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»Mein Vater hat danach ziemlich rumgedruckst.« Clara war sich nicht sicher – wegen des Katers, oder weil ihm das ganze gestunken hatte? »Er maulte: Du mußt doch nicht denken, daß sich Pieck seine Papyrossi selber dreht.«
»Aug in Aug mit der Macht.« Brücken war bester Stimmung. »Der schlichte Genosse von der Basis schnuppert Höhenluft. Gut, daß mein Schwiegervater mal ahnt, wie Politik wirklich abläuft.«
»Ich laß nichts auf meinen Papa kommen.«
»Brauchst auch nicht.«
»Und dann«, Gärtner wollte gewichtig klingen, »Hartmut, mußte in die Partei.«
»Muß nicht.«
»Wenn du Leiter werden willst …«
»Ob ich eintrete, ist die Frage, ob ich jemals da reinlatsche. Aber als Koppelgeschäft – nie.«
Gärtner habe brutalsten Gruppendruck erlebt, als er und seine Kameraden im Wehrertüchtigungslager in die Waffen-SS gepreßt werden sollten. Nachdem die ersten drei unterschrieben …
»Ach, kein Thema für heute abend.«
Clara schaute bewundernd auf ihren Mann – allerliebster Dickschädel, herrlicher Sturkopp, und nur sie wickelte ihn um den Finger, manchmal. Sie sah sich vor einem Bauernhaus, Windeln flatterten. »Opa und Oma kommen auf ein paar Wochen. Euch quartieren wir im Gasthof ein. Die Bäuerlein drängen Hartmut ihre Gänse und Schweinchen förmlich auf, denn er repariert ihnen am Abend ihren Schrott. Ihr fahrt zurück mit dem Koffer voll Räucheraal, denn nahebei ist ein See und der Fischer mein Verehrer. Die Hauptsache: Unsere drei Kinder wachsen in sauberer Luft zu Prachtkerlen heran.«
Gitta Gärtner begriff zuerst: »Drei?«
Clara strahlte, Hartmut warf sich in Siegerpose, tja, die Sache stünde fest, zum Thomas und dem Bienchen gesellte sich demnächst die Nummer drei. Oma und Opa, die Kindernarren, seien geradezu aus dem Häuschen.
»Sieben Tage lang wart ich schon auf dich« stand auf der RIAS-Hitparade weit oben. Der Schlagzeuger griff zur Klarinette, reckte sie steil, schwenkte sie über die Kante des Podiums. Der Pianist drosch aus Augenhöhe auf die Tasten, wildes Bekenntnis: Jetzt stürmen, stürzen alle Gedanken nach Westberlin, zum RIAS und seinem Tanzorchester, zu Bully Buhlan und Rita Paul in der Waldbühne. Wenn die Combo jetzt eins draufsetzte mit »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm«, verbannten die Verantwortlichen womöglich den Gaststättenleiter in eine Bruchbude der Preisstufe II ins Vogtland, und die Musikanten verloren ihre Auftrittsgenehmigung. Aber es blieb bei halber Provokation. Pause.
Kein anderes Thema mehr als das im Anmarsch befindliche Kindchen. Bestürzung zunächst, als die Periode ausgeblieben war und sich trotz sanfter Hausmittelchen nicht einstellen wollte. Das kannten alle vier und nickten bitterernst. Gärtner rief nach Sekt, den brauche er auf den freudigen Schreck. Eine künftige Mutter finde nichts Belebenderes für die Milchproduktion als ein perlendes Schlückchen – da kriegte er von seiner Frau eins auf den Mund. Hehe, eine Runde auf Gärtners Rechnung! Vier Herrengedecke, und wenn Clara vernünftigerweise nicht mittrinken wolle, genüge ein symbolisches Nippen. Was für ein Abend!
Mecklenburg oder nicht – Brücken fühlte sich oben. In seiner Bude zerrten sie an ihm und bewiesen jeden Tag, was er ihnen wert war. Wenn er in die Taiga zog, lag es an ihm, wie er sein Leben aufbaute, ausbaute. Wenn er Bitterfeld »die Treue hielt«, wie es ein Arsch von der Parteileitung formuliert hatte, konnte er Forderungen stellen: Ich brauche zwei von den neusten Schweißapparaten für meine Brigade, sonst …
Mit dem Rhythmus kam der Schlagzeuger schlecht zurecht, hilfesuchend blickte er zum Pianisten. Brücken vermutete Südamerikanisches, Samba vielleicht. Wenn er von derlei Taktgewirr auf der Tanzfläche überrascht wurde, schaltete er resolut auf Foxschritt. Der Saxophonist ließ sein Instrument sinken und starrte vor sich hin. Aus seinem Mundwinkel kroch ein dunkler Faden und sickerte zum Kinn. Brücken wollte Gärtner anstoßen, da ruckte der Saxophonist nach vorn, ein Schwall brach aus seinem Mund, Kotze oder Blut. Brücken war sofort hoch und ein paar Schritte über die Tanzfläche, packte schlaffe Schultern und begriff: Blutsturz, wie er ihn bei einem Kollegen erlebt hatte in spätem Stadium der Tbc. Der Schlagzeuger öffnete die Schlaufe des Saxophons und legte das Instrument behutsam zur Seite, murmelte: Ganz ruhig, Gustl, ganz ruhig. Brücken blickte an sich hinunter, er hatte nichts abbekommen. Am Tisch waren sie sich einig: Unverantwortlich, so herumzulaufen und seine Tuberkel in die Luft zu pusten. Bloß raus!
Während Brücken und Gärtner zahlten, setzten sich Pianist und Schlagzeuger wieder hinter ihre Instrumente. Sie begannen mit »Moonlight Serenade«. Nein, versicherte der Kellner, so was sei noch nie passiert, der Mann arbeite hier seit Wochen. Ja, sie hätten einen Arzt gerufen. Bei »Pennsylvania 6-5000« riefen die Musikanten dazwischen: »Zwo-drei-vier – jetzt ein Bier.« Clara fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie nicht sofort ins Freie kam. Sie liefen die Treppe hinab und durch die Passage auf den Markt. Tagelang freue man sich auf einen schönen Abend, und dann das. Gärtner schüttelte den Kopf; sogar in russischen Gefangenenlagern habe es Isolierbaracken gegeben.
Langsam gingen sie zum Hauptbahnhof; andermal waren sie gerannt, um den letzten Zug zu erwischen. Clara spürte ein Kribbeln in den Brustspitzen – schwer vorstellbar, daß die Dingerchen sich jetzt schon aufs Stillen einrichteten. Ihre Gedanken kreisten unablässig ums Würmchen, bei den beiden anderen Kindern war das nicht so kraß gewesen. Wenn es zehnmal bei der Reichsbahn drunter und drüber ging, das Muttertier baute sich seine Höhle. Sie stellte sich vor, sie wohnten am Rande eines Dorfes, den Korb stellte sie neben der Hoftür in die Sonne. Das Baby lauschte aufs Sirren der Schwalben, das mochte es. Katze auf der Türschwelle. Kein Gestank aus Chemieküchen, kein Rußregen.
Ihr Zug stand vor der Halle in völliger Dunkelheit. Erst im sechsten Abteil fanden sie einigermaßen schließende Fenster. In die »Femina« kämen sie nicht so bald wieder, darüber waren sie sich einig. Nächstes Wochenende sollten sie daheim ein Gesöff aus Bergmannsschnaps und Kunsthonig mixen, »Kumpeltod« der sanften Variante. Herrliche Zeiten brachen an, sie soffen nur noch zu dritt.
Der Zug war pünktlich.
3
Bruno Pfefferkorn spürte ein quälendes Zerren die Beine hinauf; die Muskulatur hatte in der Haft stärker gelitten, als er sich eingestehen wollte. Daran würde er eines Tages zugrunde gehen. Nichts besserte sich trotz Tabletten und Spritzen und Massagen, das Elend konnte nur hinausgezögert werden. Zwischenstadium: Rollstuhl.
Er stand leise auf, um seine Frau nicht zu wecken, und setzte sich in der Küche ans offene Fenster. Die Nacht war lau, die Stadt still, bald würden die ersten Straßenbahnen ausrücken.
Thekla schlief wie immer ihre acht oder zehn Stunden durch, gesunder Schlaf der Jugend. Es lebte sich voller Glück und ohne jeden Konflikt mit ihr, noch. Sie sah in ihm den Helden; wie sie schwärmte gleich nach dem Krieg so manches Mädchen im frischen Blauhemd. Ihr Elan spornte ihn an, das konnte in fünf oder zwei Jahren schon Vergangenheit sein. Er hielt nicht mehr viel aus, ein simpler Schnupfen, den andere wegsteckten, schmiß ihn für Wochen um. Irgendwann verfaulte er im Sanatorium, sie war dann an einen alten Knakker gekettet. Verzichtete auf Scheidung aus Mitleid und Respekt; einen verdienten Kämpfer ließ eine Genossin nicht im Stich. Sie mußte höllisch aufpassen, wenn sie einen Mann mit ins Bett nahm, war von Moralgetue und Gehässigkeit umzingelt. Er hatte nicht auf seine Mutter gehört, als sie ihn warnte: Du zerrst das blühende Ding mit in deinen Sarg.
Er rührte Haferflocken an, endlich wurde es fünf. Wenigstens war es hell, die Vögel begannen, ihre Reviere abzustecken. Vor dem Winter grauste ihn. Halb sieben würde er endlich abgeholt werden. Die Frühnachrichten im Radio: Um den großen weisen Stalin zu ehren, verpflichtete sich das Walzwerk Hettstedt, im Wettbewerb des zweiten Quartals durch fünfzehnprozentige Normerhöhung die Bruttoproduktion um zehn Prozent und die Arbeitsproduktivität um vier Prozent zu steigern, während die Selbstkosten vermindert würden. Das bedeutete Senkung der Löhne, was sonst.
Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, erkannte im Dämmerlicht hinter der zugezogenen Gardine, daß sich Thekla halb aufgedeckt hatte, eine Schulter lag bloß. Er streichelte ihren Nacken und murmelte einen Morgengruß und daß er jetzt fort müsse; sie reagierte stöhnend. Er legte seine Lippen auf ihre Schulter, und während er ihren Duft einsog, überlegte er, ob wohl ein Fünfundzwanzigjähriger in solcher Situation die Decke wegzog und stürmisch über die Geliebte herfiel, sie »nahm«, wie es in Büchern hieß, ein wenig Gewalt war zumindest am Anfang dabei, war »im Spiel«, das klang schon doppeldeutig. Das war passiert in seiner ersten kurzen Ehe, als er aus dem Knast gekommen war nach dem halben Jahr in Zwickau, 1929, wegen Waffenschmuggels aus Böhmen herüber. Wann hatten Thekla und er sich zuletzt geliebt, diese Woche nicht, jetzt war sie beinahe jeden Abend unterwegs. Ihren Stalin-Vortrag wiederholte sie immerzu, besonders tiefgründig fand er ihn nicht, fürs Parteilehrjahr gerade noch geeignet. Er nahm ein Stück Haut zwischen die Zähne, festes Fleisch, biß sanft zu, ließ locker, als sie zuckte. Bis heute abend irgendwann.
Kodelwitz hatte das Arbeitszimmer schon gelüftet und den Tischkalender umgestellt. Vierzehn Stunden im Dienst, meist gutgelaunt, fähig, ein Dutzend Probleme aufeinander abzustimmen und zu verzahnen. Nicht immer mit dem Blick auf das Wesentliche, das würde sich mit der Zeit ergeben. Er war kaum dreißig, seit kurzem Hauptmann, so einem stand jede Laufbahn offen. »Sechs Termine heute, Bruno. Du wolltest mit dem U-Knast beginnen, Vernehmung von Schmolka. Nachmittags Vorbereitung der Veteranenkommission, vielleicht mit Mannschatz. Danach tanzt aus Eisleben ein Genosse an und berichtet über diese Panne bei der Mitgliederwerbung.«
»Das erzählst du mir am Mittag noch mal.«
Auf dem Schreibtisch »Neues Deutschland« und »Freiheit«. Die Beteiligung am Parteilehrjahr war von siebzig auf fünfzig Prozent abgerutscht, erstaunlich, daß derlei öffentlich gemacht wurde. Verhaftungen im Zeiss-Werk Jena, eine Bande von Spezialisten hatte Forschungsunterlagen nach dem Westen verschoben. Appell der Volkskammer an den Bonner Bundestag, alle Bemühungen zu unterstützen, »eine Konferenz zur Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland und der Wiederherstellung der deutschen Einheit einzuberufen, was voll und ganz dem Standpunkt der Sowjetregierung in dieser Frage entspricht«. Theaterdonner. »Und sonst?«
»Lästiges Zeug vom Bezirksgericht, wieder die Sache Erna Dorn.« Kodelwitz wedelte mißmutig über eine Anfrage hin. »Die Dorn schwindelt das Blaue vom Himmel. Oberrichter Brettmann will unsre Untersuchungsergebnisse zurückweisen, ein unerhörter Fall.«
»So was darf unter keinen Umständen einreißen.«
»Hab ich unseren Leuten auch gesagt. Der Vernehmer der Dorn ist ziemlich neu in dieser Funktion.«
»Wenn alle Stränge reißen, muß Wendler ran. Unsere Ermittlung muß sozusagen Gesetzeskraft erhalten, daran darf keiner rütteln dürfen, und ein Weichling wie Brettmann schon gar nicht.«
»Vielleicht ist die Dorn einfach übergeschnappt und spinnt.«
Pfefferkorn wußte: Wenn Häftlinge wochenlang zusammen auf Zelle lagen und der Gesprächsstoff ausging, begannen endlose Prahlereien. Bei Frauen am stärksten. Die eine behauptete, in Schlesien sechs Mietshäuser besessen zu haben, die andere, in Pommern eine Brikettfabrik. Und jede zwei Dienstmädchen. Männer, die fürs Ritterkreuz vorgeschlagen waren, fanden sich haufenweise – leider wäre das Kriegsende dazwischengekommen; der Führer hätte schon … Erna Dorn, Diebin und Betrügerin, zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, wollte im KZ Ravensbrück Aufseherin über drei Baracken gewesen sein.
»Ich hab mir die Dorn mal angesehen, Bruno, mickrig, nicht fürn Sechser hübsch, aber wilde Phantasie. Heute das, morgen das absolute Gegenteil. Dünne Beweislage voller Widersprüche. Drei verschiedene Geburtsorte in Ostpreußen.«
»Soll das Bezirksgericht seinen Mist selber ausbaden.« Die Richter dort hatten Punkte gegenüber dem mächtigen Leipzig sammeln wollen, die Pfeife Brettmann und der vor Ehrgeiz stinkende Holls. Keiner mit Augenmaß. Leipzig verdonnerte Fälscher von Lebensmittelkarten, daß die Schwarte krachte: Todesstrafe und zweimal lebenslänglich. Brettmann kriegte von allen Seiten Pfeffer: Der Klassenkampf verschärft sich gesetzmäßig, und was passiert bei dir? Erst versöhnlerisch, bürgerlich-formalistisch, plötzlich ultralinks. Brettmann, blasse Lusche, eventuell christlich angehaucht von seiner Frau. Aktenwissen – wenn seine Knochen auch schlappmachten, bestärkte sich Pfefferkorn, sein Gedächtnis war eisern, er kannte seine Pappenheimer bis zu den Saufgewohnheiten und Seitensprüngen. »Also, Wendler soll sich die Dorn noch mal vorknöpfen.«
Jetzt die Akte Schmolka. Die Bezirksleitung bohrte, drückte. Es war die Frage, und die Bezirksleitung »stellte sie scharf«, ob dieser Fall mit vergleichbaren Verbrechen gekoppelt zu einem Prozeß mit propagandistischer Wirkung ausgebaut werden oder ob Schmolka rasch und allein verknackt werden sollte, mit zwanzig gesiebten Zuhörern statt zweihundert. Zehn Jahre Zuchthaus oder zwölf. Besitzer einer Bauschlosserei mit dreißig Beschäftigten, zweckfremder Einsatz von Material, bei der Hausdurchsuchung siebzehn Gläser mit eingekochter Wurst, eine halbe Speckseite und drei Pfund Rohkaffee gefunden, acht Kartons Friedensseife, Anzugstoffe. In diesen Kreisen wusch immer eine Hand die andere. Hatte Arbeitskräfte und Material abgezweigt, um eine Pension im Harz in Schuß zu halten, dort machte er mit seiner Familie Urlaub. Im Kirchenvorstand, seine Kinder in der Jungen Gemeinde. Mal ansehen, den Burschen.
Kodelwitz telefonierte zum Untersuchungsgefängnis hinüber – ja, Schmolka werde gerade vernommen. Kodelwitz bestellte den Dienstwagen und gab als Ziel an: Steinstraße. Jedesmal, wenn Pfefferkorn durch die Schleuse fuhr, wenn das Tageslicht ausgesperrt wurde und es nach feuchter Mauer, Keller und Angst roch, überfiel ihn die Erinnerung, daß ihn die Nazis hier geprügelt hatten, bis die Haut platzte. Sie schleppten ihn nach Buchenwald, da baute Schmolkas Vater gerade seinen Betrieb aus, verdiente sich dumm und dämlich an der Rüstung, beschäftigte im Krieg Zwangsarbeiter. Darüber standen im Vernehmungsbericht nur Bruchstücke, das würde zum Part des Staatsanwalts gehören, zum politisch-moralischen Umfeld. Der Angeklagte als Leutnant im Afrika-Korps. Pfefferkorns frischentdeckter alter Kumpel zu dieser Zeit Bauarbeiter in der Organisation Todt, er hatte sich die Kaderunterlagen zustellen lassen. Mannschatz beim Bunkerbau in Norwegen, beim Reparieren von Brücken in der Ukraine. Er mußte alles wissen, ehe er ihn in die Veteranenkommission einbaute. Beide Söhne bei der Infanterie, der eine in Griechenland, der andere vor Leningrad gefallen. Niemand aus der Familie in der Waffen-SS. Mannschatz kurz in sowjetischer Gefangenschaft. Alles im üblichen Maß.
Als Pfefferkorn in den Vernehmerraum trat, hob Schmolka den Kopf. Pfefferkorn nickte seinem Genossen zu: Weitermachen. Er schaute scheinbar interessiert auf das beherrschende Stalinbild, der Führer des Weltproletariats im Soldatenmantel, im Hintergrund angreifende Panzer. Trauerflor um eine untere Ecke.
»Warum haben Sie Arbeitskräfte von Buna abgezogen?«
»Weil es dort kein Material gab. Die Bleche kamen nicht.«
»Das konnte doch nicht ewig dauern.«
Schmolka wendete den Blick zu Pfefferkorn, ohne Scheu, prüfend. Der Untersuchungsgefangene saß auf einem an die Wand geschraubten Schemel, die Hände vorschriftsmäßig flach auf den Oberschenkeln. Er steckte in einem Drillichanzug mit eingenähten gelben Streifen, das Haar war an den Seiten mit der Maschine geschnitten, oben blieb eine komische Bürste. Schmolkas Antworten klangen nicht wie von einem, der mit den Nerven am Ende war; fünf Monate Haft hatten ihn keineswegs zermürbt. Wenn sie ihn in ein paar Wochen vor Gericht stellten, würde er kein schlotterndes Häuflein Elend darstellen. Also Ausschluß der Öffentlichkeit.
»Ich hatte vier Leute dort, zwei ließ ich für Restarbeiten, die beiden anderen setzte ich zum Bahnhof Eisleben um. Dort sollte meine Firma Bahnsteigüberdachungen abbrechen.«
»Das ist nicht mehr Ihre Firma, Schmolka!«
»Damals war sie es, und wir reden von damals.«
»Werden Sie nicht frech, Schmolka!«
Diese Schärfe fand Pfefferkorn übertrieben, der Vernehmer wollte wohl Eindruck auf seinen Chef machen. Überall beim MfS waren zu junge Genossen am Werk, wenigstens verfügten einige über gewisse Erfahrungen bei der Kripo. Schmolka schwieg, und Pfefferkorn überlegte: Mit dem da konnte schwerlich ein Sündenbock für alle Mängel in der Schwerindustrie gefunden werden, er gab allenfalls ein Sündenböckchen ab, wenn Sindermanns schärfste Jungs bei der Berichterstattung kräftig draufsattelten. Pfefferkorn nahm einen stärker werdenden Geruch wahr – Fäkalien und Chlor, in einem der Stockwerke über ihm wurde gekübelt: Die Häftlinge trugen ihre Eimer zu einer Zelle am Ende des Gangs, dort kippten sie aus, spülten mit Wasser nach, füllten Chlorkalk ein, blankes Mittelalter. Das kannte er: Wer zuwenig Chlor einlöffelte, hatte den Scheißegestank um die Nase, bei zuviel blubberte das Gas unter dem Deckel hoch. Das richtige Maß fand ein Häftling erst nach Wochen. Der Antrag, wenigstens einen Flügel auf Wasserspülung umzubauen, war gerade erst wieder abgelehnt worden – Überbelegung und zu hohe Kosten, im nächsten Plan vielleicht.
»Wie war das mit dem Verschieben von Lötzinn nach Westberlin durch Ihre Leute?«
»Davon weiß ich nichts, und ich halte es auch für unwahrscheinlich. Die Zuteilung war zuletzt so minimal, daß die Kontrolle leicht fiel.«
»Und Sie selber?«
Schmolka schwieg, legte den Kopf schief, lächelte.
»Ihnen wird das Lachen noch vergehen, Schmolka!«
»Ist schon weitgehend.«
»Also raus mit der Sprache!«
Schmolka war seine Klitsche los, dazu reichte es immer. Ein Ausbeuter weniger, Prozeß ohne Schmiß und Eleganz. Wahrscheinlich mußte die halbe Speckseite doch noch herhalten. Pfefferkorn wünschte sich einen schurkischen Angeklagten, einen wuchtigen Vernehmer und ein knalliges Verbrechen, eine runde große Sauerei. Die Firma würde einem volkseigenen Betrieb angegliedert, das Wohnhaus enteignet, die Frau haute mit ihren Kindern nach dem Westen ab – Routine.
Nach einer halben Stunde ging Pfefferkorn leise hinaus. Von seiner Dienststelle aus rief er daheim an – Thekla saß längst vor ihren Büchern. Die Bezirksparteischule experimentierte mit einem häuslichen Studientag, schwierig für alle, die noch nicht gelernt hatten, wie man ihn nutzte. »Guten Morgen, großer Genosse!« rief sie, »und herzliche Grüße von der wissenschaftlichen Front!« Sie lese im »Antidühring« von Engels ein paar Stellen, die von der Schulleitung nicht zur Lektüre ausgewählt worden seien, und finde sie spannend. Verzettele dich nur nicht, wollte er ihr raten und behielt es für sich. Sein Tag sei noch lang, ja, er sei herzlich einverstanden, wenn sie am Abend seine Mutter besuchte. Er käme diese Woche bestimmt nicht mehr dazu. Und frohes Schaffen!
Kodelwitz war fort zu einer Kreisdienststelle, den Terminplan hatte er ergänzt: Bei Wettin war ein Hetzballon niedergegangen. Die Sekretärin wußte mehr: Er war in einer Starkstromleitung hängengeblieben, Gefahr von Kurzschluß und Waldbrand bestand. Außerdem: Der Genosse Oberstleutnant möge in Ammendorf nachfragen, was in einer Entwicklungsabteilung passiert war – Drohung mit Streik, sollte das Betriebsessen nicht besser werden. Neuerdings nahm das Wort »Streik« überhand – begriff denn niemand, daß es in eine überwundene Epoche gehörte? Ermitteln, in welchem Maße dort ehemalige Nazis oder Offiziere konzentriert waren. In Merseburg stockte die Kartoffelversorgung, wer nicht reichlich eingekellert hatte, stand hungrig da. Es wurde verdammt Zeit, daß das erste Frühgemüse in die Läden kam. Wozu war er eigentlich da, Mädchen für alles? Wenn er sämtliche Leiter für Versorgung vor den Kadi brachte, wuchs deshalb kein einziges Radieschen zusätzlich.
Der Ballon, den ihm der Leiter der Kreisdienststelle vorführte, hatte einen Durchmesser von knapp einem Meter und trug eine Vorrichtung, die nacheinander bis zu zweihundert Flugblätter ausklinken konnte. Die Mechanik – Bastelarbeit. Der Text sprach von Druck auf Mittel- und Großbauern. Die Versorgung mit Saatgut in der Zone werde von Jahr zu Jahr miserabler. Neuerdings gelte die Anweisung, jede Fläche mit irgendeiner Frucht zu bestellen ohne Rücksicht auf Bedarf oder Versorgungsplan – das stimmte, leider. Überall ginge die Milchleistung zurück. Stimmte auch. Karikaturen von Ulbricht und Grotewohl wie üblich. Ein Bauer aus dem Harzvorland, jetzt in Schleswig-Holstein, gab seinen Namen für einen Artikel her, der unmöglich aus der eigenen Pfote stammen konnte: SED-Funktionäre hätten ihn zur Verzweiflung getrieben, weil er sich nicht in die LPG habe pressen lassen, sein Ablieferungssoll sei unerträglich hochgetrieben worden, bis ihm keine Luft mehr blieb. Roter Terror, selbst seine Kinder … Pfefferkorn riet, den Ballon in einem Schaufenster auszustellen, Erläuterungen dazu: Um ein Haar sei er aufs Dach eines Kindergartens gefallen. Vor nichts schreckten die Kriegstreiber zurück – etwa in diesem Sinne. »Macht was draus, Genossen!«
Jetzt noch einen Besuch? Es mußte nicht bei jedem Gespräch etwas Konkretes herauskommen. Pfefferkorn ließ am Haus von Mannschatz vorbeifahren und wenden; hundert Meter entfernt sollte der Genosse Fahrer warten. Doppelte Konspiration, sein Berater schärfte ihm das immerzu ein. Keine Kumpanei mit dem Fahrer! Sie waren per du, das ließ sich nicht rückgängig machen. Die sowjetischen Genossen lebten derlei vor: Einem Offizier, der zum Bahnhof ging, trug ein kurz geschorener Muschik mit zwei Schritten Abstand den Sperrholzkoffer hinterher.
Die Gartentür stand offen, Pfefferkorn ging langsam an der Giebelseite entlang. Vom Sitzen im Auto waren seine Beinmuskeln schlaff geworden, er »eierte«, ein Begriff aus der Kindheit. Ein etwa achtjähriger Junge hockte an einem Sandplatz, Mannschatz kratzte Farbreste von einer Schuppentür. Jetzt, im fleckigen Hemd, das dünne Haar wirr, erschien er älter und verbrauchter als beim Wiedersehen in Halle.
»Das ist aber mal ’ne Überraschung!«
»Die Seele meines Berufs, Alfred.«
Mannschatz legte die Drahtbürste weg und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Wird Zeit, daß alles wieder bißchen Farbe kriegt.«
»Hast du genug?«
»Man muß sich kümmern.«
Pfefferkorn schaute sich um: Kaninchenstall mit gut einem Dutzend Boxen, Hühner in einem Drahtkäfig.
»Gehn wir rein, Bruno?«
»Ist doch hübsch draußen.« Stühle um einen Gartentisch, SPD wie aus dem Bilderbuch – er würde jede Bemerkung in diese Richtung vermeiden. Mannschatz wolle Kissen holen. Und was zu trinken. Stachelbeerwein? Nach ein paar Minuten war er mit einem Tablett wieder da, hatte eine Drillichjacke übergezogen. Unterdessen fragte Pfefferkorn den Jungen, wie er heiße und in welche Klasse er gehe. Etwas anderes fiel ihm bei Kindern selten ein. Thomas, aha, schöner Name. Der Junge machte sich hinters Haus davon.
Mannschatz goß ein, der Wein schimmerte tief dunkel. Seine Frau habe Spätschicht in ihrer Betriebsküche, Tochter und Schwiegersohn müßten bald kommen. Ja, seine Tochter habe bei der Reichsbahn gelernt von der Pike auf. Reichsbahn sei wie eine Familie, dort gäbe es nicht diese Fluktuation wie in der Industrie neuerdings. Und kaum Republikflucht. Stachelbeerwein hätte er letztes Jahr soviel angesetzt, wie er Flaschen auftreiben konnte. »Prost, Meiner! Hast in der Nähe zu tun?«
»Das auch.« Pfefferkorn bot Zigaretten an, diesmal aus normaler Schachtel. Er hätte Schnaps mitbringen können, hätte womöglich großkotzig gewirkt. »Vor allem will ich dich wiedersehen. Nicht immer im Dienst stecken mit immer den gleichen Problemen. Schmeckt, dein Wein.«
»Und geht in die Birne.«
»Wie bist du denn durch den Krieg gekommen?«
Zur Organisation Todt sei Mannschatz ab 1943 gezogen worden; soviel wußte Pfefferkorn. Vorher unabkömmlich im Betrieb. Danach kurze Zeit in sowjetischer Gefangenschaft, ein paar Wochen in der Tschechoslowakei. Und wo im Einsatz? Norwegen, Ukraine, Bau und Reparatur von Brücken. Auch die Organisation Todt war zur Partisanenbekämpfung herangezogen worden, zumindest hatte sie ihre Baustellen bewacht und verteidigt. So war es bei neunzig Prozent aller Genossen in diesem Alter – kein Lebenslauf ohne Flecken, das Klassenbewußtsein versaut. »Hab wegen deiner Kur angefragt.« Das stimmte nicht, er würde es nächste Woche nachholen. »Wäre was für dich, Alfred, Mitarbeit in der Veteranenkommission.«


