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Als Juna im November demonstrativ seine Haustür verschloss und den Schlüssel versteckte, weil sie in den Nachrichten vom Wintereinbruch in den Bergen gehört hatte, gab er auf. In den langen Nächten wünschte er sich nur noch eines: Dass Alice gefunden werde, tot oder lebendig. Die unerträgliche Ungewissheit musste ein Ende haben.
Irgendwann hörte er auf, den Briefkasten zu leeren und die Rechnungen zu bezahlen. Das Telefon in der Eingangshalle ist seither nur noch ein Requisit.
Die Pflanzen in Jonas’ Garten sind in alle Himmelsrichtungen gewachsen. Etnas Hände, verpackt in Gartenhandschuhe, suchen schon lange nicht mehr nach Unkraut und kranken Pflanzen. So kann in seinem Garten wachsen, was wachsen will. Nur selten betritt er den Garten. Lieber beobachtet er durch die Fenster, wie er grünt, wächst und wuchert. Eigentlich ist mein neuer Garten kein Durcheinander, denkt Jonas.
Er beschliesst, seinen Garten Dschungel zu nennen.
11
Alice sass im Zug. Sie konnte sich nicht freuen, aber auch nicht weinen. Es kam ihr nicht wie ein Abschied vor, denn bei einem Abschied erhofft man sich ein Wiedersehen, sie aber wollte nur in eine Richtung fahren. Es konnte ihr nicht schnell genug gehen. Alice drückte die Stirn gegen das Fenster und blickte zurück auf den Bahnsteig, als der Zug mit einem Ruck losfuhr. War ihr Jonas gefolgt? Ihr Herz klopfte, und sie spürte, dass ihr T-Shirt unter der Jacke durchnässt war. Auf dem Bahnsteig sass nur ein Hund, der seine Schnauze in die Luft hielt, als warte er auf einen ganz bestimmten Geruch. Wäre Jonas ihr gefolgt, wenn er etwas geahnt hätte? Bis jetzt war es Alice nicht wirklich bewusst gewesen: Sie befand sich auf der Flucht. Sie bewegte sich mit jedem Meter, den der Zug zurücklegte, weg von den Menschen und dem Ort, der jahrelang ihr Zuhause gewesen war. Immer weiter in die Namenlosigkeit. Noch zweimal umsteigen, dann würde sie auch das Land verlassen haben.
Die Landschaft zog am Zugfenster vorbei. Etna und das Kind musste sie zurücklassen. Etna würde es vielleicht verstehen. Alice wollte ihr schreiben, sobald sie sich eingelebt hatte. Sie würde sie um Verzeihung bitten, dass sie sich in all den Jahren nicht um sie kümmern konnte. Ihr vorschlagen, jetzt, sofern es möglich war, noch einmal Teenager zu sein. Vielleicht war das ja einfacher für sie ohne die Mutter.
Alice sah den Moment vor sich. Sie drückte Etna in der Eingangshalle an sich. Lehnte ihren Kopf an Etnas Schultern. Schloss kurz die Augen. Atmete den Duft ihrer Haare ein. Verabschiedete sich innerlich. Löste sich dann wieder von ihr. Etna durfte nicht bemerken, dass es ein ungewöhnlicher Abschied war.
12
Seit Etna ausgezogen ist, hat sie sich jeden Donnerstag um das Haus ihrer Eltern herumgedrückt. Manchmal sieht Jonas, wie sie aus ihrem schwarzen Auto steigt. Meist lässt sie den Motor kurz aufheulen und fährt sofort wieder davon. Steigt Etna aus dem Auto, ist sie in ihrem schwarzen Kostüm und mit den dunklen Haaren kaum von der Karosserie zu unterscheiden. Einzig ihre Fingernägel leuchten rot. Manchmal springt ihr wurstförmiger Hund aus dem Auto. Er schnüffelt in den Büschen, dann markiert er sie.
Nie blickt Etna zum Fenster hoch, an dem ihr Vater steht. Sie will nicht nach ihrem Vater sehen. Sie sieht nach dem Haus, das ihre Mutter Alice ihr überschrieben hat. Trotzdem glaubt Jonas, in ihrem Gesicht Traurigkeit zu erkennen. Er ist sich sicher, dass sie nachts weint. Bei ihren Besuchen wirft sie Zettel mit der immer gleichen Botschaft über das Gebüsch in den Garten. Auf den Zetteln steht, wie viele Tage ihm bleiben, bis sie das Haus abreissen lässt. Jonas sammelt die Zettel und hängt sie mit Wäscheklammern an einer Schnur auf, die er durch sein Schlafzimmer gespannt hat. Kommt Wind auf, öffnet er das Fenster, legt sich auf sein Bett und schliesst die Augen. Das Rascheln der Blätter klingt wie das Flüstern von Etna.
Seit ein paar Wochen tigert Etna fast täglich um das Grundstück herum. Das Aufheulen des Automotors ist in Jonas’ Ohren der Schrei eines angeschossenen Tiers.
13
Der Kapitän der Fähre hupte ein Motorboot an, das knapp neben dem Bug der Fähre vorbeiglitt, um von den grossen Wellen zu profitieren. Wegen den Sonnenbrillen sahen die Gesichter der Passagiere klein aus. Alice hatte sich auch eine gekauft, möglichst gross sollte sie sein. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, nicht aufzufallen. Sie wollte nicht, dass jemand in ihrem Gesicht das Zimmer erkennen konnte, in dem jahrelang die Zeit stehen geblieben war.
Ein junger Mann mit seidiger Haut und weissen Zähnen hatte ihr die Brille verkauft. Ein Händler, der auf dem Holzsteg im Hafen Sonnenbrillen, Taschen und Schmuck auf einem farbigen Tuch anbot. Er lächelte sie an und nickte aufmunternd, als sie nach einer Sonnenbrille griff. Seine Augen erinnerten Alice an Jonas, an seinen verlorenen Blick. Möglicherweise war der Verkäufer mit einem Schiff übers Meer gekommen und die Brillen, Taschen und der Schmuck sollten eine grosse Familie ernähren. Hatte sie ihn die ganze Zeit angestarrt? Beschämt schaute sie auf den Boden. Zum Glück sass eine der Sonnenbrillen auf ihrer Nase. Sie drückte dem Mann einen Geldschein in die Hand und wartete nicht auf das Rückgeld.
14
Der Fuchs schlüpft zwischen der Brombeerhecke und dem Gartenhaus hindurch. Jonas hält den Atem an. Der Fuchs fährt mit der Schnauze über den Boden. Was sucht er? Sein Fell ist struppig. Seine Beine sind kürzer als in Jonas’ Vorstellung. Der Schwanz ist buschig und endet in einer weissen Spitze. Auch am Hals und an der Innenseite der Läufe ist das Fell weiss. Jonas denkt: Der Fuchs hat sich verziert. Und er denkt an sein ergrautes Haar, das immer schütterer wird, ihn aber nicht verziert. Er sieht nur noch selten in den Spiegel. Beim Zähneputzen oder Händewaschen ist er ein Schatten.
Jeden Montag, bevor seine Nichte Juna vorbeikommt, wagt er einen Blick und denkt: Verlottert! Bald sehe ich so heruntergekommen aus wie das Haus. Wenn im August die Bagger auffahren und eine Mauer nach der anderen krachend zu Boden geht, will ich nicht mehr hier sein.
Jonas kämmt und rasiert sich. Tupft sich für Juna sogar ein paar Tropfen Rasierwasser auf Wangen und Hals. Jonas will vor ihr den Schein wahren. Er will nicht anders sein, als sie ihn kennt. Auch Juna legt grossen Wert darauf, dass Jonas gepflegt aussieht. Jonas ist sich nicht sicher, ob es ihr wirklich wichtig ist, oder ob sie nur versucht, ihn nach Pauls Vorstellung herzurichten: Jonas abzustauben und instandzuhalten. Er kommt sich vor wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. Jedenfalls hat Juna am letzten Montag des Monats immer ihre Coiffeurschere dabei. Auch heute führt sie ihn nach dem gemeinsamen Kaffee ins Badezimmer. Sie stellt sich wie immer ans Fenster und schaut in den Garten hinaus, während er sich bis auf die Unterhose auszieht und in die Badewanne setzt. Dann befeuchtet sie seine Haare mit dem Handsprüher. Jonas ist für einen Augenblick eingehüllt in eine feuchte, kühle Wolke.
Juna kämmt ihm zuerst die Haare, obwohl Jonas nicht weiss, was es auf seinem Kopf noch zu kämmen gibt. Aber je länger Juna seine Kopfhaut mit dem Kamm streichelt, desto stärker ist das Gefühl, dass er noch jede Menge Haare habe.
Dann greift Juna feierlich nach ihrer Schere, und Jonas fühlt sich wohl. Es stört ihn nicht, dass sie ihn zurechtstutzen will. Er denkt nicht an Paul und dessen Vorstellung von Ordnung. Juna widmet sich ihm ganz allein. Er versucht, sich in der Badewanne aufrechter hinzusetzen und den Kopf ruhig zu halten. Juna beginnt zu schneiden. Oder ist es Hanna? Jonas schliesst die Augen, er will glauben, dass sie es ist. Er sieht die langen, blonden Haare. Ihren konzentrierten Blick. Sie schneidet und kämmt abwechslungsweise. Immer wieder dreht sie sein Gesicht zu sich, indem sie ihn leicht am Kinn berührt. Er spürte Hannas Berührung. Sie weist ihn an, sie anzuschauen.
15
Die kleineren Schiffe schaukelten leicht im Hafen, zwei Fischer rollten ihre Netze zusammen. Alice stand an Deck, sie lehnte sich gegen die Reling, ihre Stoffhose flatterte im Wind. Tief atmete sie die warme, salzige Luft ein. Der Geruch von Diesel hatte sich darunter gemischt. Alice störte das nicht, denn die Gerüche waren Zeichen für sie. Zeichen, die ihr signalisierten, dass sie ihrem Ziel näher kam. Das Gelächter der anderen Passagiere nahm sie kaum wahr. Die Geräusche erinnerten sie an ein Lied. Die Fähre fuhr schneller, das Vibrieren unter ihren Füssen wurde stärker, ihr Körper wurde davon erfasst. Wie in Trance war sie auf ihrer Reise gewesen. Erst jetzt hatte sie das Gefühl, langsam zu erwachen, zu begreifen, dass sie es tatsächlich getan hatte.
16
Jonas öffnet die Augen. Juna tritt einen Schritt zurück. Die Art, wie sie ihm die Haare schneidet, erinnert ihn daran, wie er früher unter dem kritischen Blick seines Lehrmeisters Pläne von Möbeln gezeichnet hat. Nachdem er die Arbeit in der Metzgerei aufgegeben hatte, fand er rasch eine Lehrstelle in einer Schreinerei. Zwar träumte er davon, eines Tages Architekt zu werden, aber er mochte den Geruch des Holzes, die Arbeit mit den Händen, das Anfertigen von Skizzen und Plänen. Und das lange Schweigen seines Lehrmeisters.
Jonas denkt: Juna schneidet mit einer Leichtigkeit, als würde sie mich skizzieren.
Bevor Juna ihm den Handspiegel reicht, wischt sie ihm mit einem Handtuch über Gesicht und Nacken. Auf diese Weise geordnet und gepflegt, hat er das Gefühl, sein Bruder Paul schaue ihm aus dem Spiegel entgegen. Obwohl er ihn in den letzten Jahren kaum gesehen hat.
Letzten Herbst schien Jonas auf dem Friedhof sein Spiegelbild entgegenzukommen. Sein Spiegelbild mit glänzenden Schuhen. Sein Spiegelbild mit dichterem Haar, gründlicher Rasur und gestutzten Augenbrauen. Paul liebte noch immer den grossen Auftritt. Vielleicht hatte er die Brauen sogar gekämmt und gegelt: Sie thronten regelrecht über seinen Augen. Sein Blick war nur wegen dieser Brauen stechend, da war sich Jonas sicher. Paul war schwammig und hatte einen wässrigen Blick. So, als ob er jederzeit in Tränen ausbrechen könnte. Das hatte ihm als Kind Mitgefühl und Milde von den Erwachsenen eingebracht.
Jonas erinnert sich, dass Paul von Anfang an ein weinerliches Kind gewesen ist. Die Mutter versuchte ihn mit viel Aufmerksamkeit, Nähe und Nahrung zu trösten. Sie hörte nicht auf, ihm die Brust zu geben. Auch als Paul Zähne wuchsen, legte sie sich zu ihm ins Bett und gab ihm die Brust, bis er einschlief.
Jonas, der mit Paul das Zimmer teilte, beobachtete sie von seinem Bett aus. Er sah die Nähe zwischen den beiden, fühlte sich leer und wollte diese Leere mit Musik füllen. Also begann er zu singen und zu pfeifen. Er erfand Lieder, deren Melodien er gleich wieder vergass.
Die Mutter schwieg, und Paul schlief trotzdem immer ein. Manchmal schlief auch die Mutter ein.
Als Paul in die Schule kam, wollte er nicht mehr an der Brust der Mutter nuckeln. Abends war er müde und schlief auf dem Sofa ein. Er ging gerne zur Schule und hüpfte vor Vorfreude bereits am Sonntagabend durch die Wohnung. Jonas’ Mutter begann, Pauls Lieblingsgerichte zu kochen, wenn er von der Schule nach Hause kam. Jonas wusste, dass Paul gerne zur Schule ging, weil er in seine Lehrerin vernarrt war.
Dieses Bild, Paul an der Brust seiner Mutter, sah Jonas im vergangenen Herbst auf dem Friedhof wieder vor sich, als sein Bruder vor ihm stand. Er hatte das seltsame Gefühl, ihn gleichzeitig beschützen und von sich wegstossen zu wollen. Paul streckte ihm die Hand entgegen und nickte ihm zu. Jonas, der sich vor der Begegnung gefürchtet hatte, war überrascht, wie knochig und kalt sich die Hand anfühlte. Er suchte in Pauls Gesicht nach dem kleinen Bruder, der er einmal gewesen war. Aber er sah nur ein Gesicht, welches ihn an eine von Wasser gezeichnete Landschaft erinnerte. Und die Hand in seiner Hand wurde zu einem Lammrack. Er sah es neben anderen Fleischstücken in der Theke der Metzgerei liegen. Angewidert zog Jonas seine Hand zurück. Paul schaute ihn erschrocken an, als wäre etwas auf dem Fussboden zerschellt.
Der Nebel zwischen den Tannen des Friedhofs löste sich langsam auf. Die Sonne blendete Jonas, und er schwitzte unter seinem Jackett. Er wünschte sich, dass es anfing zu regnen. Ohne Alice fühlte sich Jonas verloren. Seit sie verheiratet waren, war er noch nie ohne sie zu einer Beerdigung gegangen. Sogar an Hannas offenem Grab hatte sie neben ihm gestanden.
Jonas sah sich nach Juna und Etna um. Von Weitem sah er Juna neben seiner Mutter stehen, die auf einem Stuhl am offenen Grab sass. Seine Mutter war in sich zusammengesunken und sah noch kleiner aus als sonst. Seit Alice’ Verschwinden hatte er seine Eltern nicht mehr im Altersheim besucht. Juna stand neben ihr, als wäre sie eine Kundin in ihrem Friseursalon. Eine Hand hatte sie ihr auf die Schulter gelegt. Sie schien ihr etwas zu erzählen, blickte dabei in die Ferne und lächelte. So ist sie. Juna, die sich um alles kümmert. Sogar am Grab ihres Grossvaters schien sie die Sorge um andere Menschen mehr zu bewegen als der Verlust eines Familienmitgliedes. Nur Etna war nicht gekommen.
Immer mehr Menschen strömten auf den Friedhof. Eine Schlange aus dunklen Stoffen bewegte sich auf das Grab zu. Jonas konnte sich nicht rühren, aus seinen Beinen war jede Muskelkraft gewichen, sie waren bleischwer. Automatisch nahm er die Hände, die ihm entgegengestreckt wurden, und nickte den Gesichtern zu. Diesen weissen Flächen, die sich über den schwarzen Stoffen hin- und herbewegten. Jonas blinzelte, aber die Gesichter blieben Flächen, ohne wiedererkennbare Strukturen. Niemand fragte nach Alice. Für alle anderen schien sie nicht mehr zu existieren. Später stolperte Jonas der Schlange hinterher und erreichte sie, als sie bereits einen Kreis um das Grab seines Vaters gebildet hatte. Dicht an dicht standen die Menschen, Jonas fand keinen Platz für sich. Er konnte kaum atmen, konnte nicht ruhig stehen. Der Pfarrer sprach von seinem Vater oder dem heiligen Vater im Himmel, das wusste Jonas nicht genau. Wie man einen Metzgermeister und Gott im gleichen Satz erwähnen konnte, war ihm ein Rätsel. Sein Vater war kein gläubiger Mensch gewesen. Am Sonntag ging er lieber in die Metzgerei hinunter als in die Kirche. Nicht, um zu arbeiten, sondern um auf einem Stuhl zu sitzen und Radio zu hören.
Jonas lief um den Kreis der Trauergemeinde herum und stellte sich vor, er sei die Zeigerspitze einer Uhr. Die Worte des Pfarrers wurden zu einem Gemurmel, das vom rhythmischen Schnäuzen und Schniefen der Menge getragen wurde.
Der Pfarrer schwieg. Taschentücher und Blumen wurden hin- und hergereicht. Die Schlange bewegte sich in Richtung Ausgang. Nur Juna und Jonas’ Mutter, die immer noch auf dem Stuhl sass, blieben zurück.
Jonas ging zu seiner Mutter, die noch immer mit starrem Blick vor dem Grab seines Vaters sass. Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wangen. An seinen Lippen blieb die Feuchtigkeit ihrer Tränen hängen.
Er wollte etwas Tröstendes zu ihr sagen. Aber welche Worte konnten seine Mutter erreichen? Immer mehr hatte sie sich in den letzten Jahren in sich zurückgezogen. Ihr Körper schrumpfte in sich hinein. Falten bildeten sich, als wollten sie etwas verbergen. Die Lippen waren nun immer gekräuselt. Die Augen zogen sich in ihre Höhlen zurück. Nur ihre Haare wurden weder lichter noch weisser. Jeder nahm an, sie färbe sie heimlich. Die langen braunen Haare überdeckten demnächst den ganzen Körper, als wären sie ihr Kleid.
Seine Mutter war schon lange eine alte Frau. Auf dem Stuhl am Grab seines Vaters wurde sie für Jonas zu einer Greisin. Jonas fand keine Worte für sie. Er sah ihr in die Augen. Er suchte ihren Blick. Sie war so fern. Wusste sie, wo sie war? Wusste sie, was geschehen war? Wusste sie, wer er war? Jonas drückte seine Nase gegen die ihre. Für einen Augenblick war er wieder Kind. Seine Mutter lächelte und nieste ihm ins Gesicht.
Juna reichte ihm ein Taschentuch. Jonas legte den Kopf in den Nacken und das Taschentuch aufs Gesicht. Er begann zu lachen. Er wusste, jetzt zu lachen, war falsch. Aber das Lachen gurgelte in seinem Hals. Er lachte lauter. Das Taschentuch flatterte von seinem Gesicht, segelte auf den Boden. Er krümmte sich, hielt sich den Bauch. Sein Körper wurde durchgeschüttelt vom Lachen, das unaufhaltsam aus ihm heraus schall. Als ob eine andere Person aus ihm heraus lachte. Und je mehr er versuchte, dies zu verhindern, desto lauter wurde er. Juna versuchte, ihn zu umarmen. Er wehrte sich, schob sie von sich weg. Sie zog ihn an sich, und er wurde ruhig.
17
Der Horizont erstreckte sich so weit, dass der Anblick Alice schwindeln liess. Eine Möwe flog gegen den Wind. Mit ruhigen Flügelschlägen. Zwei andere Möwen folgten dem Schiff. Alice beobachtete, wie sie kreisend und kreischend über dem Hinterdeck schwebten. In der Ferne sah sie einen der Vulkane. Ein aschgrauer Hügel. Darüber stand eine Wolkensäule. Sie schien sich nicht zu bewegen. Windstill musste es dort sein.
18
Der Fuchs verfolgt eine Spur, bewegt sich flink und gierig. Er läuft im Zickzack in Richtung Gartenhaus. Jonas wagt kaum, den Kopf zu bewegen, zu blinzeln. Aber er will sehen, was sein Besucher macht. Oder ist der Fuchs hier womöglich heimischer als er? Der Fuchs lässt sich von seiner Schnauze führen. Es sieht aus wie ein Tanz. Er geht am Gartenhaus vorbei weiter zu den Tannen. Er findet den alten Komposthaufen. Rasch klettert er hinauf und beginnt zu scharren. Er scharrt und schmatzt. Jonas fragt sich, was es dort zu fressen gibt. Seit Jahren hat er nichts mehr auf den Komposthaufen geworfen. Alles Essbare sollte schon längst zu Erde geworden sein. Erst jetzt sieht Jonas, dass der Fuchs dünn ist. Richtiggehend abgemagert wirkt er. Und während er mit einer Pfote im Kompost scharrt, droht er seitlich umzukippen, so zittrig steht er auf seinen dünnen Beinen. Jonas denkt an den letzten Winter, der kälter und länger als üblich gewesen ist. Das ist ihm nicht aufgefallen, aber Juna hat es während ihren Besuchen erwähnt. Die Eiskristalle an den Fenstern hat er nicht als Zeichen dafür betrachtet.
Der Fuchs beisst sich an etwas fest. Er hält es mit beiden Pfoten. Er beisst es durch. Es fällt auseinander. Jonas hört ein Knacken, als wäre es in seinem Kopf.
19
Alice beugte sich über die Reling. Beobachtete, wie sich die Wellen schäumend am Bug des Schiffes brachen. Möwen jagten dicht über der weissen Gischt dahin. So einfach war es gewesen: In den Zug steigen und sich wegbringen lassen. Als Alice noch auf dem Balkon stand, hatte sie es sich schwieriger ausgemalt. Zu gehen war eigentlich nur ein Beschluss. Alles andere konnte sie dem Lokführer, dem Chauffeur und jetzt dem Kapitän überlassen. Aber der Entschluss hatte sie viel Kraft gekostet. Und den Weg, den sie Flucht nannte, musste sie alleine gehen. Sah man ihr an, dass sie kein Rückfahrtticket hatte? Im Zugfenster suchte sie nach ihrem Spiegelbild, fuhr sich durchs Haar, strich mit beiden Zeigefingern unter den Wimpern hindurch. Die Tusche bröckelte. Sah sie verzweifelt aus? Erleichtert? Den anderen Passagieren schien das egal zu sein. Alice war dankbar, dass sie niemanden kannte, dass sie keinem die Lüge von der Wanderung erzählen musste, dass keine mitleidigen Blicke mehr auf ihr ruhten. Die Blicke hatten sich in ihr eingebrannt, unter ihnen hatte sie sich krank gefühlt, sich selbst leidgetan. Hatte sie sich immer wieder gefragt: Wo ist in diesem Mitleid die Hoffnung?
Einige Menschen wären wohl erstaunt, wenn sie wüssten, dass nicht Gott ihr geholfen hatte. Den Glauben hatte sie schon längst verloren. Sie hatte sich nur immer darüber ausgeschwiegen, zu den vielen Ratschlägen genickt und dankbar gelächelt. Nicht einmal in ihrer schlimmsten Zeit hatte sie das Wort an Gott gerichtet, kein einziges Mal. Gott hatte sie am Tag, als er ihr Kind sterben liess, enttäuscht. Gäbe es einen Gott, davon war sie überzeugt, hätte er das Kind aufgehalten, das Eis dicker gemacht. Das Kind gar nicht erst auf die Idee kommen lassen, das Eis zu betreten.
Froh war Alice, dass sie dem Fluss endlich entfliehen konnte. Dem Wasser, das so unschuldig zwischen den Brückenpfeilern hindurchströmte. Es trug Schiffe, rauschte und war grün, wenn es regnete. Es bewegte sich vorwärts, schlängelte sich wie ein Kriechtier. Es wurde bewundert für seine Schönheit, seine rasch wechselnden Farben, für seine Kraft. Niemand schien zu bemerken, dass dieser Fluss ein Mörder war. Hinterlistig hatte er das Kind verschluckt. Das Maul kaschiert mit einer Eisdecke. Hatte das Kind angelockt mit verschnörkelten Spuren, die an Ornamente erinnerten. Beinahe lautlos musste der Fluss ihren Sohn zu sich genommen haben.
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