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»Ehrlich, Bruno, bei uns in Bitterfeld sind da nur Genossen aus der KP drin.«
»Ist grundsätzlich nicht so, kann ja gar nicht. Vielleicht drängt sich niemand sonst zu dieser Arbeit? Mir ist inzwischen einiges eingefallen. Wir lagen damals noch eine ganze Weile auf diesem Damm. Drüben zog die Sipo auf in Schützenkette, und wir hatten fast keine Munition mehr. Du hast mir ’nen Patronenrahmen zugeworfen.«
»Ich denk kaum noch an die alten Geschichten. Der Aufstand war von Anfang an falsch, wir mußten schließlich verlieren. Hunderte Tote, ein paar tausend Jahre Zuchthaus. Ich bin ja mit ’nem blauen Auge davongekommen.«
»Mit deinen Patronen hab ich mir den Weg freigeschossen. Sonst hätten sie mich totgeschlagen.«
»Dann sind wir ja quitt.«
»Unsere große Zeit, Alfred.«
Ein Mann in einem Schlosseranzug schob sein Fahrrad in den Gang. Mannschatz stellte vor: Hartmut Brükken, der Schwiegersohn, frischgebackener Meister. »Ach Scheiße«, sagte Brücken, »den Titel kannste dir an den Hut stecken.« Der Genosse Pfefferkorn aus Halle – aha, sein Schwiegervater habe von der Zusammenkunft neulich erzählt. Brücken stellte sein Fahrrad ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Mannschatz fragte: »Wie war’s heute?«
»Wenn wir so weitermachen, ist der Plan gleich wieder im Eimer.«
Pfefferkorn: »Welcher Plan und warum?«
»Wir bauen ’ne Rohrbrücke, das heißt, wir sollen sie bauen. Aber die meisten Zeichnungen sind Pfusch. Ich hab noch nie so ’ne Hektik erlebt.« An diesem Wort klebte Brücken: Hektik, als ob damit irgend etwas schneller ginge, Hektik in der Planung und ohne Sicherheit beim Material, Hektik in der Werkleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung dort hätte der Vorsitzende den Krempel hingeschmissen. Natürlich diente nun die Gewerkschaft als Sündenbock.
Pfefferkorn: »Und warum haust du nicht auf den Tisch?«
»Da hauen schon viel zu viele auf zu viele Tische. Wir brauchen Ruhe und Material, das isses.«
Ein Kerl wie ein Baum, fand Pfefferkorn, der konnte von Glück reden, daß ihn die Waffen-SS nicht geschnappt hatte. Vielleicht hatte sie ihn zu keilen versucht, aber ein Arbeiterjunge meldete sich freiwillig weder dorthin noch zur Marine oder den Fallschirmjägern, sondern ließ sich einziehen. Helle Augen, die den Gesprächspartner nicht losließen. Schnelle Sprechweise. So einer gehörte ins Studium, mußte die bürgerliche Intelligenz ersetzen. Wenn Thekla so einen kennenlernte – dieser Gedanke war neu, Pfefferkorn versuchte nachzuspüren, inwieweit er quälte oder zur Beschwichtigung einlud: So war der Lauf der Welt. Warum sollte es nicht funken, wenn ihr so einer über den Weg lief. Das wäre nicht fremdgehen im landläufigen Sinne, sondern Ausgleich für Opfer, Belohnung für Opfer, er müßte es schaffen, solch eine Situation, sollte sie eintreten, von außen zu sehen, schön, schlecht, schönschlecht. Kein Thema für heute, ein Problem hoffentlich nie. Pfefferkorn überlegte, wie lange er noch bleiben sollte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand trat an den Tisch. »Meine Tochter Clara mit dem sonnigen Enkelkind.« Mannschatz beugte sich hinab, flüsterte: »Bienchen, Bienchen« und ließ ein Summen folgen. Eine hübsche, gesunde, fröhliche Frau – Pfefferkorn fühlte ein Stechen in der Brust wie stets, wenn er an seine Tochter und die beiden Enkelinnen erinnert wurde, ums Leben gekommen bei einem Bombenangriff auf Dessau.
Thomas kam hinzu und quengelte, sein Vater habe ihm versprochen, ihn auf dem Fahrrad um die Siedlung zu fahren – wann denn endlich? Jaja, nach dem Abendbrot. »Das hast du schon gestern gesagt!« Clara verzog sich mit den Kindern – jetzt aber ab in die Wanne, ihr Ferkelchen! Pfefferkorn tat überrascht, er müsse los und wolle den Familienbetrieb hier keinesfalls aufhalten. Brücken schenkte sich noch einmal Obstwein ein und blieb bei seinem Bild: Der ganze Betrieb voller Tische, an denen unentwegt und immerfort entschieden wurde, und niemand ahnte oder wollte auch nur wissen, wie es an den Nachbartischen zuging. Keinen treffe irgendeine Schuld außer der Gewerkschaft und natürlich dem Schuft von Dispatcher, der angeblich die geheimsten Papiere mitgenommen hatte. Und ihn an der Rohrbrükke beiße jeder irgendwie zuständige Hund.
»Gute Formulierung«, lobte Pfefferkorn.
»Müßtest Hartmut mal in seiner Brigade erleben, wenn er in Fahrt kommt.«
»Und nichts ändert.«
Pfefferkorn bedankte sich für Wein und Gesang und überlegte, ob es großkotzig wirken würde, wenn er die halbvolle Packung liegen ließe. Er nahm noch zwei Zigaretten heraus und steckte sie in die obere Jackettasche. Also auf, Genossen, der Tag sei für ihn noch nicht vorbei.
Mannschatz ging mit zur Pforte. Genossen wie sein Schwiegersohn würden überall gebraucht, versicherte Pfefferkorn, in jedem Betrieb, jeder Verwaltung, bei der Kasernierten Polizei. Hartmut sei nicht in der Partei, sagte Mannschatz, und Pfefferkorn erwiderte, das ließe sich ändern. Mann, diese Perspektiven, nie war es der Jugend so leicht gemacht worden!
Familie wie aus dem DDR-Bilderbuch, fand Pfefferkorn während der Rückfahrt, natürlich nicht ohne verquere Vergangenheit. Vor zehn Jahren stand Mannschatz Wache an einer Brücke gegen die Partisanen, seine Söhne waren Soldat oder schon tot. Clara lernte bei der Reichsbahn unter der Parole, Räder müßten rollen für den Sieg. Er selbst im KZ bei der Produktion von Karabinern 98k als Vorarbeiter von Serben, Griechen und rumänischen Juden. Als Funktionshäftling mußte er sich keine Glatze schneiden lassen. Den Karabiner, den Mannschatz an der Schulter trug, hatte er als Kontrolleur abgenommen. Die Waffe war erstklassig, keineswegs hatte ein Häftling sabotierend den Schlagbolzen abgebrochen, wie er es neulich in einer Erzählung gelesen hatte. Tja, die jungen Genossen Dichter.
Wieder Schmerzen in den Beinen. Zwei Stunden lang heute abend noch eine Beratung mit den führenden Genossen des Bezirks, Sindermanns berühmtes Referat über die Lage. Vielleicht schoß er selber ein paar Spitzen gegen Richter Brettmann ab, lobte strategisch geschickt den Stellvertreter Holls. Dann daheim endlich die Treppen hoch. Thekla. Er sollte umziehen irgendwohin ins Parterre. Was in drei, in zehn Jahren?
Bremsspuren
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Gestank drang beißender als am Vortag über die Bahngleise, da hatte der Wind auch aus dieser Richtung geweht; vielleicht war es wärmer geworden. Ammoniak dominierte, gefolgt von Chlor, etwas wie verfaultes Weißkraut war eingemischt; Erbsen schienen auf glühender Herdplatte zu schwelen. Noch tränten die Augen nicht, das würde im hohen Sommer kommen. Niemand wußte, aus welcher Mistbude das Giftzeug herantrieb, wahrscheinlich nicht einmal der große Genosse, der kürzlich daheim im Garten gesessen hatte, Vaters neuer alter Freund.
Clara Brücken war wie immer zehn Minuten vor Schichtwechsel im Büro; Hemsberger hielt es genauso. Es war besser, den Dienst mit ein paar erklärenden Worten zu übergeben, als die Kladden kalt über den Tisch zu schieben. Sechs Waggons mit Zement galten als überfällig, berichtete der Kollege, den Papieren nach müßten sie auf der Strecke sein. Ziel: Rummelsburg, Nachschub für die berühmte Stalinallee. Keine Auskunft von irgendwoher. Die Forderung der Bezirksdirektion, verstärkt Schwerlastzüge zusammenzustellen, ginge ihm allmählich auf den Senkel. Wieder ’ne Neuerung, für die einer fette Prämien einsacken wollte, im Grunde Stuß. Da blähten sie aus einem Verkehrsministerium drei, den großen Chefs wurde angekreidet, sie zeigten zu wenig Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse. »Zeitung gelesen?«
Woher nahm Hemsberger nach einer langen Nacht die Kraft zu solchem Palaver? Wahrscheinlich aus seiner Wut. Clara zuckte die Schultern.
»Jetzt diese Fahrpreiserhöhung. Heute morgen gab’s an den Schaltern den ersten Krach.«
Clara Brücken fragte sich, was in Hemsberger überwiegen mochte, Mitleid mit Schichtarbeitern und Schülern, deren Dauerkarten teurer werden sollten, oder die Häme, daß wieder etwas in der DDR nicht klappte oder sich verschlechterte. Hemsberger war im Krieg Oberleutnant gewesen, sie wunderte sich seit langem, daß er nicht nach dem Westen abhaute. »Bißchen viel auf einmal.« Was sollte sie sonst sagen.
»Kommt alles von den Russen.« Seine Kollegin tat ihm fast leid. Astreine Arbeiterfamilie, die Hübsche nicht in der SED, das hielt er für eine Frage der Zeit. Ein wenig hinterhältige Agitation, die Verlockung, auf der Rangleiter eine Sprosse nach oben zu steigen, und sie unterschrieb. Marschierte auf Lehrgang, zog an ihm vorbei. »Viel Feind, viel Ehr.« Was brachte das, es gab keinen Grund, sie zu ärgern, und er sollte sich nicht dauernd aus dem Fenster lehnen. Der Ratschlag in Westberlin neulich war bedenkenswert gewesen, in die Nationaldemokratische Partei einzutreten, den Reuigen zu mimen, der am Aufbau teilhaben wollte: Nie wieder faschistischer Raubkrieg! Also zurück zur Praxis: Die Zementwaggons waren vielleicht wie letztens in Dessau hängengeblieben. Ende. Er habe ein paar Tage frei und denke nicht daran, irgendwelchen Frust mitzuschleppen. »Ich fahr hoch zu meinem Bruder. Haben Sie mal Nutriafleisch gegessen? Hochfein!«
»Viel Spaß, Kollege.«
»Danke.« Hemsberger schaute noch zwei Minuten aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Hofes wurde ein Haufen immer niedriger: Jeder der Helden vom Gleisbau nahm nach der Schicht vier oder sechs Briketts mit, ehe sie hier zu Grus zerfielen. Dieser Spruch war neu und großartig: Wer nicht stiehlt, bestiehlt seine Familie.
Hemsberger ließ sich eine Dienstfahrkarte bis Oranienburg ausstellen, über Berlin hinaus also. Vor der Elbbrücke bei Wittenberg zockelte der Zug so langsam, daß es möglich war, auf dem Kasernengelände der Sowjets die Zahl der abgestellten Pontons, Lastautos aus amerikanischer und eigener Produktion, Jeeps und Schützenpanzer zu schätzen. Mehr Schrottplatz als militärisches Objekt. Aber den Krieg hatten die Russen schließlich gewonnen.
Hinter Wittenberg wurde er von Transportpolizisten kontrolliert, er zeigte Personal- und Reichsbahnausweis vor. Er habe drei Tage frei und besuche seinen Bruder; mal sehen, ob er bißchen was zu essen ergattern könne. Er erhielt seine Papiere wortlos zurück. Eine junge Frau gab an, sie wolle zu ihrem Verlobten. Wo der wohne, wie er heiße, wo er arbeite, und ob sie das irgendwie nachweisen könne. Sie wurde patzig: Natürlich nicht! Hemsberger beherrschte sich, bis die Debatte vorbei war – still sein, ganz still. Wichtig war, sich einzuprägen: Etwa dreißig Pontons, zwanzig Lkw, sechs Jeeps und an die zehn Schützenpanzer. Brückenbauteile massenhaft.
An den Krieg und die Gefangenschaft dachte er jeden Tag. Vor zehn Jahren hatte er auf der Krim gelegen, alle Flugfelder waren erfreulich fester als in den Schlammzonen des Mittelabschnitts. Sie flogen über die Halbinsel Kertsch und den Kubanbrückenkopf und griffen Nachschubeinrichtungen an, die kurz zuvor noch in eigener Hand gewesen waren und nun nach wütenden Zerstörungen beim Rückzug vom Iwan ausgebaut wurden; erstaunlich, was der an Material nachzog. Die He 111 war genau die richtige Maschine über mittlere Entfernungen gegen Punktziele. Perfekt aufeinander eingespielte Besatzungen, die Verluste minimal. Ehe der Gegner seine Jäger herangeführt hatte, waren sie schon wieder fort. Das sollte sich wenig später über Kursk dramatisch ändern. Jeden dritten Tag ein Einsatz, mehr Bomben waren nicht da. Großartige Verpflegung für jemanden, der Hammelfleisch mochte. Krimwein, Nachrichtenmäuschen, Frühlingssonne. Stalingrad ein ins Vergessen abgedrängtes Gespenst.
Solche Besuche waren einfacher gewesen, als der Zug noch durch den amerikanischen Sektor zum Anhalter Bahnhof gerollt war. Jetzt bog er auf dem neu gebauten Ring um den Südostzipfel der Stadt zum Ostbahnhof. Von dort brauchte Hemsberger eine halbe Stunde mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Im Bahnhof Friedrichstraße war eine erneute Kontrolle zu befürchten; diesmal blieb sie aus. Bei einem Straßenhändler vor der Gedächtniskirche tauschte er zwanzig Ostmark zu einem erträglichen Kurs gegen Westmünzen, von einer Telefonzelle aus rief er die Nummer an, die er sich beim letzten Treff eingeprägt hatte. Nach dem fünfzehnten Rufzeichen wurde abgenommen, niemand meldete sich, er sagte vereinbarungsgemäß »Fünfzehn Mal, Donnerwetter« und hörte: »Soso, Sie sind ja zäh.« Erst jetzt nannte er seinen Decknamen: Harry Postberg, und fügte hinzu, von wo er anrief. Wieviel Zeit er habe, so, gut. Genau in einer Stunde an der Ecke Kudamm/Fasanenstraße. »Ich geh an Ihnen vorbei, Sie folgen mir.« Sofort wurde aufgelegt.
Schnell in eine Seitenstraße. An einem Zeitungsstand las er Schlagzeilen: »Ost-CDU gegen Junge Gemeinde. Generalsekretär Goetting unterstützt Drangsalierung junger Christen.« Darunter: »In einer Studentenversammlung der Ostberliner Humboldt-Universität trat der Vorsitzende der CDU-Fakultätsgruppe der Mediziner als gefährlichster Scharfmacher hervor. Er forderte die Exmatrikulation aller Studenten, die sich weiterhin zur Jungen Gemeinde bekennen. Auch die LDP beteiligt sich am Kesseltreiben. So verlangt die ›Verdiente Lehrerin des Volkes‹ Gertrud Sasse die radikale Säuberung der Oberschulen von allen reaktionären Elementen. Mitglieder der Jungen Gemeinde hätten Stalin-Gedächtnis-Feiern gestört.«
Das Licht auf den weißen Fassaden stach ihm in die Augen. Er wechselte in den Schatten und überlegte, wie er sich herauswinden könnte, wenn er beobachtet würde. Denn Spitzel der Stasi, hieß es, fotografierten vor Wechselstuben, Bahnhöfen und Grenzkinos. Er würde noch am Abend bei seinem Bruder sein, doch wenn es hart auf hart kommen sollte, dürfte es schwerfallen, die drei Stunden im Amisektor zu erklären. Jedenfalls: Immer abstreiten, kommen lassen!
Westberlin, West-ber-lin klang für Hemsberger wie Sekt, wie ein achtzehnjähriges Mädchen mit samtener Haut und straffen Pobacken, erträumt vom dreckigen Bitterfeld aus und nun Wirklichkeit. Ein Text: »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm, ich hab so Heimweh nach meinem Berlin.« Es war keinesfalls sein Berlin, es gehörte Belger und dem Boxer Bubi Scholz und den Amis. Sie verlassen den demokratischen Sektor! Vorsicht Menschenfalle! TAGESSPIEGEL und »Wir Insulaner verliern die Ruhe nicht«. Wenn er vor zwei Jahren dieser Verlockung widerstanden hätte! Er konnte in keinem Flüchtlingslager unterschlüpfen, ohne daß sie ihn wütend befragten: Unsere Abmachung, unser Kästchen, weißt du nicht, was das Ding kostet, dreitausend Dollar, die zahlst du, und was passiert, wenn es der Russe auf deinem Dachboden findet? Was andere konnten, war ihm versperrt: Ausfliegen nach der Pfalz, nach Köln, ein wirklich neues Leben anfangen. Abends Sinalco auf dem Balkon. Oder in Westberlin bleiben als Insulaner, der die Ruhe nicht verlor. Der nun anderen befahl: An jedem ersten Dienstag im Monat melden Sie sich pünktlich um 23 Uhr 15. Die berühmte Zahl fünfzehn. Mehr geschieht nicht bis zum Ernstfall, den erfahren Sie durch das Blinken des Lämpchens ebenfalls um 23 Uhr 15. Jeden Abend nachschauen. Aber Sie merken ja selber, wenn’s kracht.
Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit fühlte er zum Kurfürstendamm vor. Der Mann, den er Belger nennen sollte, bog um die Ecke, war untersetzt mit halber Glatze und trug eine hüftlange graue Jacke, eine die Knöchel freilassende Hose und Sandalen, auf denen er federte. Er schlenderte die Fasanenstraße entlang über zwei Querstraßen hinweg, ohne zur Seite zu schauen und in immer gleichem mäßigen Tempo. Hemsberger folgte ihm und heftete seinen Blick an den ausrasierten Nacken mit einer Narbe, als habe ihn dort ein Granatsplitter erwischt. An einer Kreuzung blieb der Mann stehen, wendete sich nach rechts, strich am ersten Lokal vorbei, las vor dem zweiten die Speisekarte, blickte wie zufällig in Hemsbergers Richtung und trat ein.
Sich Zeit lassen. Am ersten Lokal die Speisekarte mustern. Hemsberger empfand den Gastraum als wohltuend kühl, er brauchte zehn Sekunden, ehe er sich ans Halbdunkel gewöhnt hatte. In den Nischen hing Reklame aus der Vorkriegszeit neben Fotos von Sport- und Gesangvereinen, Pokale und Urkunden. Auch aufgefächerte Skatkarten unter Glas, nachweisend die berühmten Grand ouverts. Aus den Wänden dünstete der Teer von Millionen Zigaretten und Zigarren, gequarzt seit der Jahrhundertwende, seitdem war hier nicht vorgerichtet worden. Der Wirt nickte wortlos. Im zweiten Raum zündete sich sein Kontaktmann gerade eine Zigarette an. Er hielt Hemsberger die Schachtel hin und schaute fragend hoch. Hemsberger nahm eine Zigarette und sagte: »Guten Tag fünfzehn Mal.«
Der Wirt trat heran, Potschinski bestellte zwei Cola. Als sie wieder allein waren, sagte Hemsberger: »Womit anfangen. Allgemeine Nervosität. Steckt mich nicht an. Oder nicht sehr.«
»Quatschen Sie sich ruhig aus.«
»Möchte ich noch nicht mal. Sondern bloß was fragen. Ich wüßte gerne – mal anders rum, wir haben nie über meinen Schlußpunkt geredet. Das ist wie in alle Ewigkeit. Ich möchte aber unser Geschäft beenden und abhauen. Mir stinkt’s.«
In der einen Hand hielt der Geheimdienstler die Zigarette, mit der anderen hob er einen Bierdeckel an und ließ ihn fallen, wieder und wieder. Sein Gesicht war faltiger, als Hemsberger es in Erinnerung hatte, unter dem offenen Hemd kräuselte sich graues Haar. Solche Typen kannte er von der Pferderennbahn und aus Wettbüros, Zocker, ehemalige Jockeys. Der Kerl hatte einmal erwähnt, er habe beim Zirkus gearbeitet und sei als Fallschirmjäger auf Kreta dabei gewesen. Sudabucht, die Flak-Hölle. Als Hemsberger nachhakte, Fallschirmjäger damals seien zwanzig gewesen und nicht vierzig, war die Antwort prompt und unwiderlegbar gekommen: Einsatz als Lastenseglerpilot, später Ausbilder in Gardelegen – in der Luftwaffe kannte er sich aus. »Zwei Jahre sind für meine Nerven eine unendliche Zeit. Es sind sogar fast zweieinhalb.«
»Monatlich vier Sekunden Arbeit.« Das klang verärgert. »Dafür fünfhundert Westpiepen auf die hohe Kante. So leicht möchte ich’s auch mal haben, Herr Postberg.«
»Das ist nicht der Punkt.«
»Was dann?«
»Das Risiko.«
»Nun hörn Sie mal gut zu, Postberg. Das alles haben Sie von Anfang an gewußt. Und solange Sie nicht wirklich zu arbeiten beginnen, ist das Risiko nicht größer als das, in dem Colaglas hier zu ersaufen.« Ein Mann ging vorbei zur Toilette, Potschinski verstummte.
Kein Berliner, vermutete Hemsberger, vielleicht aus dem Ruhrgebiet, Dortmund, Duisburg. Einer seiner Bordfunker stammte von dort. »Ich will ja nicht sofort aufhörn.«
»Da würden allerhand Leute sehr, aber schon sehr böse werden. Ohne Ersatzmann geht sowieso nichts. Und den besorgen nicht Sie. Wie sieht’s sonst aus?«
»Sie lesen ja Zeitung. In Halle haben sie einen Taxifahrer zu achtzehn Monaten verurteilt, weil er einem Fahrgast erzählt hat, Ulbricht würde wie einer reden, dem sie die Eier abgeschnitten haben.«
»Unsere Hauptsache?«
»Keine auffälligen Bewegungen um die Kasernen. Keine stärkeren Transporte durch den Bahnhof. Nichts, was ich wirklich melden sollte. Wollen Sie wissen, was alles bei Wittenberg rumsteht?«
»Das melden andere.« Der Mann kam von der Toilette zurück; als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, fuhr Potschinski fort, er würde natürlich Herrn Postbergs beschissenen Wunsch weitermelden, wundere sich allerdings erheblich. Wundere sich geradezu irre. So was von irre! Ein wasserdichter Job, vom Sofa aus zu erledigen, er hätte Herrn Postberg mutiger eingeschätzt. Plötzlich lächelte er und zeigte eine breite Zahnlücke im Oberkiefer. »Sie sind damals zu uns gekommen und nicht wir zu Ihnen. Ich hab Ihnen das Wunderkästchen gebracht. Und wir haben unseren schönen Vertrag.«
»Mündlich.«
»Von Ehrenmann zu Ehrenmann. Noch ’ne Cola? Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen. Bißchen Handgeld kann ich Ihnen geben, hundert, der große Batzen bleibt in der Sparbüchse. Ihre Lebensversicherung. Na, besser fünfzig.« Er hätte sowieso nicht das letzte Wort und könnte nichts versprechen. Unter einem halben Jahr ginge mit dem Ausstieg nichts, absolut keine Chance. Wenn sie den geschätzten, lieben Herrn Postberg abschalten wollten, käme ein Spruch. Oder besser ein Kurier. »Jemand wird sagen: ›Ich wollte Sie schon fünfzehn Mal besuchen.‹ Und Sie antworten: ›Sie sind ja zäh wie fünfzehn alte Hirsche.‹«
Hemsberger wollte seinen Führungsmann keinesfalls reizen, nicht er saß am längeren Hebel. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich mir diesen Schritt nicht hundertmal überlegt hätte. Aber in Bitterfeld spielen sie verrückt, als ob ihnen das Wasser bis zum Hals stünde. Steht es ja wahrscheinlich auch. Einmal sollen wir nach der Anzahl von Stückgütern bezahlt werden, dann nach Tonnenkilometern im Kollektiv. Immer neue Einfälle, um unser Gehalt zu drücken. Mit Normen geht es bei der Eisenbahn schlecht, soll aber auf Biegen und Brechen. Diese ewigen Selbstverpflichtungen – ich dreh noch durch.«
»Sie drehen überhaupt nicht durch. Sie schlucken alles wie bisher. Vielleicht machen Sie mal ’nen hübschen Verbesserungsvorschlag. Am Schwarzen Brett: Zu Ehren des großen Stalin …« Die Schultern wippten wie in mühsam unterdrückter Heiterkeit. »Was erzählen Sie Ihrem Bruder?«
»Ich bettle ihn um was zu fressen an wie jedes Mal.«
Der Wirt schaltete das Radio ein: »Lieber Gott, laß die Sonne wieder scheinen.« Die kleine Cornelia nebst Sängerknaben. Potschinski fragte, ob Herr Postberg vielleicht doch etwas essen wolle oder was Besseres trinken als Cola. Viel Zeit bleibe allerdings nicht mehr. Hier stünde doch allerhand Leckeres auf der Speisekarte, nicht solcher Mampf wie in Bitterfeld. Zum Beispiel Dorschleber, na?
In Hemsberger stieg Wut hoch. »Ihr wißt gar nicht, was ihr für Schwein habt. Genießt das Leben und dirigiert vom Schreibtisch aus.«
»Eines Tages«, es klang gelangweilt, »fliegen Sie nach Kanada oder Texas und kaufen sich von Ihrem Batzen Geld ’ne Farm oder ’ne Tankstelle. Unter geändertem Namen, wenn Sie das wünschen. Und das nicht eines fernen Tages, sondern nächstes Jahr. Das alte Grabenschwein Belger hat vorher das Schatzkästlein bei Ihnen abgeholt und zu Ihrem Nachfolger gebracht, der die Hosen nicht so voll hat wie Sie. Dabei oder beim nächsten Mal schnappen sie mich. Oder die Stasi organisiert einen hübschen perfiden Menschenraub, Gift im Kaffee und in der Zigarette, während ich eine bescheuerte Nachricht von der Verlegung einer Garde-Kompanie der siegreichen Fußlappenarmee von Thüringen in die kalte Heimat entgegennehme. Oder ’ne scharfe Biene lockt mich in die Federn, und ihr Lude haut mir ’nen Sandsack übern Kopp. Sie rollen mich in ’nen Teppich – alles schon da gewesen. Drüben wache ich im U-Boot auf. Drei mal fünfundzwanzig und ab nach Workuta.«
Im Radio: »Bella bella Donna.« Peter Alexander.
»Ach was«, höhnte Hemsberger, »Sie bleiben munter und fidel und gucken sich im Olympiastadion Hertha gegen TeBe an oder Bully Buhlan im Sportpalast.«
»Wissen Sie was, ich geb Ihnen die fünfzig Piepen doch nicht. Sie werden an der Grenze gefilzt, und was sagen Sie dann?«
Du mieses kleines Schwein; Hemsberger ließ grelle Wut zu. Ihr seid alle Lumpen, Zwischenhändler, Absahner, Abzocker. Ihr verkauft unsere Nachrichten an Amis oder Franzosen oder den alten Fuchs Gehlen in Pullach gleichzeitig, und daß du wirklich von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit bist, hat mir bisher keiner schwarz auf weiß bewiesen.
»Sie haben eine Rechnung mit dem Iwan offen, haben Sie mir erzählt. Glaub ich Ihnen. Vielleicht müssen wir Sie bald aktivieren, dann können Sie Ihre Rache in Butter gebraten genießen. Ich zahle jetzt vorn an der Theke für Sie mit und schwirre ab. In Ihrer Sache sehe ich, was ich machen kann.«
»Schmutzler und Kollmannsberger sind die besten Stürmer, die Tennis-Borussia jemals hatte, meinen Sie nicht auch?«
»Spielen Sie nicht den Blödmann, Hemsberger.«
2
Hartmut Brücken rollte die Jacke zusammen und schob sie sich unter den Nacken. Mit einem Mutterschlüssel klopfte er das Rohr ab und horchte – es schien zentimeterdick verstopft zu sein mit Ruß und Rost. »Müssen wir abmontiern.«
»Kriegen wir nie wieder ran.«
»Wenn wir das Knie wegschmeißen.« Das mußte er entscheiden, dazu war er Meister. Vor einem Vierteljahr hätte er seinen Senf dazugegeben und stur auf Anweisung gewartet. Schöne Zeit als Arbeiter. Lennert grinste sich eins.
»Raus und in den Schrott. Hartmut, die Reparatur bezahlt mir keiner.«
Mit Lennert durfte er es nicht verderben. In einer Viertelstunde mußte er von dieser Murkserei umschalten auf das Lästigste, die Normen. »Ich schreib dir zwei Stunden, du knallst das Ding weg und brauchst nicht zur Besprechung anzutanzen.«


