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»Hervorragend, mein Alter.«
Lennert war zwei Jahre jünger als Brücken. In der Sitzung dann riß er womöglich das Maul auf. Das war nicht mehr wie bei der Infanterie: Wer moserte, schleppte als Schütze III Munition, bis ihm das Wasser im Arsch kochte. Einen wie Lennert mußte er mit Handschuhen anfassen. Also fort und Unterlagen aus dem Büro geholt.
Der Instrukteur begrüßte ihn freundlichst. Vor zwei Wochen habe er mit Schwiegervater Mannschatz an einem Tisch gesessen, ja, an dem Abend, an dem der Genosse Stalin gestorben war. Brücken beschloß: Keine Silbe von krustigem Schweinebraten und Sonderbier. Sie trafen sich in einer zugigen Hallenecke voll Gerümpel und verdreckten Bänken. Zwei Drittel der Brigade hockten da, die anderen waren unabkömmlich wie Lennert. Sie lümmelten herum, die Rücken gegeneinander gelehnt, den Blick zu den blinden Fenstern mit Spinnwebgardinen oder dem uralten Gerüst einer Transmission, Zigaretten drehend oder die Augen geschlossen. In das Gemurmel hinein begann der Instrukteur aufgesetzt forsch, beim Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR habe eine neue, entscheidende Phase begonnen. Der Klassenfeind wehre sich verzweifelt; wieder seien zwei Ingenieure republikflüchtig geworden. Noch werde untersucht, ob sie Pläne mitgenommen hätten, um sie drüben gegen Westmark zu verscheuern, als Eintrittsgeld in den Kapitalismus sozusagen. »Kollegen, mit eurem Meister habe ich schon über die Regulierung überholter Normen gesprochen. Wenn du uns mal den Stand erklären willst, Kollege Brücken?«
Das stimmte halb und halb: Neulich waren ihm ein paar Agitationsblätter in die Hand gedrückt worden. Aufpassen! »Ich verstehe das Ganze so, daß wir begründete und nicht generell erhöhte Normen anstreben.«
»Manche Normen sind jahrelang stehengeblieben, vor allem aufm Bau. Da liegen ungeheure Reserven, Kollegen!«
Schupp, der beste Schweißer, auf einer U-Boot-Werft an der Atlantikküste in Form geblieben, lag breitbeinig auf einem Bretterstapel. »Aber die Marmelade wird teurer.«
Man möge nicht kleinlich argumentieren, so der Instrukteur. Zuwenig Saatgut für Zuckerrüben, Untersuchungen seien im Gange. Im Hintergrund murmelte Meier: »Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein.« Brücken blickte Meier mit hochgezogenen Brauen an. Sein Einwand: »Wir haben eine Rohrbrücke zu neunzig Prozent fertig und kommen nicht weiter, weil wir keine Elektroden kriegen. Also auch keine Prämie.«
»In einem halben Jahr sieht alles anders aus. Deshalb müssen die Normen …«
Brücken ließ nicht locker: »Wir sind nicht gegen begründete neue Normen. Aber bei einer Reparaturbrigade ist jeder Auftrag anders. Meist wissen wir nicht, was wir zunächst an Schrott wegräumen müssen. So war’s immer.«
Jetzt wollte der Instrukteur sichtlich Oberwasser gewinnen, seine Stimme nahm einen ironischen Klang an. »Das war schon immer so – was ist das, Kollegen? Blanker Sozialdemokratismus, ’tschuldige. Wir gestalten aber einen revolutionären Umbruch. Viele Brigaden haben sich zur freiwilligen Erhöhung der Normen um zehn oder sogar fünfzehn Prozent bereit erklärt. Zum Beispiel in Hettstedt. Was meinst du, Kollege Brücken?«
»In ’nem anständigen Brigadevertrag muß drinstehen, daß die Bereitstellung von Material vorausgesetzt ist. Und da sehe ich schwarz.«
Aus dem Hintergrund: »Schwarz wie ’n Neger um Mitternacht.«
»Albert nicht rum. Wir kriegen seit einer Woche kein Gramm Lötzinn.«
»Aber jede Menge Blödsinn.«
»Du sollst den Quatsch lassen, Harry! Also gut. Ich gehe mit ein paar Kollegen noch einmal alle Positionen durch.«
Der Instrukteur setzte wieder an, ein Erfahrungsaustausch mit ähnlich gelagerten Brigaden in Halle könne zu einer Klärung führen, aber Meier und Schupp fragten Brücken, was er unternommen hätte, damit im Waschraum nicht nur aus einer Brause warmes Wasser fließe und das gerade bei Schichtende nur tropfenweise. Also endlich Feierabend, es war schon zehn Minuten über die Zeit. Aber da begann Schupp noch einmal über die Normen zu reden, pomadig klang das am Anfang, und alle dachten: Was soll der Quark noch? Schupp konnte sich allerhand leisten, und es klang nahezu freundschaftlich, als er dem Instrukteur riet: »Du, paß mal auf und erzähl das oben weiter, möglichst weit oben: Ich hab gehört, in Hettstedt hätten die Kumpels ’nen kleinen Sitzstreik eingefädelt, bloß ’ne Stunde auf beiden Backen, vielleicht war’s noch nich mal ’n Streik, sie verstanden was nich und haben gefragt, und die Zeit verging, und der Instrukteur begann zu schwitzen, und am Ende gab er zu: Neenee, alles ’n Mißverständnis, und die Normen blieben, und langsam kamen die Kumpel wieder in die Gänge. Verstehst du?«
Der Instrukteur hielt es wohl für das beste zu lachen, Schupp lachte nicht, und Brücken fand, das eben sei eine hübsche kleine handfeste Drohung nach Arbeiterart gewesen fürs nächste Mal.
Brücken fuhr nicht gleich nach Hause, sondern in die Nähe des Marktes, dort war ihm ein Kinderfahrrad versprochen worden, na, versprochen war ein zu klares Wort. Eine Verkäuferin hatte Lieferungen erwähnt, die Mitte des Monats kommen müßten, kommen sollten, wenigstens Rahmen für Kinderräder wären dabei, ein Vorderrad kriegte er von Gärtners, Gepäckträger und Sattel besaß er schon, bis zum Geburtstag von Thomas blieben sechs Wochen. Die Verkäuferin sprach mit einer Kundin, schüttelte zu ihm hin den Kopf. Da hätte er gleich abschwirren können, wartete aber, entsann sich, daß der Instrukteur von Sozialdemokratismus getönt hatte, das geschah immer öfter auch dann, wenn jemand ganz sachlich einige Fakten zueinander in Beziehung setzte, logisch blieb, nicht auf die Pauke haute. Das ging Alfred auf den Geist, er selber hätte fragen sollen: Was ist das genau, Sozialdemokratismus, bin ich vielleicht ein Sozialdemokratist – seltsam, dieses Wort bildete keiner –, wenn ich meinem Jungen zum Geburtstag ein Fahrrad schenken will und mir die Hacken ablaufe, statt frohgemut zu erklären: Erst der Weltfriede und neue Hochöfen an der Oder im Geiste des großen weisen Stalin? Kinderfahrräder irgendwann, erst Karabiner für kasernierte Polizisten.
Nein, sagte die Verkäuferin, nichts sei geliefert worden außer elektrischen Tischnähmaschinen aus der Tschechoslowakei, leider seeehr teuer, fast sechshundert Mark, und sie habe gehört, die seien nicht besonders stabil. Brücken überlegte kaum ernstlich, wer eine Nähmaschine gebrauchen könnte, Clara und die Oma nicht. Danke, er komme wieder, irgendwann werde es schon klappen.
Sein Schwiegervater stand am Zaun. Am liebsten würde er alle Farbreste abkratzen und mit Karbolineum streichen, aber woher nehmen? Brücken wiegte den Kopf – die Kaninchen-Ställe hätten Farbe nötiger. Ein Instrukteur wollte sie belabern, der habe beim großen Fressen in Halle mit Alfred am Tisch gesessen, hübsche Grübchen. Ach der, entsann sich Mannschatz, der habe rechtzeitig Brot und Wurst verstaut und beim Fleisch und den Kartoffeln reingehauen, einer mit Übersicht. Und? Natürlich die Normen, natürlich das übliche Hickhack.
Beim Waschen merkte Brücken, wie müde er war. Wenn er sich jetzt hinlegte, schlief er zwei Stunden und war für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen. Er hatte gerade seinen Trainingsanzug angezogen, als Clara mit Thomas und dem Bienchen eintrat. Bienchen wollte sofort hochgenommen werden und drückte ihre Wange an seine und schnurrte, sie sei ein guter Wolf, ein ganz kleiner Wolf, und er brauche keine Angst vor ihr zu haben. Da riß Brücken die Augen auf, waaas, ein Wolf, und eben noch habe er gedacht, sein liebes Bienchen sei in die Küche gekommen, nun sei er baff, baff, baffbaffbaff. Da strampelte Bienchen sich los, der Spaß war vorbei, jetzt wollte sie Milchmilchmilch. Gut, mein Mädchen, gut.
Noch ein Tag und noch einer mit Südwestwind und sanftem Regen, der die Luft wusch und den Pflanzen gut tat, mit Grummeln in der Brigade, mit Trommeln in der Zeitung und im Rundfunk, daß überall die Normen freudig erhöht würden, auf den Werften, der Stalinallee und in den Kohlegruben. Böhlen ganz vorne! Präsident Wilhelm Pieck zur Kur auf der Krim. Hier ginge unterdessen alles drunter und drüber, redeten sie während der Mittagspause. Zum dritten Mal hintereinander Nudeln. Brücken sah seine Schwiegermutter hinter einem Schalter, sie türmte Pfannen hohlscheppernd übereinander.
Er hatte massenhaft Überstunden gut, zwei strich er ab und radelte eher als sonst nach Hause. Alfred Mannschatz hockte mürrisch unter dem Vordach des Schuppens und versuchte, verklumpten Maschendraht zu entzerren. Wahrscheinlich warf er nach einer Viertelstunde das Dreckzeug weg. Na? Wieso na? Erst ’ne Sonderschicht durchgedrückt, dann kein Material, aber die Ausfallzeit wurde bezahlt. Alle feixten. Knausern überall, und plötzlich schmissen sie ihnen das Geld hinterher.
»Tag Papi!« Thomas hatte sich angeschlichen.
»Wie war’s in der Schule?«
»Wie immer.«
»Es ist nie wie immer. Und bei dir, Bienchen?«
»Mir ham gemalt.«
Clara kam um die Ecke, Beutel an beiden Händen. Manchmal die strahlende werdende Mutter, dann abgeschlafft. Brücken nahm ihr die Last ab, Clara ließ sich auf einen Stuhl fallen, Thomas streifte den Ranzen von der Schulter. »Papi, wann krieg ich ein Pferd?«
Clara erstaunt: »Wie denn das?«
»Papi sagt, in Meckburg krieg ich ein Pferd.«
»Ich hab gesagt, daß du dort vielleicht reiten kannst. Wenn du größer bist. Und besser im Rechnen.«
Clara dämpfte die Stimme. »Erst einmal heißt das Mecklenburg. Wahrscheinlich kommen wir da nie hin. Dort ist nämlich alles ziemlich mies. Hartmut, setz du dem Jungen keine Flausen in den Kopf.«
Abdampfen lassen, Reizbarkeit gehörte zur Schwangerschaft.
»Mutti, ich brauch was zum Zuschrauben. Aus ’nem Einmachglas krabbeln die Kartoffelkäfer immer raus.«
»Kann ich denn nicht mal fünf Minuten …«
Abends hörten sie im Radio, der nächste Tag sei der »Tag der Pflugfurche«. Im Bett kam Clara auf das Gekabbel am Nachmittag zurück. »Hartmut, ich find es nicht schön, wenn du Thomas gegen mich ausspielst. Machst ihn verrückt mit Pferd und Reiten.«
»Aber das geht doch nicht gegen dich.«
»Ich will immer weniger fort. ›Tag der Pflugfurche‹ – da oben herrscht noch wildere Hektik als bei uns. Und mit der Partei …«
»Ich gehe unter keinen Umständen rein!«
»Großes Pionier-Ehrenwort? Dann darfst du auch zu mir rüber.«
Unter ihre Decke und tasten und streicheln. Wenn Clara lag, fühlte sich ihr Bauch kaum anders an als sonst, jedenfalls hinderte er nicht, das würde noch kommen. Er kniff, Clara prustete: Er teste wohl ihre Speckpölsterchen? An den Hüften bildeten sie sich als Nahrungsreserven fürs Kerlchen. Er widersprach: Keine Spur von! Ob in ihr wohl jetzt der Verdacht keimte, er könnte sie bald nicht mehr reizvoll finden, könnte fremdgehen, wie sie geargwöhnt hatte, als das Bienchen unterwegs gewesen war – den Verdacht war sie wohl immer noch nicht los, damals hätte sich etwas zwischen ihm und Gitta Gärtner abgespielt. Auch das war ein Argument dafür, nicht allein nach Mecklenburg zu gehen. Clara würde ihn verdächtigen: Sie mit dickem Bauch in Bitterfeld und er in einem Tanzschuppen in der Taiga mit Melkerinnen und Fischweibern. Clara war keine, die derlei in sich hineinfraß. Wegen Gitta hatte sie geradezu getobt – nee, mit Gitta nie wieder das Geringste. Diese verdammte Geilheit. War immer Mist, im Freundeskreis zu wildern, dann lieber Mecklenburg, ach du elende Zwickmühle, er war doch kein Rumtreiber, verzichtete auf fast jede Gelegenheit, neulich in der Bahn, als er von Halle gekommen war – jeder andere hätte zugegriffen.
»Lieber so«, Clara drehte sich halb zur Seite.
3
»Wir ham ausgemacht: Der Vorgarten gehört mir.«
»Aber die Ecke am Weg …«
Hochnebel ließ Gase und Rauch nicht weichen. Das Licht war fahl, vor dem Horizont klebte eine lilafarbene Dunstbank, die nach unten stumpfgrau wurde. Undenkbar, jetzt Wäsche aufzuhängen; sie gilbte, selbst wenn kein Ruß fiel. Das Ehepaar Mannschatz stritt sich. Dabei hob weder sie noch er die Stimme und gönnte dem Partner nach jedem Satz eine Pause. Vierzig Jahre Gemeinsamkeit hatten einen Debattierstil ausgebildet, den ein Außenstehender als nahezu gemütvoll hätte empfinden können. »Ich hab aber sieben Pflanzen übrig, Herta.«
Wenn sie nachgab, würde sie Wochen brauchen, die Verhältnisse wieder hinzubiegen. Wenn sie ihm eine Spatenbreite Erde abtrat, kassierte er das halbe Beet, sozusagen. »Die kriegst du hinten neben dem Salat auch unter. Wie sieht denn das aus, Tabak vorne an der Straße!«
»Wenn der erst blüht!« Er wußte, daß er im Unrecht war, murmelte noch, Dahlien könne man ooch nich essen, und wartete matt auf die Entgegnung, mit Tabak sei das keineswegs anders.
»Könnt ihr euch nicht endlich die Raucherei abgewöhn?«
Er legte die Pflänzchen in den Spankorb zurück und erwog, sie zwischen die Stangenbohnen zu quetschen – auch keine Lösung.
»Übrigens Clärchen. Du merkst nischt! Wie ihr die Sache mit Mecklenburg auf die Nerven gegangen is.«
»Bei uns könnt’s eng werden. Das ist nich gut für unsre Nerven.« Er registrierte einen abschätzigen Blick aus schmalen grauen Augen zu sich hinauf, den hatte er immer gemocht als Zeichen von Energie und Witz. »Wenn es in Bitterfeld mit dem Wohnungsbau richtig los geht, hat Hartmut alle Chancen. Vielleicht werden sich die Genossen hier ’ne kleine Stalinallee leisten.«
»Jedenfalls, ich seh’s an Clärchens Augen, es wird ’n Junge.«
»Na, altes Wahrsageweib!« Jetzt lachten sie beide.
Er stellte die Pflanzen in den Keller und deckte sie mit einem nassen Lappen zu. Großergott! Hatte er ernsthaft erwogen, mit Clara über das zu reden, was er plante? Was er für unausweichlich hielt? Vielleicht, und das wäre natürlich beschissen, hoffte er schlicht auf Mitleid.
Er stand vor den Kaninchenboxen. Allmählich wurde ihm bewußt, daß er zusammengeklumptes feuchtes Gras aus den Ecken klaubte und in einen Eimer warf. Jetzt an Bahndämmen entlang radeln und schauen, wo er einen Korb Futter schneiden konnte. Oder die Kartoffelzeilen durchhacken – er würde von seinem Grübeln nicht loskommen und im Innern wiederholen: Ich bin seit mehr als vierzig Jahren in der SPD oder der USPD und nun in der SED; als ich eintrat, lebte August Bebel noch. Pfefferkorn nicht erwähnen, aber sich ausmalen, auch der säße am Leitungstisch und starrte ihn mit entsetzten runden Augen an. Solche wie Pfefferkorn hatten immer alles sofort begriffen, beim Hitler-Stalin-Pakt und der Teilung Polens und selbstverständlich bei der Märzaktion, als die KP-Führung in Berlin bleiern schwieg und sie vorn Scheiße fressen mußten, und Pfefferkorn hatte ihn aus der Saale gezogen.
Als er in der Nähe des Zauns hackte, sah er, daß eine Latte locker war. Er brauchte einen einzigen Nagel, den würde er im Schuppen aus einer alten Blechbüchse klauben und sich zurechtklopfen müssen. Pfusch an Hartmuts Rohrbrücke und keine Schweißelektroden, aber Stalinallee, stürmisch im Vorwärtsschreiten, Hochöfen und Walzstraßen und Henneckeschichten, dann wird es auch Nägel in Hülle und Fülle regnen! Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben! Das schrie Genosse Sindermann über den Marktplatz von Halle am ersten Mai, und alle jubelten außer dem Miesepeter Mannschatz. Und daß er an einen simplen Nagel und nicht leuchtenden Auges an drei mächtige neue Hochöfen dachte, war der verdammte heimliche kleinliche schäbige Sozialdemokratismus. Er fragte sich, ob er das ohne die Prasserei neulich auch so formulieren würde. Pfefferkorn und Sindermann im KZ, KP-Adel, und die SA befand den schlichten SP-Hefteverteiler Mannschatz nicht einmal einer Tracht Prügel für würdig.
Beim Mittagessen redeten sie wieder von Clara und dem Würmchen und versuchten sich vorzustellen: Nicht nur der Opa wäre demnächst ständig daheim, sondern auch die stillende Clara mit dem Baby. Thomas und Bienchen brauchten jedes Jahr mehr Raum. Fraglich, ob sie bis zum Winter einen neuen Kachelofen auftreiben konnten. Wohin mit den Windeln? In zwei Jahren hörte Herta zu arbeiten auf, dann war auch sie immer hier. Und in dieser Situation, dachte Mannschatz, sorge ich für einen unfaßbaren Krach.
Am Nachmittag zog er sein bestes Hemd und eine saubere Hose an und ging zum Frisör. Zwei Burschen, einer unter Kalkows Schere, der andere auf einem Wartestuhl, unterhielten sich über Möglichkeiten, Rohtabak gegen »Aktive« zu tauschen; in Wolfen ginge das ruckzuck bei zwanzigprozentigem Gewichtsabzug. Auf dem Schwarzen Markt koste eine Lulle dieser Art immer noch sechs Märker, eine Amizigarette kriege keiner unter zwölf. Mannschatz hörte lustlos zu.
»Der nächste bitte!« Wie’s denn sein sollte? Alles glatt nach hinten? Alles für seine fahlen Reste fand Mannschatz erheiternd. Und sonst? Jeden Monat ’nen Monat älter. Merkte man an den Kindern. Bienchen schon vier? Niedliches Dingelchen. »Tja, Fred, wir kennen uns nun seit dreißig Jahren, und auf einmal bin ich dein Feind.«
»Was für Zeug?«
Und Kalkow berichtete, er kriege keine Lebensmittelkarten mehr, denn er sei Kaufmann, Händler, Ausbeuter. Allerdings beute er lediglich sich selber aus, oder wie sollte er das sehen?
»Ist doch Mist, Hans, was du da redest.«
Mist oder nicht, jedenfalls Tatsache. Obwohl er nirgendwo schmarotze, müsse er nun sein bißchen Eßzeug in der HO kaufen, und dort sei alles drei- oder fünfmal so teuer. Aber wochenlang kriege er in der HO weder Butter noch Margarine. Denn er handele mit Zahnpasta und Kämmen und Haarnadeln und ähnlichem Kroppzeug. Gesetz, basta. »Ich freue mich riesig über deinen Sozialismus.«
Nun gab es ein paar Möglichkeiten. Den Umhang runterziehen und wortlos fortrennen oder sagen, knallhart sagen, aber was bloß. Pfefferkorn würde jetzt seine Argumente rausknallen, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, die Kleinbürger waren immer die ersten Verräter, aber Kalkow war nicht in der NSDAP gewesen und noch nicht mal in der Wehrmacht.
»Ich wollt dich nicht ärgern, Fred.«
»Hast du auch nicht.« Natürlich doch. Kalkow war viel zu gescheit fürs Haareschneiden. »Du kennst mich.« Diese Bemerkung nutzte nicht das Geringste.
»Ob sie meiner Frau auch keine Karten mehr geben, hab ich noch nicht rausgefunden. Die Hungerration für ’ne Hausfrau wird nun vielleicht ooch gestrichen.«
Nun müßte Kalkow bloß noch sagen: Bist in der Partei, Fred, die Partei ordnet das an, also ordnest du das an. Wo ein Genosse ist, da ist die Partei – hübscher Spruch. Mannschatz hatte schon fünf Minuten lang nichts erwidert, Kalkow schwieg auch. Hatte wohl keine Lust, aufs Wetter zu kommen. Mannschatz hatte nicht aufgetrumpft: Ich mache bei der Kreisleitung ein Faß auf, die müssen in Berlin protestieren, aber die da oben werden die Verantwortung nach unten abschieben wie gewöhnlich, auf Bezirksebene sei es zu Überspitzungen gekommen. Wie früher: Wenn das der Führer wüßte!
Eine Frau trat mit einem Jungen ein, nun war es erst recht unmöglich, etwas Abschließendes und hoffentlich Klärendes zu sagen, was denn auch. Also bis bald, und grüß deine Frau. Draußen spürte er den Wind, der endlich den Dreck forttreiben würde auf die Dübener Heide zu.
Auch beim Abendbrot kam Mannschatz nicht von seinen Gedanken los. Die Klasse von Thomas hatte Kartoffelkäfer gesammelt; für ein volles Einweckglas zahlte die Lehrerin zwanzig Pfennige. Er fragte, ob die Lehrerin erzählt hätte, Flugzeuge der Amerikaner würfen die Käfer ab – nee. So hatte es vor einem Jahr in der Zeitung gestanden, und alle außer den wirklich ganz strammen Genossen hatten sich kaputtgelacht. Clara mühte sich, dem Bienchen zu erklären, es gäbe gute Käfer, Marienkäfer zum Beispiel, Motschekübchen, und böse, die alles Kartoffelkraut fraßen, und die Kartoffeln blieben klein und schrumplig. Aber ein Mädchen, das zum Abendbrot vier Pellkartoffeln futterte, würde groß und stark und käme bald in die Schule.
Mannschatz rauchte auf der Bank im Hof. Was er plante, würde vieles um ihn herum verändern. Die Familie blieb. Zu Hartmut würden manche sagen: Dein Schwiegervater spinnt. Andere zu ihm: Hast du prima gemacht! Die meisten von denen konnten ihn sonstwo. Wie hieß das: Beifall von der falschen Seite.
Viele derartige Einschnitte hatte er nicht erlebt. Als er 1916 an der Somme drei Tage lang verschüttet gewesen war, das Bein eingeklemmt, oben das Trommelfeuer und unten die Ratten. Die Angst, sie würden ihn anfressen, die Augen zuerst. Als er Herta diesem Bengel von Buchhalter ausspannte, die heißeste Tänzerin in einem Dutzend Schwofschuppen in Bitterfeld und drumrum, keine riß die Knie schärfer hoch beim Charleston. Bubikopf. In der Slowakei flüchtete sein Trupp im letzten Frühjahr des Kriegs in heller Panik; als ihn Mongolen schnappten, hätten sie ihn um ein Haar erschossen; sie hielten ihn in der braunen Uniform der Organisation Todt für einen besonders rabiaten Faschisten. Er wollte betonen: Ich appelliere nicht an irgendwen, wie ich zu handeln habe, Vorher schreibe ich an Pfefferkorn: Ein Frisör ist nicht unser Feind, und meiner schon gar nicht.
Die Hüften schmerzten, darüber war der Rücken steif. Keiner von der Veteranenkommission tauchte auf oder schrieb ihm. Bad Elster, das Bad der Werktätigen – hohles Gerede. Radfahren fiel leichter als gehen. Aber zum Futterschneiden mußte er sich bücken. Vor dem Bahnhof schloß er sein Rad an einen Ständer, richtete sich mühselig auf. Hemsberger begrüßte ihn mit angedeuteter Verbeugung: Da wird sich Ihre Tochter aber freun! Und das Leben frisch soweit? Ach, der Krieg hatte keinen verjüngt, und jetzt war es auch kein Zuckerlecken. Übrigens: Wer leckte schon kostbaren HO-Zukker! Er müsse rein, werde die hochgeschätzte Kollegin auf den Besuch vorbereiten.
Schichtwechsel in einer Viertelstunde. War er hier, um Clara zu informieren, ihre Meinung zu erfragen oder sich eben doch anzulehnen? War er ein Trottel – jeden Tag eine andere Meinung? Mußte ihm ausgerechnet Hemsberger über den Weg laufen? Einmal Offizier, immer Offizier. Er würde ein andermal mit Clärchen reden oder nie. Er stieg aufs Rad, flach war hier herum alles wie ein Bettlaken; wenn die Straße über eine Eisenbahnlinie gehoben wurde, galt das schon als Berg. Erst nach einem Kilometer merkte er, welche Richtung er einschlug, nach Gleibitzsch, wo Irmchen wohnte, seine Cousine, verheiratet mit einem Kuhbauern. Eddi half im Winter beim Straßenbau aus oder arbeitete in einem Werk. Bündnispartner immer noch, nicht Pfefferkorns frischer Feind. Was mußte er immer an den denken, vor dreißig, zweiunddreißig Jahren hatte er nicht einmal seinen Namen erfahren. Plötzlich dicke Tinte. Sollte auf Herta hören. Die spürte, ob einer echt war, die roch jeden falschen Braten.
Um die Grube »Vergißmeinnicht« und durch Ramsin. Gleibitzsch war ein Haufendorf, immerhin mit Kirche und Gasthof. Dahinter Beyersdorf, Gutsdorf, aufgeteilt während der Bodenreform. Die Neubauern hatten selber nüscht. Damals warb die Partei im Kombinat, um auch ein paar Genossen unter die Umsiedler zu mischen, jetzt war sie hinter Hartmut her. Beyersdorf, dort hatte eine Kollegin gewohnt, Anlagenfahrerin mit schwarzen Augen, auf die waren alle scharf gewesen, er auch, auch er, ja. Schöne wilde unvergeßliche Geschichte.
Irmchens Hof lag still, jede Pforte verrammelt. Er klopfte ans Stubenfenster, ans Küchenfenster, nichts rührte sich. Um die Ecke schlug ein Hund an, Nachbarstöle. Er klapperte mit dem Briefkastendeckel, rief. Hinter der Gardine eine rasche Bewegung. »Ich bin’s, Alfred! Irmchen! Irmchäään!«
Endlich öffnete sie das Fenster. »Mußt wieder gehen, Fred. Vorgestern ham sie Eddi geholt, ja. Ich laß kein rein. Wenn ich dir bloß ein paar Eier gebe, heißt’s gleich …«
»Wer hat ihn geholt?«
»Wer schon.«
»Und warum?«
»Als wir in die LPG rein sin, hat Eddi zwee Sack Weeze nich angegem.«
»Wegen zwee Sack?«
»Mußt wieder gehn, Fred.«
»Irmchen, wenn ich dir helfen kann.«
»Kannste nich, Fred.«
4
»Ja, ich sag die Wahrheet, bestimmt. Weiß nich, was mir letztens einjefalln is und was nich. Richtich: Erna Dorn mein Name, am siebzehnten Juli neunzehnhundertelf in Tilsit jeborn, Ostpreußen. Mein Vater hieß Arthur Kaminsky und war kaufmännischer Anjestellter. Wollte ich auch wern und hab Stenotypistin jelärnt. Bei der Polizei war ich, immer nur im Büro. Gestapo, bei der hab ich manchmal ausjeholfen, ham mich ausjeborcht sozusagen, in Könichsbarch bei Kriegsanfang. Hab ich bisher nich so ausjesagt, deshalb brauchen Sie nich zu belfern, is doch nich wichtig. Schön, was wichtig ist, bestimm Sie. War bei einem andern Vernehmer, ich hab paarmal jesacht: ausjeborcht, und der hat das im Protokoll wegjelassen. Nee, ich unterschreib nich noch mal so was. Ich paß auf.


