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Allgemeine Aufregungen verursachte ein anderer Vorfall. Es gab eine pädagogische Regel – vielleicht war es nur eine Kann-Bestimmung, denn sie wurde von den Lehrern permanent gebrochen – wonach pro Tag nur eine große Klassenarbeit geschrieben werden sollte, um die Schüler nicht zu überlasten. Auf diese Regel beriefen wir Schüler uns und manche Lehrer verschoben dann auch ihr Vorhaben, andere setzten sich durch. Das blieb meist eine Angelegenheit zwischen diesem Lehrer und der betreffenden Klasse.
Eines Tages ging es um eine Russisch-Arbeit. Sie wurde gleich in mehreren Klassen abgelehnt. Unser Direktor erfuhr davon, interpretierte das als koordinierte Aktion gegen die Schuldisziplin und sogar gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion. Er lief zu großer Form auf, informierte die Schulbehörde und wer weiß wen, entschuldigte sich in aller Form für unsere Unwürdigkeit beim tschechoslowakischen Botschafter und ließ mehrere Schüler unserer Schule verweisen. Eine Schülerin wurde sogar von allen Oberschulen der DDR ausgeschlossen. Sie hat allerdings irgendwie dennoch in der DDR das Abitur abgelegt. Die Sache gelangte, vermutlich begünstigt durch ihre überflüssige Dramatisierung an den RIAS und wurde in der Kabarettsendung „Der Insulaner“ kurz behandelt. Über die Schüler hieß es, sie wurden „geschasst“. Vermutlich hat diese Sendung in einer als feindlich geltenden Rundfunkstation die Lage der Betroffenen zusätzlich erschwert, aber darauf nahmen die westlichen Medien selten Rücksicht.
Schließlich kam das Abitur und ich ging ihm mit ganz ordentlichen Zensuren entgegen. Nur die schlechte Sportzensur gefährdete den Gesamtdurchschnitt, denn sie wurde ohne Rücksicht auf körperliche Fähigkeiten oder Ungeschicklichkeiten mit ins Ergebnis eingerechnet und konnte bei undifferenzierter Betrachtung schaden. Angesichts knapper und heiß begehrter Studienplätze und eines de facto praktizierten Numerus clausus brauchte ich mindestens ein gutes, besser noch sehr gutes Abiturzeugnis, um Aussicht auf das von mir inzwischen erstrebte Medizinstudium zu haben. So richtete ich viele Anstrengungen auf den Schulsport, der nicht meine starke Seite war. Es wurden einige Fächer verbindlich geprüft, unter den mündlichen Prüfungen konnte man aber teilweise wählen. Der Biologielehrer empfahl mir, weil ich Medizin studieren wollte, mich in seinem Fach zu stellen. Das vermied ich tunlichst. Ich hatte in Biologie aus dem Unterricht sieben Einsen und eine Zwei zu Buche stehen. Als Vorzensur konnte nur die Eins herausgerechnet werden. Warum sollte ich die durch ein ungewisses Prüfungsergebnis riskieren, denn ohne Prüfung musste die Vorzensur unweigerlich zur Endzensur werden. Also meldete ich mich, sehr zum Verdruss des Biologielehrers, zur mündlichen Geografie-Prüfung an, denn deren Ergebnis konnte bei der Studienzulassung nicht sehr interessieren.
Dem Biologielehrer muss ich aber hier noch einige Zeilen widmen: Im Unterricht trichterte er uns die Irrlehren des sowjetischen Biologen Lyssenko ein, wonach erworbene Eigenschaften erblich sein sollten. Die weltweit anerkannte Mendelsche Vererbungslehre(8), die indessen durch die moderne Genetik detailliert bestätigt wird, lehnte er ab, wie das damals in der DDR politisch bedingte Mode war. Wenige Tage vor dem Abitur verschwand er nach Westberlin und überließ uns allen Zufälligkeiten eines Examens durch fremde Prüfer.
Damals gab es noch keine Prüfungen mit standardisierten Fragebögen und der Sachverstand derjenigen Lehrkräfte, die unterrichtet hatten, war trotz aller einheitlichen Lehrpläne bedeutsam. Bewusste Tricks zum Vorteil oder Nachteil einzelner Prüflinge traute ihnen niemand zu und ein Prüfungsergebnis juristisch anzufechten, lag jenseits aller Überlegungen.
Ich erreichte im Abitur die Gesamtnote „Gut“ mit einem Durchschnitt von 2,0. Ohne den leidigen Sport hätte es besser ausgesehen, aber ich war Zehnter meines Jahrganges von insgesamt 77 Schülern aller Parallelklassen. Das sah für die Uni ganz gut aus.
1 Dr. Dietrich Loeff: „1945 – Tag der Befreiung – persönliche Erinnerungen an ein historisches Ereignis“
2 Wer mit dem Auto oder der S-Bahn aus Richtung Südosten über Adlershof nach Berlin hereinfährt, sieht – halb verdeckt durch ein anderes Gebäude – kurz vor dem Bahnhof Berlin-Schöneweide rechts das neogotische, rote Backsteingebäude der heutigen Archenhold-Schule.
3 Das geschah damals massenhaft. Manfred v. Ardenne hat darüber berichtet und auch mein Onkel Walter – seit den dreißiger Jahren ein Fernsehspezialist – zog es deshalb jahrelang vor, in Jessen (Elster) unauffälligen Tätigkeiten (Radios und Schreibmaschinen reparieren) nachzugehen, als im exponierten Berlin wieder in seinen alten Betrieb einzutreten.
4 HO = Handelsorganisation, eine staatliche Handelsgesellschaft, die in anfänglich geringem Umfang Lebensmittel und andere Waren zu sehr hohen Preisen frei verkaufte.
5 Es gibt auch Darstellungen, zum Beispiel des Historikers Siegfried Prokop, die einen Anteil des Geheimdienstes der UdSSR an dieser Demo vermuten. Es war angeblich aufgefallen, wie neu die Bauarbeiterkleidung der ersten Demonstranten aussah. Nach Prokops Annahme (selbst gehörtes Interview mit ihm) wollte die UdSSR Alleingänge der DDR-Führung in Sachen Wiedervereinigung durch einen kleinen Aufstand diskreditieren, zu dessen Niederschlagung die DDR-Obrigkeit dann von sowjetischer Hilfe abhängig wurde. Ich will diese Hypothese hier weder werten noch unterschlagen. Auch sei erwähnt, dass immer wieder eine entscheidende westliche Einflussnahme behauptet wurde, natürlich schob die DDR-Regierung die Ereignisse insgesamt darauf.
6 Rundfunk im amerikanischen Sektor; an leitenden Stellen saßen in ihm US-Bürger, in der DDR wurde er als Organ des Geheimdienstes der USA bezeichnet.
7 In einer Sendung „Am Tage als“ des ORB, (jetzt rbb); das Datum kann ich nicht mehr angeben.
8 Gregor Mendel hat wissenschaftlich zwingend bewiesen, dass Eigenschaften hochgradig konstant vererbt werden. Siehe dazu auch im Kapitel über das Medizinstudium, Absatz über Prof. Rapoport.
Lob des Lernens
Lerne das Einfachste! Für die,
Deren Zeit gekommen ist,
Ist es nie zu spät!
Lerne das Abc, es genügt nicht, aber
Lerne es! Lass es dich nicht verdrießen!
Fang an! Du musst alles wissen!
Du musst die Führung übernehmen.
Lerne, Mann im Asyl!
Lerne, Mann im Gefängnis!
Lerne, Frau in der Küche!
Lerne, Sechzigjährige!
Du musst die Führung übernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch:
Es ist eine Waffe.
Du musst die Führung übernehmen.
Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!
Lass dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du musst sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: Wie kommt er hierher?
Du musst die Führung übernehmen.
Bertolt Brecht
Kapitel 2
Ein ereignisreiches Medizinstudium
Einen Studienplatz bekommen
Nun standen allerlei Entscheidungen an. Wo studieren? Ich wollte zur Humboldt-Universität in Berlin. Mein Hausarzt riet mir zur Militärmedizinischen Fakultät der Universität Greifswald, weil die Aussichten auf einen Studienplatz viel besser waren und die Karrierechancen wohl auch. Meine Mutter fragte ihn ganz erstaunt: „Sie raten dazu“? Er war bekennender Katholik und stand dem DDR-Regime mindestens distanziert gegenüber, soweit er das erkennen ließ. „Ja, Frau Loeff, nur wenn wir drin sind, können wir etwas verändern“, erwiderte er sinngemäß. Sowohl meine Mutter wie auch ich haben uns dennoch auf dieses Doppelspiel nicht eingelassen, erstens schien es uns nicht sehr ehrlich und zweitens sind die Möglichkeiten, aus einer Armee heraus etwas von innen zu ändern, von Ausnahmen abgesehen, meist gering. Auch waren weder meine Mutter noch ich allem Militärischen besonders gewogen. Es blieb bei meiner Bewerbung an der Humboldt-Universität.
Ich wurde noch vor Studienzulassung und Studienbeginn über die FDJ zu einem vormilitärischen Lehrgang der GST(1) nach Prerow auf dem Darß einberufen. Der Lehrgangsbesuch war mit der Zusage auf einen Studienplatz verbunden. So trat ich ihn an. Dort traf ich auf Medizinstudenten höherer Studienjahre, die mich durch ihre Abgeklärtheit teilweise ziemlich beeindruckten. Im Lehrgang wurde viel exerziert und Sturmangriffe im Gelände geübt, wobei die Gegner sich mit Grasbatzen bewarfen. Die technischen Feinheiten eines Karabiners, einer Maschinenpistole und des Maschinengewehrs wurden uns durch Auseinandernehmen und Zusammensetzen beigebracht.
Bei dieser Ausbildung gab es, wie bei fast jeder militärischen Veranstaltung, nach der bekannten Redensart ‚Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens‘ viel Leerlauf. Den füllte sehr klug ein Politoffizier mit musikalischer Begabung und einem riesigen Schatz an Arbeiter- und Kampfliedern aus vielen Ländern. Er stellte sich einfach in unsere Nähe, ließ sein Akkordeon erklingen und wenn wir uns neugierig um ihn scharten, brachte er uns das intonierte Lied bei. Es waren Texte aus der Zeit der nachrevolutionären Kämpfe in Deutschland 1918–1919, von der Münchener Räterepublik und der „Kleine Trompeter“ sowieso. Besonders hatten es uns die italienischen Melodien angetan: „Avanti populo“ (Bandiera rossa) und „Bella ciao“, die ich heute noch singen kann und gern höre.
Wieder zu Hause erreichte mich ein Brief mit einer Ablehnung für das Studium. Das war anders zugesagt und ich beschwerte mich bei der FDJ-Leitung der Medizinischen Fakultät. Schleunigst wurde ich noch angenommen.
Eintritt ins Studentenleben
In jeder Hinsicht eindrucksvoll war die Immatrikulationsfeier der Universität im September 1955. An Selbstständigkeit wurden wir dabei auch gleich gewöhnt: Es war durch Aushang bekannt gegeben: „Anatomie, Hannoversche Straße, neuer Hörsaal“. Wo der genau war, sagte uns Neulingen kein Mensch dazu! So suchten Hunderte von Studenten ziemlich lange auf dem weiträumigen Gelände und die Mehrzahl fand sich nur langsam am Ort ein.
Die Festansprache hielt der bekannte Berliner Gynäkologe Prof. Helmut Kraatz(2), der gleichzeitig ein brillanter Redner war und besonders die große Geste beherrschte. Er beschrieb uns die akademische Freiheit als „die Freiheit, alles zu lernen“ und als Fähigkeit zur Verantwortung ohne Zucht- und Zügellosigkeit. Von einem ausschweifenden Studentenleben konnte also keine Rede sein und die Berliner Uni war immer dafür bekannt, viel zu arbeiten und wenig zu feiern. Den Arztberuf verband Kraatz mit hohen moralischen Anforderungen und gestaltete unsere Verpflichtung auf den Eid des Hippokrates zum Höhepunkt der Veranstaltung.
Dieser Eid, der tatsächlich nie so unverrückbar war, wie man ihn darstellte, und der auch heute einem gewissen Wandel unterliegt, wurde zeitweise belächelt und manche Ärzte gerieten in das schiefe Licht, Moralapostel zu sein und sich hinter dem hippokratischen Eid vor unbequemen Entscheidungen zu verstecken.
Ich bin dennoch bis heute dankbar, damals zuerst in meinem Leben meine zukünftigen Verpflichtungen so einprägsam erfahren zu haben. Besonders berührte mich der Satz: „Ich werde unterlassen alle Werke der Wollust an den Leibern meiner Patienten, Freien wie Sklaven.“ Dass selbst Sklaven, über deren Körper und sogar Leben der Besitzer in der Antike sonst willkürlich bestimmen konnte, vor lüsternen Begierden des Arztes geschützt sein sollten, fand und finde ich eine beachtliche humane Haltung. Sie respektiert doch wenigstens bei der medizinischen Behandlung den Sklaven als Menschen. Obwohl Moral auch heute nicht hoch im Kurs steht, wünschte ich mir für unsere Zeit mindestens, dass über ihre Forderungen nicht gespottet würde, weil ohne sie menschliches Zusammenleben unmöglich ist. Immerhin hat Brecht (im „Leben des Galilei“) einen analogen Eid für Physiker vorgeschlagen.
Wir bewunderten die Größe und Ausstattung der Hörsäle. Der bis 1955 neu erbaute Anatomie-Hörsaal hatte ungefähr 650 Plätze, alle damals moderne Darstellungstechnik, wie große Glastafeln, die aufklappbar waren und mit Schemata und Folien sowie weißer Grundierung hinterlegt werden konnten. Die Glastafeln waren angeraut und so konnte man auf ihnen mit allen Farben schreiben und malen, auch mit Schwarz, im Unterschied zu den uns bis dahin geläufigen, gewöhnlichen Schultafeln. Natürlich fuhren diese riesigen Platten elektrisch auf und ab, natürlich gab es einen Saaldiener, der sie sorgfältig, Streifen für Streifen säuberte und trocknete. Hörsaalverdunklung, Leinwand, Diaprojektion und die damals relativ neue episkopische Projektion waren selbstverständlich. Auch einen Polylux-Projektor (damals auch Belsazar-Gerät, heute meist Overheadprojektor genannt) sahen wir hier erstmalig.
Anatomie heißt Formen und Strukturen kennen und wiedererkennen. Die optische Ausstattung des Auditoriums war daher wichtig, ebenso exzellente Abbildungen in den Lehrbüchern und anatomischen Atlanten, die daher entsprechend teuer waren. Deswegen kaufte man gern bei höheren Semestern zu ermäßigten Preisen und sah über Gebrauchsspuren hinweg.
Die akademischen Lehrer, Anton Waldeyer
Nach einigen Wochen wurden die ersten anatomischen Präparate vom Menschen gezeigt, zuerst ein sauber abpräpariertes, einzelnes Bein. Wer nicht Medizin studiert hat, macht sich manchmal gruselige Vorstellungen von diesem Lehrabschnitt. Soweit ich sehen konnte, fiel niemand in Ohnmacht. Die meisten von uns erfasste aber eine bis dahin ungekannte Traurigkeit. „Das war also einmal ein Mensch“, dachten und fühlten wir.
Absolut nicht geduldet wurden auf den Präpariersälen auch nur die mindesten Ansätze unpassenden Benehmens. Als eine Studentin dort mit grell lackierten Fingernägeln arbeitete, war beim Direktor der Anatomie, Prof. Anton Waldeyer, das Maß voll. Die junge Dame musste die Gummihandschuhe ausziehen, eine Nagelfeile wurde herbeigeholt und Waldeyer selbst feilte ihr unter dem Beifall der Mitstudenten den nach seiner und unserer Meinung absolut ungehörigen Fingerschmuck herunter. Damit waren die strengen Maßstäbe klargestellt, an denen ich bis heute festhalte.
Es gab keine Wiederholungen. Kein Mensch hätte auch nur entfernt an Widerspruch gedacht. Viele unserer Professoren und Dozenten waren aus Westberlin und äußerten sich kaum zu politischen Themen. Sie orientierten sich offenbar am Leitbild des unpolitischen Arztes. Dem DDR-Regime gegenüber waren sie vermutlich distanziert, gaben aber für ihre wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit alle Kraft. Die DDR konnte froh sein, diese teils international bekannten Kapazitäten als Lehrstuhlinhaber gewonnen zu haben. Keine Universitätsleitung hätte einem Studenten Recht gegeben, der sich über zu strenge Behandlung durch eine Lehrkraft beschwert hätte. Auch die große Mehrzahl von uns selbst, begrüßte klare Regeln, die auch eingehalten wurden. Unbeständigkeit konnten wir nicht gebrauchen, denn das Medizinstudium ist in dieser Etappe in hohem Maße ein Fleiß- und Büffelstudium, das keine Verschwommenheiten verträgt. Und die akademischen Lehrer aus Westberlin waren tatsächlich oft eindrucksvolle Vorbilder und genossen den Respekt ihres Auditoriums mit vollem Recht.
Ein Problem verursachte allerdings die westliche Herkunft von Waldeyer. Wir brauchten das von ihm verfasste Anatomie-Lehrbuch. Das war natürlich beim westdeutschen Verlag de Gruyter erschienen, kostete daher Westgeld, das wir nicht hatten. Das Buch musste – sicher gegen Devisen – in die DDR importiert werden, um es für uns erreichbar zu machen. Jedes Jahr musste Waldeyer einen monatelangen Kampf mit den DDR-Behörden um den Import seines Werkes ausfechten. Das kostete Zeit, aber er gewann ihn immer. Waldeyer war übrigens absolut kein Kind von Traurigkeit. Als gebürtiger Rheinländer, war der Karneval für ihn der Jahreshöhepunkt. Er wurde von uns Studenten zweimal zum Karnevalsprinzen gekürt und mit den Namen „Anton der Erste“ und im Folgejahr „Prinz Antonius Waldivarius – der Gleiche“ beehrt. Natürlich konnten wir nicht drei tolle Tage feiern, aber er plädierte dafür, das Zeitdefizit durch Intensität in acht vergnügten Stunden hereinzuholen. Er präsidierte der abendlichen Tanzveranstaltung mit einer großen Tafel, an der seine ungefähr 30 Assistenten saßen. Dort wurde stramm getafelt und Waldeyer bezahlte die Zeche allein. Das war noch nicht alles: Fand sich in seinem näheren Blickfeld im Laufe des Abends ein Pärchen zusammen, brachte der Ober bald eine Flasche Sekt auf Rechnung unseres Karnevalsprinzen. Natürlich setzte sich manches Pärchen absichtlich in sein Blickfeld, aber ob er die Absicht bemerkte oder nicht, seine Börse stand Verliebten offen.
Rienäcker
Faszinierend waren auch die Chemievorlesungen bei Professor Rienäcker. Im Hörsaal mit etwa 400 Plätzen hinter dem Experimentiertisch stehend, der fast ebenso lang, wie der Hörsaal breit war, also mindestens zehn Meter, versprach Rienäcker uns, in jeder Vorlesung würde es mindestens einmal knallen. Das hielt er ein. Dennoch warnte er seine Hörer eindringlich vor Spielereien mit den unberechenbaren Chloratverbindungen, die bei Explosionen im Labor meist den ahnungslosen Nachbarn des Leichtsinnigen verletzen.
Er sagte, dass sich die Chemie-Ordinarien in Ost, West, Österreich und deutschsprachiger Schweiz einig seien: Wer bei Chloratspielereien erwischt wird, kann an keiner Universität im deutschen Sprachraum mehr Chemie oder eine Wissenschaft, die das einschließt, studieren. In den Westen zu gehen, würde daher nichts nützen. Wir fanden es eindrucksvoll, dass sich Wissenschaftler über solch ein Thema grenzüberschreitend einigen konnten.
Ich hatte mit den hohen Anforderungen im Fach Chemie weniger Schwierigkeiten, als die meisten Mitstudenten, weil ich an der Klement-Gottwald-Oberschule beim blutjungen Chemielehrer Rolf Gapp eine ausgezeichnete Vorbildung genossen hatte. Nicht wenige meiner Mitschüler sind nach dem Abitur übrigens gute Chemiker geworden, wie sich bei einem Klassentreffen 2005 herausstellte.
Tembrock im Vorphysikum
Nach dem ersten Studienjahr folgte das Vorphysikum, die erste große mündliche Zwischenprüfung, in den Fächern Chemie, Physik, Botanik und Zoologie. Aus den drei erstgenannten Prüfungsteilen ist mir nichts mehr erinnerlich, sie liefen jedenfalls problemlos ab. In Zoologie trat ein Mini-Problem auf. Ich hatte für die vorangehende Botanikprüfung besonders Vererbungslehre gepaukt, weil der Prüfer, Professor Noack, viel danach fragte. Dazu hatte ich mir natürlich botanische Beispiele eingeprägt, beliebtes Demonstrationsbeispiel waren damals in verschiedenen Farben blühende Erbsen.
Aber in Botanik prüfte ein Assistent über andere Themen. Dafür fragte mich Dr. Tembrock in Zoologie nach Vererbungsregeln. Seelenruhig spulte ich meine eingetrichterten Erbsenbeispiele ab, unterbrach mich erschrocken und ging auf Florfliegen mit unterschiedlichen Augenfarben über, wie das zum Thema Zoologie besser passte. Das hielt aber nicht lange und wieder blühten meine Erbsen. Wieder riss ich mich zurück, bis Tembrock abwinkte: „Wenn Sie das am botanischen Beispiel gelernt haben, bleiben Sie ruhig dabei, die Vererbungsgesetze sind dieselben.“ Für den Prüfer war das eine Lappalie, die er sofort wieder vergessen konnte, für mich eine Hilfe, an die ich mich heute noch dankbar erinnere.
Später – Tembrock war indessen Professor geworden – sah ich ihn in vielen Fernseh-Interviews über das Verhalten der Tiere (Ethologie) sprechen. Er tat das, wie in seinen Vorlesungen auch: kenntnisreich, mit souveränem Überblick über die vielfältigen Problemlösungsstrategien der belebten Natur und gelegentlich mit einem Schuss distanzierter Ironie.
Rapoport
Nicht alle akademischen Lehrer, denen ich dankbar bin, kann ich hier würdigen. Ein Professor muss aber noch beschrieben werden: Professor Samuel Mitja Rapoport, Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber für Physiologische Chemie, heute meist Biochemie genannt.
Er hatte in seiner Jugend als Jude und Kommunist vor den Nazis aus seiner Heimat Österreich fliehen müssen, sich in den USA als Biochemiker etabliert und großes Prestige erworben, bevor er wegen seiner linken Gesinnung dort gehen musste.
So hatte ihn sein Weg in die DDR geführt. In politischen Fragen war er aus seiner eigenen Vergangenheit heraus unduldsam. In seinen Vorlesungen wollte er keine Hörer, die Abzeichen irgendwelcher kapitalistischer Firmen an der Kleidung trugen. Seine Vorlesungen waren auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand. Die 1953 entdeckte Desoxyribonukleinsäure (DNS beziehungsweise englisch desoxyribonucleinacid, DNA) und die durch sie vermittelte Vererbung durch Verdopplung des DNS-Stranges und nachfolgende Abtrennung des Doppels beschrieb er uns genauestens, nur dass die DNS eine Spirale bildet, war damals noch unbekannt.

DNS-Doppelstrang bei der Trennung
In allen Vorgängen und Forschungsergebnissen suchte und fand er auch meistens Bestätigungen der materialistischen Dialektik, das heißt der Marxschen Denkmethode. Er verlangte disziplinierteste Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren. Vom Reporter einer westlichen Zeitung gefragt, ob das kommunistische beziehungsweise sowjetische Methoden seien, erwiderte er: „Nein, das habe ich aus den USA mitgebracht.“
Bei den Karnevalsfeiern machte er kräftig mit. Maskiert fiel uns auf, was wir sonst übersehen hatten: Sein kräftiges Untergesicht trat hervor und gab ihm ein grobes Aussehen. Er nutzte das selbst für seine Maskerade, denn er kam als Räuber verkleidet daher.
Unruhe unter Studenten
1956 war die Welt wieder einmal unruhig. Der 20. Parteitag der sowjetischen Kommunistischen Partei (KPdSU) enthüllte im Februar mit Chruschtschows Geheimrede Stalins Verbrechen, ohne deren tiefere Ursachen darzulegen und Mitwirkende zu benennen. Der italienische KP-Chef, Palmiro Togliatti, fragte öffentlich, ob es eine „Entartung“ des Kommunismus gegeben haben könnte, vor der alle zu warnen wären, die dem sowjetischen Beispiel folgten. Seine Frage wurde von der sowjetischen Parteiobrigkeit erst verschwiegen und dann brüsk zurückgewiesen. So machten sich einflussreiche kommunistische Parteien Westeuropas eigene Gedanken über ihren Weg zum Kommunismus. Das war die Geburt des Eurokommunismus.
Auch Kommunisten der Ostblockländer waren beunruhigt. In der polnischen Stadt Poznán (Posen) entwickelte sich ein lokaler Arbeiteraufstand, dem blutig begegnet wurde, schließlich aber nur mit der Einsetzung des als gemäßigt geltenden Władysław Gomułka ins oberste Parteiamt beruhigt werden konnte. Dabei hatten sich die Unruhen an einer Bagatelle entzündet. In einer schon länger laufenden Theaterinszenierung eines früheren polnischen Autors gab es den bis dahin wenig beachteten Satz: „Aus Moskau ist stets nur Gesindel gekommen.“ Plötzlich machten sich die antirussischen Ressentiments, die – geschichtlich entstanden – in der polnischen Öffentlichkeit lebten und leider bis heute leben – in Szenenbeifall Luft. Das wurde in den Folgetagen bekannt und das Theater bekam Zulauf von Zuschauern die nur auf diese Passage warteten, um ihren antirussischen und antisowjetischen Frust zu äußern. Demonstrationen und Zuspitzungen folgten, bis die Waffen sprachen und das bisherige Staatsoberhaupt gehen musste.
Selbst in der UdSSR-Literatur begann die als „Tauwetter“ (nach dem gleichnamigen Roman von Ilja Ehrenburg) bezeichnete, vorsichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zeitweiliger Lockerung einiger Bestimmungen. Das alles nahmen wir aufmerksam wahr, denn der Schulunterricht hatte uns allen die Politik immer als wichtig dargestellt.
Im Frühjahr 1956 gab es auch eine weitere Bestätigung für die von der DDR immer behauptete westliche Agententätigkeit. Nahe bei Berlin-Rudow wurde ein Tunnel entdeckt, der aus Westberlin heraus unbemerkt ungefähr 180 bis 200 Meter in das Gebiet der DDR hinein vorgetrieben worden war. Dort hatten westliche Abhörspezialisten ein wichtiges Telefonkabel angezapft und abgehört. Die DDR öffnete das entdeckte unterirdische Bauwerk nahe am Postkabel und durch einen zweiten Eingang ganz dicht an der Sektorengrenze und gab den Bau zur massenhaften Besichtigung frei. Auch ich stieg hinein und konnte an der hervorragenden elektronischen Ausstattung erkennen, dass hier keine Finte der DDR oder der Sowjetmacht vorlag, sondern wirklich modernere Technik installiert war, als ich sie aus Ostberlin kannte. Natürlich schrieben die ostdeutschen Zeitungen, mit anschaulichen Bildern versehen, ausgiebig über das Spionagenest Westberlin.