Malvina Moorwood (Bd. 1)

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Widerworte waren jetzt also eher nicht angebracht, trotzdem konnte ich sie mir nicht ganz verkneifen: »Papa und Onkel Bob haben doch die Reitschule. Und Mama ist Zahnärztin und bohrt ganz Moorwood für Geld in den Zähnen herum. Und du kriegst eine Pension oder wie das heißt, das haben wir in der Schule gelernt, alle alten Leute kriegen so was. Und Tristan könnte sich auch mal nützlich machen und arbeiten gehen. Er könnte bei McDonald’s Hamburger braten und ich würde mein ganzes Taschengeld …«
Opa drückte mich kurz an sich. Er drückte ziemlich doll.
Und da fiel mir noch etwas ein, weil ich gerade an den Waffenschrank gedacht hatte. Es gab nämlich noch so einen Schrank, drüben im Schloss. Da lagerten Opas antike Gewehre und Flinten. Und die waren echt was wert, das hatte Opa mir selbst mal gesagt.
»Du könntest dich von deiner antiken Waffensammlung trennen«, schlug ich vor.
Opa lachte einmal kurz, aber so richtig fröhlich klang es nicht.
»Eher erschieße ich mich«, sagte er dann, wurde aber sofort wieder ernst.
»Das reicht alles nicht, meine Süße. Allein das Dach kostet Millionen.«
Opa hatte sehr leise gesprochen, deswegen verstand ich, dass es Melonen kostete. Das war witzig, aber mir war nicht zum Lachen zumute.
Opa auch nicht.
Er stand auf, goss sich eine Tasse Tee ein und ging dann aus der Küche.
Als Nächstes kam Tristan ins Zimmer, gefolgt von Onkel Bob, der sogleich die Kaffeemaschine anschmiss, weil er Tee nicht ausstehen konnte.
Tristan setzte sich neben mich. Genau wie Opa legte er seinen Arm um meine Schulter.
»Das wird schon alles, Schwesterherz«, erklärte er vergnügt. »Wenn wir die Hütte erst mal vertickt haben, dann haben wir richtig Asche.«
»Asche interessiert mich nicht«, brummelte ich. »Ich will hier wohnen bleiben.«
»Ach, komm«, sagte Tristan und warf einen gierigen Blick auf mein Rührei.
Ich umfasste die Gabel etwas fester und machte mich bereit, mein Frühstück zu verteidigen, aber Tristan hatte flinke Finger und plötzlich Ei im Mund.
»Die Bude hier kracht demnächst zusammen«, verkündete er kauend. »Da ist es besser, wir wohnen woanders.«
»Geh lieber Burger braten«, sagte ich, »und lass mich in Ruhe.«
Den ersten Teil des Satzes verstand Tristan nicht, aber er ließ mich trotzdem in Ruhe und verzog sich.
Seinen Platz nahm Papa ein, der während des tiefsinnigen Gesprächs mit meinem Bruder zusammen mit den Zwillingen die Küche betreten hatte. Und wieder hatte ich einen männlichen Arm auf der Schulter liegen.
»Es geht leider nicht anders, Mäuschen«, sagte er.
»Ja, ja«, antwortete ich. »Hat mir Opa auch schon erklärt. Wir haben kein Geld für das Dach.«
Papa seufzte.
Er hatte schlecht geschlafen und sah ziemlich zerknittert aus. Das geschah ihm ganz recht, fand ich, aber er tat mir auch ein bisschen leid. Trotzdem sagte ich mit einem Anflug von Bockigkeit in der Stimme: »Lieber ein Schloss ohne Dach als gar kein Schloss.«
Papa seufzte erneut.
Bildete ich mir das nur ein oder schielte auch er auf mein Rührei? Vorsichtshalber stopfte ich mir eine große Portion davon in den Mund.
»Es ist nicht nur der Dachstuhl«, sagte er. Wie Opa sprach er sehr leise. »In den Keller sickert Moorwasser ein. Das ganze Gebäude müsste auf ein neues Fundament gestellt werden. Das kostet Millionen.«
Da waren sie wieder, die Melonen.
Von Dächern und Kellern und Fundamenten hatte ich natürlich keine Ahnung. Ich wusste nur, dass unser Schloss schon seit Jahrhunderten da stand, wo es stand, und das offenbar ohne irgendwelche kostspieligen Baumaßnahmen. Aber da ich ja keinen Ärger machen wollte, hielt ich einfach die Klappe und schlürfte etwas von dem Kakao, den mir Mama vor die Nase gestellt hatte.
Kurz darauf saß sie neben mir, während Papa versuchte, sich mit Onkel Bobs frisch gebrühtem Kaffee in Stimmung zu bringen.
»Wir müssen jetzt alle vernünftig sein, Liebes«, sagte Mama und nickte mir aufmunternd zu. Offensichtlich war sie der Ansicht, dass ich für heute Morgen genug Arme auf meiner Schulter gehabt hatte, denn sie unterließ es, mir auf die Pelle zu rücken.
»Willst du was von meinem Rührei?«, bot ich an.
Mama schüttelte den Kopf und stand auf.
»Ich muss los«, sagte sie.
Das war mein Stichwort. »Nimmst du mich mit?«
»Was willst du denn so früh am Morgen in Moorwood?«, fragte Mama, allerdings ohne etwas zu sagen. Sie beherrschte die Kunst, mit Blicken zu sprechen.
Da ich das leider nicht konnte und sowieso lieber meinen Mund benutzte, antwortete ich: »Bin mit Tom verabredet.«
»Dann aber fix«, sagte Mama, wiederum ohne die Lippen zu bewegen. Unglaublich, wie sie das machte.
Ich schaufelte mir den Rest Rührei hinein und versuchte, so viel von dem süßen Kakao zu trinken wie möglich. Das war gar nicht so leicht, denn Mamas Platz hatten nun Amalia und Georgina eingenommen, und beide überboten sich darin, mir Fotos von Häusern in London zu zeigen, die sie auf den Bildschirmen ihrer Handys hin und her schoben. Scheinbar gingen die beiden davon aus, dass wir dort demnächst wohnen würden.
Abwarten, dachte ich.
»Schau mal, das hier liegt an den Kensington Gardens«, flötete Amalia.
»Und von hier aus kannst du direkt zum Shoppen in die Market Street«, trällerte Georgina.

»Ich muss los«, sagte ich. Das mit dem Kakao konnte ich vergessen. Ich bekam die Tasse nicht zum Mund, weil unentwegt Zwillingshände mit Telefonen vor meinem Gesicht herumwackelten.
Im Flur zur Eingangshalle stand plötzlich Tante Frida vor mir. Während Mama die Fähigkeit hatte, etwas zu sagen, ohne etwas zu sagen, besaß Tante Frida die Gabe, an einem Ort aufzutauchen, ohne dass man wusste, wie sie dorthin gelangt war. Noch vor wenigen Sekunden hatte sie ja am Herd Frühstücksspeck gebraten.
»Ich muss dir was zeigen«, flüsterte sie mir zu.
Verschwörerisch. Geheimnisvoll. Vielversprechend.
Aber nicht so vielversprechend wie der Plan, den ich mit Onkel Frank ausgeheckt hatte. Deshalb erwiderte ich: »Nachher, wenn ich wieder da bin. Jetzt muss ich erst mal zu Tom.«
»Mach keine Dummheiten«, sagte Tante Frida mit einem unergründlichen Blick aus ihren unergründlichen großen Augen.
Ohne dass ich es verhindern konnte, zuckte ich zusammen. Wusste Tante Frida etwa, was ich vorhatte? Das war völlig unmöglich. Trotzdem schlüpfte ich ein wenig verunsichert in meine Turnschuhe.
Aber schon im Auto fühlte ich mich wieder völlig sicher. Was daran lag, dass ich mich immer so fühlte, wenn ich mit Mama durch die Gegend gondelte. Schon als kleines Kind liebte ich es, von ihr herumkutschiert zu werden, vor allem dann, wenn sie mit dem großen Geländewagen fuhr. Der war zwar alt und klapprig, vermittelte aber trotzdem den Eindruck, völlig unzerstörbar zu sein. Genau wie Mama. Und genau wie unser Schloss. Na ja, jedenfalls hatte ich das bislang gedacht. Schade, dass Mama in Sachen Schloss nicht auf meiner Seite war.
Schweigend bretterten wir durch die sommerliche Landschaft.
Ich versuchte, Mama eine Botschaft zu übermitteln, indem ich sie intensiv anstarrte und dachte: Moorwood Castle darf niemals verkauft werden. Moorwood Castle darf niemals verkauft werden.
»Ich muss später noch was einkaufen«, sagte Mama. »Danach kann ich dich bei Tom abholen. So gegen zwei. In Ordnung?«
Mist. Hatte nicht geklappt.
Mama parkte den Landrover vor dem roten Backsteinhaus, in dem sich ihre Zahnarztpraxis befand. Nicht weit entfernt hatte Toms Mutter ihren Kramladen, und wenn man von dort aus einmal um die Ecke bog, stand man direkt vor dem schmalen Wohnhaus der Baxters.
Wir stiegen aus, Mama winkte mir zum Abschied zu und verschwand. Ich blieb allein in der menschenleeren Straße zurück und fühlte mich nun ganz und gar nicht mehr sicher. Der Nachteil an meinem Plan war nämlich, dass ich ja noch gar keinen hatte. Genau genommen hatte ich noch nicht einmal eine Verabredung mit Tom.
Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer.
»Hallo«, sagte Tom. Er klang äußerst verpennt.
»Hallo«, sagte ich. »Wir müssen was unternehmen.«
»Du meinst, weil dein Vater euer Schloss verkauft hat?«, fragte er und gähnte.
»Er hat es noch nicht verkauft«, erklärte ich. »Diese Papiere, die wir gesehen haben, die bedeuten, dass es jemanden gibt, der es kaufen will, und zwar dieser Mr Bommel.«
»Aha«, machte Tom. Ich hörte ihn mit seiner Bettdecke rascheln und wurde neidisch.
»Wir müssen mehr über diesen Kerl herausfinden«, sagte ich. »Vielleicht können wir dann verhindern, dass er das Schloss kauft.«
»Wie sollen wir ihn denn daran hindern?«, fragte Tom.
Raschel. Raschel.
Der machte es sich jetzt so richtig schön gemütlich, während ich hier herumstand und mir vorkam wie bestellt und nicht abgeholt.
»Weiß ich noch nicht«, antwortete ich. »Erst mal stöbern wir diesen Typen auf und finden was über ihn heraus.«
»Du meinst wie Detektive?«
Tom hörte sich auf einmal nicht mehr ganz so verpennt an. Er mochte nämlich Detektivgeschichten, wie mir gerade einfiel. Tom mochte eigentlich jede Art von Büchern und las im Gegensatz zu mir von morgens bis abends (wenn er nicht irgendwelche Knobelaufgaben löste oder mit seiner Playstation herumdaddelte) – aber Detektivgeschichten, die las er besonders gern.
Ich hatte ihn am Haken.
»Ganz genau. Wie Detektive«, sagte ich. »Bist du dabei?«
»Bin ich«, bestätigte Tom.
»Schlag ein«, sagte ich und hob meine rechte Hand.
Tom raschelte mit seiner Bettdecke. Außerdem war das schrille Bimmeln einer Türglocke zu hören.
»Mach ich«, sagte Tom. »Wenn wir uns das nächste Mal treffen.«
Wieder das schrille Bimmeln.
»Es klingelt«, sagte ich.
»Ja«, brummte Tom. Durch den Lautsprecher meines Telefons hörte ich ihn eine Treppe hinuntertapern. Dann öffnete er die Haustür.
Davor stand ich. Mit erhobener rechter Hand.
»Huch!«, machte Tom.
»Schlag ein!«, wiederholte ich.
Tom gehorchte und donnerte pflichtschuldig seine große Pranke gegen meine kleine Handfläche.
Wenig später saß ich in der baxterschen Küche, die in etwa die Ausmaße des Kofferraums von unserem Geländewagen hatte. Überall standen Becher, Tonkrüge, Figürchen, mehr Becher und noch mehr Figürchen herum. Den meisten Platz aber nahm Toms Mutter ein, die im Gegensatz zu dem Haus, das sie bewohnte, gigantische Ausmaße hatte. Trotzdem schaffte sie es, keinen einzigen der Becher und Tonkrüge mit den schlackerigen Ärmeln ihrer Fransenbluse zu Fall zu bringen. Auch die dreitausend Figürchen kippten beim Auftischen von Speck, Rühreiern und Toastbrot nicht um.
Es roch nach Earl Grey Tee.
Und ich fühlte mich wunderbar.
Fast noch sicherer als bei Mama im Wagen.
Kapitel 5
Der Blutige Schinken

Obwohl ich vor nicht allzu langer Zeit bereits eine Portion Rührei verdrückt hatte, langte ich bei den Baxters ordentlich zu. Ein zweites Frühstück war ja nie verkehrt und im Gegensatz zu der etwas trüben Vorstellung bei uns heute Morgen im Schloss ging es bei Tom ziemlich fröhlich zu.
Mr Baxter quetschte sich mitsamt seiner Polizeiuniform in die Küche und erzählte Tomatenwitze. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob Toms Vater nicht seinen Beruf verfehlt hatte, denn er war wirklich gut darin, Tomatenwitze zu erzählen. Das hätte er auf jeder Bühne machen können und bestimmt wären alle Plätze im Zuschauerraum besetzt gewesen. Na ja, immerhin hatte Moorwood auf diese Weise den lustigsten Polizeichef von England.
Dann unterhielten sich Tom und sein Vater über eine Denksport-Olympiade, die gerade live im Internet lief. Das war stinklangweilig, aber Mrs Baxter versorgte mich währenddessen mit Geschichten aus ihrem Laden, in dem sie allen möglichen merkwürdigen Krimskrams verkaufte und dementsprechend merkwürdige Kunden hatte. Ein Mann mit einer knallroten Krawatte, die noch dazu mit den Symbolen verschiedener Sternzeichen bedruckt gewesen war, hatte sich in ihrem Laden die Vitrine mit den magischen Heilsteinen angeschaut. Und dann die Kristallkugeln. Und dann hatte er alle Postkarten gekauft, auf denen unser Schloss abgebildet war. Und etwas später am Tag war ein anderer Mann in den Laden gekommen, der trotz der Hitze eine schwarze Lederjacke getragen hatte und der ebenfalls alle Postkarten haben wollte, die Moorwood Castle zeigten. Nur dass eben keine mehr da waren. Da hatte der Mann angefangen zu schimpfen, aber nicht auf Englisch.
»Ich glaube, es war Russisch«, erklärte mir Mrs Baxter.
Daraufhin hörte Mr Baxter auf, mit Tom über Denksport zu sprechen, und gab einen Tomatenwitz zum Besten, in dem außer Tomaten auch ein Russe, ein Chinese und ein Eisbär vorkamen. Der Witz war so komisch, dass selbst Tom vor Lachen fast vom Stuhl fiel, und er war einiges an Tomatenwitzen gewohnt.
Schließlich ging Mr Baxter zu seiner Polizeistation, Mrs Baxter in ihren Laden und Tom und ich gingen in Toms Zimmer.
»Wir haben eine erste Spur«, verkündete ich.
»Echt?« Tom machte so große Augen wie der Teddybär, der auf dem Oberteil seines Pyjamas prangte.
»Schickes Teil«, sagte ich.
Tom wurde rot. Er nuschelte etwas, das ich nicht verstand, und verschwand mit seinen Klamotten im Badezimmer.
»Hast du nicht gehört, was deine Mutter erzählt hat?«, rief ich durch die geschlossene Tür.
»Was denn?«, fragte Tom.
»Da waren diese beiden Herren, die Ansichtskarten von Moorwood Castle kaufen wollten. Der eine hat alle abgestaubt und der andere ging leer aus.«
»Und das ist eine Spur?« Tom erschien wieder auf der Bildfläche.
»Jetzt denk doch mal nach«, forderte ich ihn auf. Als Detektiv war Tom gerade eindeutig nicht in Bestform. Warum eigentlich nicht?
Aha!
Sein Blick ging an mir vorbei, geradewegs auf den Bildschirm seines Computers zu, den er auf dem Weg ins Badezimmer noch schnell angeschmissen hatte. Auf dem Monitor war ein Feld zu sehen, das aus verschiedenen Plättchen bestand, so ähnlich wie ein Schachbrett, aber ziemlich bunt. Ein verpeilt aussehender Typ stand vor dem Feld und schien die bunten Plättchen auf irgendeine Art ordnen zu müssen. Meine Güte, war das langweilig. Ich machte einen Schritt zu Toms Schreibtisch, bückte mich und zog den Stecker vom Computer.
»He!«, protestierte Tom.
»Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun«, sagte ich.
»Die Denksport-Olympiade ist auch wichtig«, maulte Tom.
»Aber nicht so wichtig wie unsere Detektivarbeit«, widersprach ich.
Tom seufzte. Er wusste, dass ich recht hatte.
»Also, da waren diese beiden Typen, die Postkarten kaufen wollten«, setzte Tom an. Jetzt kam er so langsam in Fahrt. »Der eine hat gleich alle gekauft, die da waren. Auch Motive, die er dann doppelt hat«, folgerte er.
»Gehen wir mal davon aus, dass er sie nicht gekauft hat, um seiner Verwandtschaft Urlaubsgrüße aus Moorwood zu schicken«, sagte ich.
Tom nickte. »Dann hat er vielleicht so viele Postkarten gekauft, weil er nicht wollte, dass noch andere Leute Postkarten von eurem Schloss abbekommen.«
»Und wer könnte daran ein Interesse haben?«, fragte ich und wedelte mit den Armen, um anzudeuten, dass ich die Antwort auch selbst wusste und die Frage nur stellte, um Tom auf die Sprünge zu helfen.
»Du meinst, dieser Mr Bommel, der euer Schloss kaufen will?«, sagte Tom etwas träge. Er rieb sich über die Stirn.
»Na klar.« Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, Tom zu schütteln. Aber ich tat es nicht. »Natürlich war er das. Deine Mutter hat gesagt, dass der Typ eine alberne rote Krawatte trug. Das passt doch genau zu jemandem, der den albernen Namen Mr Bommel hat. Du brauchst nur eins und eins zusammenzuzählen. So machen das gute Detektive. Übrigens spricht man den Namen Beaumel aus, der Kerl ist nämlich Franzose. Aber ich sage weiter Mr Bommel.«
»Ich weiß nicht«, brummte Tom noch träger.
Mein Schüttel-Bedürfnis verstärkte sich um ein Vielfaches.
»Ich weiß nicht«, wiederholte er.
»Was weißt du nicht?«, fragte ich ungeduldig. »Wie man den ausspricht, ist ja total egal. Und alles andere ist doch klar. Dieser Bommel war gestern im Laden deiner Mutter, das heißt, dass er hier im Städtchen herumlungert und nur darauf wartet, sich unser Schloss unter den Nagel zu reißen. Bestimmt wohnt er in einem Hotel und genau dort werden wir ihn jetzt aufspüren und ausquetschen.«
»Ich weiß nicht …«
Schütteln reichte eigentlich nicht mehr. Am liebsten hätte ich Tom gegens Schienbein getreten oder wäre ihm auf die Füße gesprungen, aber ich hatte Angst, dass er dann nicht mehr mitspielte.
»Hallo-ho!«, rief ich stattdessen. »Ist jemand zu Hause? Malvina an To-hom! Ich denke, wir wollen Detektive sein!«
»Ja eben«, brummte Tom. »Und Detektive halten sich an die Fakten und ziehen Schlussfolgerungen«, erwiderte er neunmalklug.
»Ja, ja, genau.« Ich lief zur Tür. »Eins und eins macht zwei. So geht’s!«
»Na ja, aber das sind alles keine echten Schlussfolgerungen«, widersprach er. »Wenn jemand Bommel oder Beaumel heißt, bedeutet das nicht, dass er rote Krawatten trägt. Und wenn jemand Postkarten von eurem Schloss kauft, bedeutet das nicht, dass er euer Schloss auch kaufen will. Und selbst wenn es so wäre, bedeutet das nicht, dass er in Moorwood übernachtet.«
Ich wurde sauer. Erstens, weil ich nie und nimmer gedacht hätte, dass mein bester Freund so ein mieser Spielverderber war. Und zweitens, weil er recht hatte.
Wütend stampfte ich mit dem Fuß auf. »Dieser Bommel lauert im Hotel, um was wollen wir wetten?«
Tom zuckte mit den Schultern. Ich sah ihm an der Nasenspitze an, dass er kurz davor war, seinen dämlichen Computer wieder hochzufahren und die noch dämlichere Denksport-Olympiade anzuglotzen. Mit zusammengekniffenen Augen blitzte ich ihn an und versuchte den Mama-Trick, also die wortlose Übermittlung einer wichtigen Botschaft. Sie lautete: Du. Kommst. Jetzt. Mit.
»Na gut«, brummte Tom und schlurfte mir entgegen.
Na, wer sagt’s denn!
Wenig später gingen wir gemeinsam durch die immer noch ziemlich leeren Straßen. Das Städtchen Moorwood war zwar nicht ganz so alt wie unser Schloss, aber dafür um einiges hübscher, zumindest der Stadtteil, in dem Tom wohnte, und wenn man auf Blumenbeete, Strohdachhäuser und sehr saubere Straßen stand. Für mich war das alles ein wenig zu aufgeräumt, aber es gab eine ganze Menge Touristen, die sich das gern anguckten, und deswegen gab es auch ein Hotel. Nach ungefähr zwanzig Minuten waren wir dort.
»Fünf Schokofrösche«, sagte Tom.
Da das Hotel von Moorwood Zur fetten Forelle hieß, starrte ich ihn mit großen Augen an.
»Na, deine Wette«, erklärte Tom. »Fünf Schokofrösche, dass Mr Beaumel nicht in der Fetten Forelle ist.«
Ach, daher wehte der Wind!
»Na klar«, sagte ich siegessicher.
Und dann standen wir auch schon vor unserem ersten Einsatzort.
Und jetzt?
»Und jetzt?«, fragte Tom, obwohl ich ihm diesmal gar keine stumme Botschaft übermittelt hatte.
Ein Plan musste her, und zwar sofort. Ich wollte auf keinen Fall, dass Tom mir noch mal einen Vortrag darüber hielt, wie ein richtiger Detektiv vorging.
»Ich marschiere jetzt da rein«, beschloss ich. »Und dann sage ich, dass ich Betty Bommel bin und zu meinem Onkel will, der hier wohnt. Und dann sagt mir der Typ an der Rezeption, in welchem Zimmer der Bommel wohnt, und wir wissen Bescheid.«
»Aber …«, fing Tom an, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Statt mit ihm zu diskutieren, stieß ich die schwere Eingangstür der Fetten Forelle auf und ging hinein. Drinnen war es ziemlich dunkel und es roch noch feuchtem Mörtel. Merkwürdig. Aber gut, wenn die hier Strom sparen wollten, umso besser, das erhöhte wenigstens die Chancen, dass mich keiner erkannte.
Ich ging zu dem Typen am Empfangstresen, der damit beschäftigt war, einen großen Karton mit Styroporplatten auszupacken.
Komische Tätigkeit für einen Empfangstresen-Typen.
Hier stimmte etwas nicht. Aber was?
»Oh, hallo, ist das nicht die kleine Lady Malvina?«, flötete er mir entgegen.
Mist.
»Was verschafft mir denn die Ehre?«, wollte er wissen.
Doppel-Mist.
»Nichts«, sagte ich. Was Besseres fiel mir einfach nicht ein. Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte nach draußen, wo mich Tom mit einem Grinsen empfing. Sah man mir meinen Misserfolg so deutlich an?
»Was ist?«, knurrte ich. Leider war ich nicht gut darin, schlechte Laune zu verbergen.
»Die haben geschlossen, weil renoviert wird.« Tom zeigte auf ein großes Schild, das neben dem Eingang stand. Man musste schon sehr blind sein, das zu übersehen.
»Mr Beaumel ist nicht hier«, schlussfolgerte er überflüssigerweise.
»Was du nicht sagst«, zickte ich ihn an. Das war nicht fair, aber mein Reinfall setzte mir ziemlich zu.
»Vielleicht ist er im Blutigen Schinken«, sagte Tom.
Zum Blutigen Schinken, so hieß das Wirtshaus in einer Seitenstraße vom Marktplatz, übrigens eine etwas weniger aufgeräumte Gegend von Moorwood. Die Erwachsenen sagten zwielichtig dazu, und es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass Kinder am Blutigen Schinken nicht vorbeigehen durften, ohne die Straßenseite zu wechseln.
»Im Blutigen Schinken gibt es ein paar Fremdenzimmer«, sagte Tom. »Vielleicht ist dein Mr Beaumel ja dort abgestiegen, falls er sich tatsächlich noch in Moorwood aufhält.«
»Genial!«, lobte ich ihn für seine gute Idee und klatschte etwas albern in die Hände.
»Na ja«, meinte Tom, »das steht da auf dem Schild.«
Er drückte seinen Daumen auf die Tafel und las vor: »Gästezimmer vermietet Mr J. Randolf, Gasthaus Zum Blutigen Schinken, Marktstraße 11. Ein größeres Hotel finden Sie in unserem Nachbarort West Bucklington. Ab September sind wir dann wieder für Sie da.«
Tom sah mich mit funkelnden Augen an. »Ich habe einfach eins und eins zusammengezählt.« Er grinste breit. »So machen das doch gute Detektive. Hast du selbst gesagt.«
»Hm«, brummte ich.
Vergnügt pfeifend zog Tom los, ich trottete hinterher. Das passte mir zwar eigentlich gar nicht in den Kram, aber ich hatte keine andere Wahl.
»Da ist es«, sagte Tom, als ob ich auch noch zu blöd wäre, das Gasthaus im Halbdunkel der Seitenstraße zu erkennen. An einer Eisenstange über der Eingangstür baumelte eine hölzerne Schinkenkeule, deren rote Farbe schon etwas verblichen und verwittert war. Im Mauerwerk klafften Risse und die Fenster mussten auch mal wieder geputzt werden … Schon als ich klein war, hatte dieses Haus eine dunkle Anziehungskraft auf mich gehabt, und ich war immer traurig gewesen, wenn Mama mich schnell daran vorbeigezerrt hatte.
Inzwischen war ich allerdings alt genug, um zu verstehen, warum sie das getan hatte.
Aus der Tür des Gasthauses trat gerade ein Mann, dessen ungesunde Gesichtsfarbe ein wenig dem über ihm baumelnden Holzschinken glich. Eine Wolke aus Tabakqualm und der scharfe Geruch von noch schärferen Getränken waberten uns entgegen.
»Heudehamwirallelampenan«, lallte der Mann, nachdem sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen hatte. Er torkelte auf uns zu, und wenn Tom nicht zur Seite gesprungen wäre, hätte der Mann ihn angerempelt.
»Puh«, machte Tom.
Ich nickte und hielt mir die Nase zu.
»Und jetzt?« Er sah mich fragend an.
Erfreut darüber, dass er nicht mehr die Führungsrolle beanspruchte, reckte ich mich auf die Zehenspitzen. Das Dumme war nur, dass ich auch nicht so richtig weiterwusste. Durch die verschmierten Glasscheiben konnte ich nicht besonders viel erkennen, aber doch genug, um einzusehen, dass weder Tom noch ich so einfach in den Schinken hineinspazieren konnten.





