geschichte kennst du.“
„Haben Sie irgendwelche Unterlagen zu dem Ganzen, ich möchte nicht dauernd blöde Fragen stellen.“
„Hier hast du einen Ordner mit Zeitungsausschnitten und eine Mappe mit den Zielen unseres Kommandos. Und da ist noch das neue Gesetz für Prostitution in Wien. Lies das alles einmal durch.“
Für den Rest des Tages saß Lukas an seinem Schreibtisch und studierte die Dokumente. Da er bis zum Abend nicht fertig wurde, nahm er sie mit nach Hause.
Schon am dritten Arbeitstag hatte Lara Bauer eine Aufgabe für ihn. Sie fuhren mit einem Privatauto nach Hernals.
„Eins musst du noch wissen, bevor du mit deiner Arbeit beginnst. Ein Kriminalpolizist verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, zu beobachten und abzuwarten. Die Aktionen, die folgen, sind meist kurz und oft gewaltsam. Das meiste finden wir heute über die vernetzten Datenbanken der Polizei und über das Internet heraus. Es ist erstaunlich, wie viele Informationen von großen Organisationen im Netz zu finden sind und wie durch den Abgleich der Daten Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können. Aber in den nächsten Wochen wird es für dich langweilig werden. Du wirst deine Dienstzeit in einer Wohnung verbringen, durch deren Fenster du ein neues Sauna-Bordell beobachten wirst und die Besucher fotografieren sollst.“
Sie waren in einer Straße angekommen, in der vier- und fünfstöckige Häuser standen, mit schmucklosen Fassaden aus der Nachkriegszeit. In einem der Gebäude stiegen sie in den vierten Stock. Lara läutete dreimal kurz, einmal lang. Die Tür öffnete sich, und ein Kollege, den er vom Sehen kannte, ließ sie hinein. Aus einem der Fenster der Dachwohnung konnte man den ganzen Hof und die Rückseite eines neuen Gebäudes überblicken.
„Das da unten ist ein Freudenhaus, das von einem Architekten geplant wurde. Perfekter Standort, gleich um die Ecke eine U-Bahn-Station. Bei der Einreichung des Plans wurde es als Sauna bewilligt, aber sofort nach der Fertigstellung wurde eine Umwidmung in ein Bordell beantragt. Alle Vorschriften wurden eingehalten, nichts kann dagegen unternommen werden. Nach außen hin verläuft alles ruhig, keine Schwierigkeiten. Aber du kannst dir vorstellen, dass die Anrainer dagegen protestieren. Wir sind aber nicht deshalb hier, sondern weil wir glauben, dass hinter den Eigentümern, einem Herrn Eisendle und einem Herrn Gruber, unser Syndikat steckt. Es könnten dieselben Leute sein, denen die Parksauna gehört, die übrigens trotz unserer Razzia floriert. Also wollen wir wissen, was hier vor sich geht. Zuerst haben wir eine Zeit lang den Haupteingang vorne überwacht, haben dann aber aufgehört, weil wir bemerkt wurden. Man hat sich über uns an höherer Stelle wegen Geschäftsstörung beschwert. Jetzt beobachten wir die Rückseite, was sicher auch effektiver ist, weil die wichtigen Leute mit ihren Autos im Hof parken und die Hintertür benützen. Diese Wohnung hier stand leer, und wir haben sie gemietet.“
In dem Geviert, das die Häuser bildeten, lagen Höfe und hübsche Gärten. Das Grundstück des Bordells war durch eine hohe Mauer von ihnen abgegrenzt. Lukas nahm ein beim Fenster liegendes Fernglas in die Hand und sah sich das Gebäude genauer an.
„Das Ganze ist videoüberwacht, und es gibt Bewegungsmelder. Es ist unmöglich, unbemerkt über die Mauer zu kommen.“
„Wissen wir, deshalb beobachten und fotografieren wir. Das Okay vom Staatsanwalt haben wir, aber wir müssen die Bilder nach der Auswertung sofort löschen. Nur verdächtige Personen dürfen gespeichert werden. Du fängst gleich jetzt an, der Kollege wird dir alles erklären. Am Abend wirst du abgelöst.“
Lara verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß. Der Kollege erklärte ihm die Funktionen der Kamera, die fix auf einem Stativ montiert war, und zeigte ihm das Protokoll, das er führen musste. Als er ihn verließ, war er sichtlich erleichtert, der Dienst hier schien nicht beliebt zu sein.
Nun war er allein in der Wohnung. Er ging durch die leeren Räume, nur im Aufenthaltsraum standen zwei Sessel und eine durchgelegene Couch. In der Küche ein Kühlschrank, ein Tisch mit zwei Sesseln, auf der Spüle einige Gläser. Er trank ein Glas Wasser, nachdem er es längere Zeit rinnen hatte lassen. Dann setzte er sich zum Fenster und blickte auf das Objekt hinunter. Es war Vormittag, heiß, die Außentemperatur lag um die dreißig Grad, alles war ruhig. Lange Zeit geschah nichts, dann fuhr ein Wagen in den Hof, ein Mann stieg aus, drückte auf eine Klingel und betrat das Bordell. Fast hätte Lukas es versäumt, ein Foto zu machen, er erwischte ihn nur von hinten. Er blickte auf die Uhr, es war eins. Sein Magen rührte sich, in der Früh hatte er nur einen Kaffee getrunken. Durfte er sich eine Pizza bestellen? Er suchte gerade in seinem iPhone nach der Adresse einer Pizzeria, als es dreimal kurz und einmal lang klingelte. Er spähte durch das Guckloch. Es war seine Chefin, sie hatte eine Plastiktragetasche in der Hand.