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Übrigens erhielt meine Familie in den siebziger oder achtziger Jahren auch noch ihre eigene Bestätigung für das Wirken westlicher Nachrichtendienste. Eine entferntere Verwandte von mir, die in Westdeutschland lebte, nahm die Arbeit als Zivilbeschäftigte in einer Bücherei der Bundeswehr auf. Dazu musste sie auf einem Fragebogen all ihre Verwandten mit deren Adressen angeben. Nicht alles trug sie sorgfältig ein, sondern verließ sich auf ihr nicht ganz sicheres Gedächtnis und so rief sie ihr Vorgesetzter nach einigen Wochen zu sich: „Nehmen Sie mal Ihr Adressbuch zur Hand und korrigieren folgende Adresse: „… Diese Verwandten wohnen jetzt in Senftenberg und nicht mehr in Großräschen.“ Da wusste also die Bundeswehr besser Bescheid, wo meine Schwiegereltern – damals schon hoch im Rentenalter – wohnten, als die besagte entfernte Verwandte es in den Fragebogen eingetragen hatte.
Die blutigste Auseinandersetzung reifte im Herbst 1956 in Ungarn heran. 1955 war der Österreichische Staatsvertrag geschlossen worden, ein separater Friedensvertrag mit diesem Land, dessen Soldaten an der Seite Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Kern des Vertrages war die „immerwährende Neutralität“ Österreichs, die noch heute gilt. Bis zum Vertragsabschluss standen sowjetische Truppen im östlichen Österreich. Die zogen nun ab und eine sowjetische Besetzung Ungarns (und Rumäniens) war als Brücke zu Österreich entbehrlich, so dass auch ein Abzug aus Ungarn ins Gespräch kam, aber nicht erfolgte. In Ungarn wurde in einer Krisensituation im Frühjahr 1956 der schärfste Stalinist (Mátyás Rákosi) entmachtet. Aber es war für kleine Zugeständnisse schon zu spät. Am 22. und 23. Oktober 1956 erzwangen riesige Demonstrationen die Einsetzung des beliebten Reformkommunisten Imre Nagy ins Spitzenamt. Er versprach einige bürgerliche Freiheiten, forderte die Sowjettruppen zum Abzug auf und bemühte sich um eine Stabilisierung der Lage. Am 1. November 1956 verkündete er die Neutralität Ungarns, das heißt seinen Austritt aus dem Warschauer Militärpakt des Ostblocks. Darauf überrannten am 4. November sowjetische Truppen das Land und schlugen in mehrtägigen blutigen Kämpfen durch den Einsatz schwerer Waffen die Volksbewegung blutig nieder(3). Ihre Führer wurden verhaftet, ihr Idol Imre Nagy unter Bruch früherer, anders lautender Zusagen 1958 gehenkt.
Gleichzeitig machte die Entkolonialisierung erste Schritte. Der durch einen Putsch junger Offiziere schon vorher in Ägypten an die Macht gelangte Gamal Abdel Nasser beendete die bis dahin englandhörige Politik des Landes am Nil. Er wagte es, 1956 den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal zu verstaatlichen und forderte damit Großbritannien und Frankreich heraus. Den Israeli sperrte er die Kanaldurchfahrt und den Golf von Akaba, womit er internationale Seefahrt-Abkommen verletzte.
Ende Oktober 1956 folgte ein israelischer Angriff auf Ägypten, der Großbritannien und Frankreich den offenbar verabredeten Vorwand lieferte, selbst militärisch einzugreifen „um den Suezkanal zu sichern“. Der schwere Konflikt, der das Zeug zu einem Flächenbrand in sich hatte, wurde letztendlich diplomatisch gelöst. Er wurde selbst von sehr bürgerlich denkenden Studenten als eine Inszenierung angesehen, in der sich Israel von den ehemaligen Kolonialmächten kaufen und einspannen ließ. Die mit Abstand schärfste Verurteilung der israelischen Politik erfolgte durch Rapoport, dessen Eltern dort lebten.
In diesem weltweit gespannten Klima erregten sich die Medizinstudenten unserer Universität im Oktober 1956 zunächst an einer Kleinigkeit, der bevorstehenden, abschließenden Sprachprüfung in Russisch. Sie war Bedingung für einen erfolgreichen Abschluss des Medizinstudiums insgesamt. Wir wollten sie dennoch irgendwie umgehen oder loswerden, weil die meisten von uns dem eher dürftigen Unterricht nicht viel Kenntnisse abgewonnen und dieses Examen zu fürchten hatten. Ob die Parole gegen die Prüfung auch, weil sie sich politisch ausweiten ließ, von prinzipiellen DDR-Gegnern gestreut wurde, weiß ich nicht, will es aber nicht ganz ausschließen, weil sich die Ereignisse so bemerkenswert rasch zu sehr prinzipiellen Auseinandersetzungen ausweiteten.
Die FDJ, von der wir als Mitglieder verlangten, unsere Wünsche zu unterstützen, lehnte das erwartungsgemäß ab – nicht einmal zu Unrecht, schließlich galt der Studienplan, den wir mit der Immatrikulation akzeptiert hatten. Durch ihre Ablehnung geriet die FDJ jedoch nun selbst in die Kritik und es kam zur Frage, ob wir an der einheitlichen Jugendbewegung festhalten sollten oder auch eine andere Jugendorganisation bräuchten.
Damit war eine einfache Frage des Studienablaufes mit beachtlicher politischer Brisanz aufgeladen. In stürmischen Pausenversammlungen im riesigen anatomischen Hörsaal wurden die FDJ-Funktionäre mit Fragen in die Enge getrieben. Kam ein politisch besonders raffinierter Vorschlag von einem Studenten, schwenkten wir blitzschnell darauf ein, auch wenn wir vorher anderen Rednern applaudiert hatten. Wir hatten in dieser Situation ein Gespür für das im Moment Wirksamste, gemeinsam Durchsetzbare, wie ich es später nie mehr erlebt habe, nicht einmal in der politischen Wende 1989–1990.
Die Revolutionstheorie nach Marx beziehungsweise Lenin behauptet, dass politische Vorgänge und Lernprozesse in revolutionären Situationen viel schneller verlaufen, als in ruhigen Zeiten. Obwohl es sich bei uns nicht um eine Revolution handelte, hat sich aber diese Aussage der kommunistischen Klassiker hier völlig bewahrheitet. Es wurde entschieden, aus jeder Seminargruppe zwei Sprecher zu wählen, was schon dadurch den Alleinvertretungsanspruch der FDJ tangierte. Wir hatten 28 Seminargruppen, was 56 gewählte Sprecher ergab. So hieß diese Versammlung 56er-Rat, was mehr mit der Teilnehmerzahl, als mit der Jahreszahl im Kalender zu tun hatte. In den Hörsälen und Foyers tauchten aber gleichzeitig viele bis dahin unbekannte Gesichter auf, Leute die teilweise älter als wir waren, um die Diskutantengruppen kreisten, gut zuhörten, nicht mitredeten und möglichst unauffällig wieder verschwanden: Der DDR-Staatssicherheitsdienst war unter uns!
Wir standen mit unseren Protesten nicht allein. Die Veterinärmediziner, deren Hörsäle dicht bei unseren lagen, stellten Forderungen; ich weiß nicht welche. Von einer Versammlung wurde Aufregendes erzählt: Ein Polizist erschien, um die Versammlung zu verbieten. Darauf soll er die Antwort erhalten haben: „Wir sind hier dicht an der Grenze zu Westberlin. Sie spielen mit dem Feuer, denn hier kann jede Kleinigkeit ernst werden.“ Angeblich ging er dann unverrichteter Dinge davon. Einen Beleg für den Vorfall habe ich nicht und ich fragte mich damals leise und frage mich heute deutlich, ob eine derartige Zuspitzung der Situation – sowohl durch das versuchte Versammlungsverbot, wie auch durch diese drohende Antwort – der Sachlage angemessen war.
Die Frage stand schon kurz danach direkt vor mir. Als der Ungarn-Aufstand schon halb zusammengeschossen war und unsere Forderungen nicht durchdrangen, standen abends Studienfreunde am Ausgang des Geländes und flüsterten uns allen zu: „Morgen trifft sich die gesamte Medizinische Fakultät am Chemie-Hörsaal – weitersagen.“ Meine sofortige Gegenfrage: „Seid ihr verrückt, da passen die gar nicht alle rein und der Rest steht auf der Straße – fast in Sichtweite des Westsektors?“, wurde von den Mitstudenten bewusst überhört und die Nachricht ohne mich weitergeflüstert.
Aber über Nacht muss sich Besonnenheit durchgesetzt haben. Niemand traf sich dort. Der Hörsaal hatte, wie schon erwähnt, 400 Plätze, alle Jahrgänge von Medizinstudenten umfassten ungefähr 2 000 Personen. Die hätten, wenige auf Treppen und Gängen abgerechnet, zumeist auf der Hannoverschen und der Invalidenstraße gestanden und wenige Minuten danach hätten wir westliche Kameras und östliche Polizei reichlich auf dem Hals gehabt. Was das parallel zur Ungarnkrise bedeuten konnte, mag man sich heute vielleicht in manchen Gehirnen nicht ganz ausmalen. Damals jedenfalls mussten wir alle viel öfter die weltpolitische Situation und mögliche Auswirkungen auf sie „mitdenken“. Der Kalte Krieg war nicht nur ein Schlagwort!
Unsere Proteste wurden schließlich beendet, teils durch die unübersehbare Stasi-Überwachung, dazu durch ein paar Verweisungen von der Uni und argumentativ außerordentlich geschickt und wortgewaltig durch Professor Rapoport. Man musste gerade ihm alles Recht der Welt zubilligen, Tendenzen, die er für reaktionär und gefährlich hielt, mit aller Kraft entgegen zu treten. Demokratisch war das dennoch nicht. Seine Reden klangen auch drohend. Einige Monate später trat auch der Erste Sekretär der FDJ-Leitung Berlin, Hans Modrow, vor uns auf. Er erntete allerlei Widerspruch. Ein Student fragte, warum man uns keine Westreisen gestatte.(4) Modrow erwiderte, das sei doch eine unwichtige Frage. Darauf der Fragesteller: „Dann muss ich Dir sagen, dass Du als Jugendfunktionär die Sorgen der Jugend nicht kennst.“ Das gab Beifall, aber geklopft von unten an die Tische so dass von vorn nicht zu sehen war, wer applaudierte. Modrow steckte den Hieb ein. Der Fragesteller blieb auch weiter ungeschoren. Ich habe später manchmal gegrübelt, ob Modrows spätere Reformbereitschaft auch aus solchen Erlebnissen gespeist wurde.
Gleichzeitig mit der Welle der Gegenargumente lief in den Betrieben eine Propaganda-Kampagne an. Tenor: „Was wollen die eigentlich noch? Der Staat gibt ihnen zum Studium alles, was er nur geben kann.“ Dazu wurde halblaut über Kampfgruppeneinsätze nachgedacht. Doch dazu kam es nicht, ebenso nicht zu den angedrohten „Bewährungen in der sozialistischen Produktion“. Die DDR machte bald die Erfahrung, dass rebellische Studenten, unter die Arbeiter gebracht, dort mehr Sympathie als Ablehnung erwarben und sah von solchen Maßnahmen ab.
Und was wurde aus der Russischprüfung? Es wurden, als alle Proteste vorüber waren, dafür zwei ziemlich nahe beieinander liegende Seminarräume genutzt, in denen ein Russisch-Dozent die Aufsicht führte. Dazu ging er zwischen beiden Räumen sehr langsam und in berechenbarem Rhythmus hin und her. Hier bedurfte es nicht der Kunst meines Klassenkameraden Norbert, um mit den Nachbarn beliebig zu kommunizieren. Bestanden haben wir alle.
Der Scharfrichter Physikum
Der sogenannte vorklinische Teil des Medizinstudiums endete damals nach zwei Jahren mit dem Physikum, der ärztlichen Vorprüfung. In ihr waren naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sowie die gründliche Beherrschung von Anatomie, Physiologie und Biochemie des gesunden Menschen nachzuweisen. Das ist Vorbedingung, um Abweichungen von der Norm und Krankheiten zu verstehen, die im zweiten Studienabschnitt, den klinischen Fächern, behandelt werden.
Die Uni war trotz ihrer großen Hörsäle mit Studenten überbelegt. Im Anatomie-Hörsaal mussten auf 650 Sitzplätzen anfangs 800 Studenten Platz finden, sodass viele auf Treppenstufen saßen oder im Stehen zu schreiben versuchten. Die Uni war daher im eigenen Interesse und auch dem mancher Studenten selbst bestrebt, schwache, perspektivlose Hörer baldmöglichst aus dem Medizinstudium zu verabschieden. Das verkündete Professor Walter Kirsche (Anatomie der Nerven und des Gehirns) mit ironischer Deutlichkeit: „So viele von Ihnen sitzen und stehen unbequem. Das dauert nicht mehr lange. Wenn wir mit den Testaten [eine Art kurzer, scharfer Leistungskontrollen – d. A.] beginnen, werden bald alle einen guten Sitzplatz haben.“ Und Waldeyer wies vor unseren Ohren seine Assistenten an: „Bei den Testaten muss es Nullen [das heißt nicht bestanden – d. A.] hageln, damit wir endlich sieben.“ So geschah es, und im Hörsaal sah man bald leere Plätze. Die meisten Studenten kämpften bis zuletzt gegen die Schwierigkeiten des Lehrstoffes und der Prüfungen. Dennoch mussten in dieser Phase etwa 30 Prozent das Studium vorzeitig beenden, seltener durch definitiv unzureichende Zensuren, häufiger setzte schwere Erschöpfung den Endpunkt. Auch ich hatte im Fach Anatomie meine Schwierigkeiten, denn mein Handgeschick war fürs Präparieren etwas schwach ausgebildet und mein Formengedächtnis hätte auch besser sein müssen. So wusste ich rechtzeitig, dass chirurgische Fächer später für mich nicht in Frage kamen.
Wer es also bis zum Physikum und durch diese Prüfung geschafft hatte, war damals erst einmal ziemlich aus dem Gröbsten heraus. Bezeichnend ist, dass man im Hörsaal nach dem Physikum bei etwa der Hälfte der Studenten, die vor und unter einem saßen, vereinzelte graue Haare sah. Wir waren damals meist erst ungefähr 20 Jahre alt. Später verschwanden diese Anzeichen der hohen Belastung dann meist wieder.
Bei meiner Prüfung ging alles gut. Wegen meiner guten Prüfungsergebnisse erhielt ich weiter mein Leistungsstipendium, einen Zuschlag von 50.- Mark zum Grundstipendium. Da bei uns zu Hause stets Geldmangel herrschte, war ich auf diese Leistungszulage angewiesen, um überhaupt zu studieren. Meine Mutter bestand darauf, dass ich diesen Aufschlag gewinnen musste – wie schon erwähnt, war ich ihre lebende Altersversicherung. Von den Folgen dieser Bedrängnis berichte ich später.
Nach der Prüfung wollten wir feiern – so richtig einen drauf machen. Dann saßen wir uns beim billigen, extrem süßen bulgarischen Wein gegenüber und schwiegen uns an. So ging das nicht. Also Standortwechsel in eine billige Berliner Kaschemme – das gleiche Ergebnis. Wir waren einfach zu ausgebrannt, um froh zu sein. Zwei Wochen später lagen wir etwas erholt an der Ostsee, konnten nachholen und zusammen mit der bestandenen Prüfung erste Urlaubserlebnisse munter begießen.
Klinische Lehrer, Linser
Über die anschließenden drei Jahre klinischer Studien ist nicht viel zu berichten. Politisch war die Zeit an der Uni ruhiger. Das Studium bot jetzt Patientenkontakte und ebenfalls eindrucksvolle akademische Lehrer, von denen ich nur einige erwähnen kann. Ich erinnere mich besonders an Professor Linser, den Lehrstuhlinhaber für Hautkrankheiten der Charité. Er war ein konsequent links eingestellter, energischer bis bullig wirkender Mann. Linser kämpfte ohne Unterlass und ohne Rücksicht auf die Psyche seiner oft hochkarätigen Gesprächspartner für seine Patienten. Einmal zeigte er uns ein Bild eines durch Hauttuberkulose schrecklich entstellten Gesichtes. In das allgemeine Schaudern hinein, sagte er: „Das habe ich beim letzten Empfang Otto Grotewohl (damals Ministerpräsident der DDR) neben den Essteller gelegt und ihn gefragt, wann wir endlich dagegen wirksamere Medikamente kriegen.“
Solche Begebenheiten berichtete er häufig. Ob er bei den so Angesprochenen immer beliebt war, weiß ich nicht, erfolgreich war er allemal und für seine Ziele brannte er und konnte auch begeistern. Der Hörsaal war optisch super ausgestattet: Ferngläser an schwenkbaren Halterungen auf allen 400 Sitzplätzen, ein so genanntes Patientenepiskop, das ermöglichte, winzige Pickelchen des vorgestellten Patienten riesig groß zu projizieren. Hautärztliche Diagnosen werden weitgehend nach dem Aussehen der krankhaften Hautveränderungen gestellt, daher ist gutes Sehen hier so wichtig. Linsers Spitzenleistung war seine Klimatherapie und deren Durchsetzung. Damals kam mit seinem Zutun die Behandlung der Asthmatiker und Ekzematiker durch Seeklima auf. Nach jahrelangem Kampf hatte unser konfliktfähiger Professor tatsächlich ein Schiff für Kurreisen dieser Patienten binden können. Und nicht nur irgendein Schiff, sondern die „Völkerfreundschaft“, das bekannteste Urlauberschiff der DDR. Unter dem tat er es nicht! Das gelang ihm zwar erst nach Abschluss meines Studiums, aber gesprochen hat er schon vor uns von seinem hohen Ziel. Die Reisen schipperten nicht nur durch DDR-Hoheitsgewässer, sondern führten ins klimatisch günstige Mittelmeer, obwohl ab 1961 schon die Mauer stand und Fernreisen problematisch waren.
Prokop
Professor Otto Prokop, war aus Österreich gekommen, und las Gerichtsmedizin, die man heute meist Rechtsmedizin nennt. Er war ein bedeutender Fachmann, besonders auf dem damals neuen Gebiet der Haptoglobine. Das sind Blutbestandteile, deren Struktur präzise vererbt wird. Ihre Analyse diente daher wesentlich zur Vaterschaftsbestimmung, die vorher nur ungenauer möglich war. Mit diesem schmalen Merkmalspektrum ließen sich bei sexuell sehr wechselbereiten Kindsmüttern nicht alle als Kindesvater vermuteten Männer ausschließen. Hier konnten die von Prokop in unterschiedliche Gruppen differenzierbaren Blutbestandteile wesentlich weiter helfen, wenn auch diese Untersuchung nicht die absolute Sicherheit bot, die heute mit der Erbgutanalyse der DNS erreicht wird.
Prokop war ein ausgezeichneter Vortragender, der uns durch ungewöhnliche Fragestellungen immer wieder überraschte. Er setzte zur Veranschaulichung sehr viel Bild- und Filmmaterial ein, das in seinem Institut angefertigt wurde. So sahen wir Tatortfotos von Verbrechen und Zeitlupendarstellungen, wie ein Pistolengeschoss den menschlichen Körper zerfetzt. Diese Versuche wurden an Leichen gemacht. Die Ergebnisse sind für die Kriminalpolizei unentbehrlich. Eines Tages brachte Prokop, der stets im schwarzen Anzug, weißem Hemd und mit Fliege angetan seine Vorlesung hielt, eine Pistole zu Demonstrationszwecken mit – eine echte Parabellum 08. Es war ein faszinierender Anblick, wie der hochelegante Herr schnell, souverän und geschickt mit diesem Mordinstrument umging, um uns mit Übungspatronen zu zeigen, wie die leeren Hülsen bei den einzelnen Waffenmodellen seitlich oder nach oben ausgeworfen und nach ihrem Fundort der Platz des Schützen am Tatort bestimmt werden kann. Auch die Entfernung des Schützen zum Beschossenen lässt sich am letzteren feststellen.
Prokop demonstrierte uns auch Schädel-Röntgenbilder mit Resten eines Geschossprojektils im Gehirn. Sie stammten von einem Offizier der Naziwehrmacht, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Antifaschist ausgab. Der Kopfschuss war ihm angeblich von einem anderen Offizier aus einer Entfernung von mehreren Metern bei einer politischen Auseinandersetzung beigebracht worden. Prokop wies nach, dass die Geschossbruchstücke eindeutig aus einem aufgesetzten Nahschuss in die rechte Schläfe stammten. In Wahrheit handelte sich also um die Überreste eines Selbstmordversuches. So lernten wir bei aller Sympathie für eine Sache eindeutig bei der Wahrheit zu bleiben!
Dost
Ein herausragend guter Erklärer schwieriger Zusammenhänge war der Kinderkliniker Professor Dost. Es gibt bei Menschen aller Altersgruppen die Fragestellung, wie rasch die Niere einen Stoff aus dem Blut ausscheidet. Das wird mit einer Zahl erfasst. Sie ähnelt mathematisch, aber eben wirklich nur rechnerisch, der Angabe von Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe und wird Clearance-Wert (Klärwert) genannt.
In der Vorlesung über Innere Medizin beim Erwachsenen war das auch schon Thema, und ein guter Nierenspezialist und mittelmäßiger Erklärer mühte sich sechs Vorlesungsstunden mit der Darstellung ab. Danach hatte die Hälfte von uns etwa 50 Prozent des dargebotenen Stoffes verstanden. Als Kinderarzt ging Dost das Thema einige Zeit später an. Er benötigte dafür ganze 45 Minuten, drang in dieser Zeit bis zu mathematischen Beschreibungen des sinkenden Blutspiegels vor, erhielt – ganz unüblich, schon gar bei Mathematik vor Medizinern – mehrfach Szenenbeifall und vermittelte uns in dieser Zeit Kenntnisse, die ich noch heute jederzeit reproduzieren und auf analoge Sachverhalte im Beruf anwenden konnte. Leider blieb uns Professor Dost, dieser großartige Didakt und Autor des DDR-Fachbuches „Der Blutspiegel“ nicht erhalten, sondern ging nach Westdeutschland ab.
Gietzelt
Bemerkenswert war auch Professor Gietzelt, der Radiologe und Strahlentherapeut. Es war die Zeit der Atombombenversuche in der Atmosphäre und dem Boden, die weltweit entsprechende radioaktive Niederschläge hervorriefen, ahnungslose japanische Fischerbootsbesatzungen und Südsee-Touristen durch Strahlenkrankheit töteten, sowie missgebildete und radioaktiv strahlende Fische hervorbrachten. Hier sah sich Gietzelt auf seinem Fachgebiet gefordert.
Zweierlei hat er uns erklärt: Erstens gab es nach seiner Ansicht keine Untergrenze, unterhalb der radioaktive Strahlung unbedenklich ist. Um einige Details der Reparaturfähigkeit des menschlichen Körpers für Strahlenschäden ergänzt, gilt diese Ansicht auch heute weitgehend. Zweitens trifft es zwar zu, wie die Versuchsbefürworter damals entschuldigend erklären wollten, dass der Mensch im Durchschnitt bei allen Röntgenaufnahmen im Leben mehr ionisierende Strahlung(5) empfängt, als durch radioaktiven Niederschlag nach Kernwaffenversuchen. Aber ärztlich nach gewissenhafter Entscheidung vorgenommene Röntgenuntersuchungen dienen seinem Wohl, Kernwaffenversuche dem Gegenteil! Also sind derartige Vergleiche unakzeptabel.
Gietzelt stand mit seiner Meinung nicht allein und schließlich konnten derartige Versuche weltweit verboten werden. Gleichzeitig hat Gietzelt die Entwicklung strahlungsarmer Röntgenverfahren, wie der Schirmbildtechnik, unterstützt und zur überlegten Nutzung der Röntgendiagnostik gemahnt.
Die Famuli sind da
Medizinstudenten mussten in den Studienferien innerhalb der drei klinischen Studienjahre insgesamt sechs Monate Studienpraktika – sogenannte Famulaturen – in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen durchführen, um ihr Wissen durch Praxis zu vertiefen. Sie wurden dabei unter Aufsicht der Stations- und Oberärzte an Patienten herangeführt, lernten Blutentnahmen und die Verabfolgung von Spritzen, Sie erfragten die Krankenvorgeschichte (Anamnese), deren Wichtigkeit leider oft unterschätzt wird. Die Famuli wurden daher auch gelegentlich als Anamnesenknechte verulkt. Der Patient berichtet sehr oft über seine eigenen Deutungen und die Meinungen der vorher behandelnden Ärzte, soll aber dazu angehalten werden, den Hergang und die Beschwerden zunächst ganz ohne Bewertungen zu schildern. Das erfordert eine gute Mischung von freier Rede des Patienten, die sein Wesen spiegelt und gezielten, aber nicht suggestiven Fragen. Das will gelernt sein, erfordert Übung und oft auch weitere Nachfragen, wenn neue Befunde neue ärztliche Deutungen nahe legen.
Neuerdings trainieren Medizinstudenten das richtige Fragen sogar vereinzelt an eingewiesenen Schauspielern. Trotz aller Apparatemedizin ergeben sich auch heute noch ungefähr 50 Prozent aller Diagnosen aus der sehr gut erfragten Anamnese, also einem diagnostischen Verfahren, das billig und überall anwendbar ist sowie keine Nebenwirkungen hat.
Klose
In zwei Famulaturen spiegelten sich Besonderheiten der damaligen Zeit. Eine Famulatur machte ich im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain unter Professor Klose, einem bekannten Schilddrüsenchirurgen. Ich konnte ihm einige Kniffe bei der Untersuchung dieser Patienten abgucken. Aber auch andere chirurgisch zu behandelnde Patienten lagen auf der Station. Einer litt unter den Spätfolgen einer Schussverletzung. Anamnese: Er war auf der Seite der Nazitruppen im spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 bei Ibiza in eine Maschinengewehrgarbe der republikanischen Verteidiger geraten.
Auch im Nachbarzimmer litt ein Mann unter alten Kriegsverletzungen, ebenfalls im spanischen Bürgerkrieg empfangen, allerdings auf der anderen, der republikanischen Seite. Beide hatten feste Bettruhe, konnten sich also nicht begegnen. Der spanische Bürgerkrieg lag damals erst 20 Jahre zurück, da war es noch nicht ausgeschlossen, dass alter Streit erwachen könnte.
Katholische Lebens- und Berufsauffassung
Eine weitere Famulatur absolvierte ich im kleinen katholischen Krankenhaus Hedwigshöhe, bei Berlin-Grünau, einer Zweigstelle des bekannteren Hedwigskrankenhauses im Berliner Zentrum. Ich hatte mich dort beworben, weil ich, obwohl damals selbst nur noch Christ pro forma, christliche Menschlichkeit aus der Nähe kennen lernen wollte. Schon die Anmeldung bot eine Überraschung. Frage der Anmeldeschwester: „Religion?“ Ich stutzte – diese Frage war in der DDR unzulässig und unüblich. Sie sah mein verdutztes Gesicht und entschied kühl: „Also evangelisch“ und traf es damit. Offenbar wurden die Ergebnisse dieser Befragung nicht nur notiert. Als wir Famuli – wir waren im ganzen Hause wohl drei – eines Tages in unseren Aufenthaltsraum kamen, lag kommentarlos ein großer Bildband auf dem Tisch. Er zeigte in ausgezeichneten Fotos mit Erläuterungen Prozessionen zum katholischen Fronleichnamsfest. Das Vorwort widmete den Prachtband ausdrücklich den Menschen nicht-katholischen Glaubens. Sie sollten bildhaft sehen, welche seelisch erhebenden Feiern Katholiken begehen und wie große Menschenmassen die Kirche mobilisieren konnte. Wir blätterten das Buch sorgsam durch und damit war die Sache erledigt. Niemand sagte uns, er habe es hingelegt, niemand fragte uns, ob es uns gefiele. Einige Tage später war der Band wieder fort. Da wir in keiner Weise bedrängt wurden, nahmen wir die Sache als faires geistliches Angebot, das uns zu nichts verpflichtete.