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3 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Liselotte Welskopf-Henrich, Nr. 189, fortan ABBAW.
1949 sah Welskopf-Henrich endlich den Zeitpunkt gekommen, an die Universität zurückzukehren und ihre wissenschaftliche Laufbahn fortzusetzen: Sie bewarb sich um eine Ausbildung zur Dozentin für Geschichte des Altertums und Geschichtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dabei behauptete sie, sich schon seit langem mit Marx auseinandergesetzt zu haben; tatsächlich war sie jedoch erst im Zweiten Weltkrieg durch ihren späteren Mann mit den kommunistischen Ideen in Berührung gekommen.
Die Bewerbung war erfolgreich. Zunächst als Aspirantin an der Humboldt-Universität im Fach Alte Geschichte angestellt, wurde sie 1952 mit einer Dozentur beauftragt und nach Vollendung ihrer Habilitation 1960 zur Dozentin ernannt.

Bereits seit 1952 hatte sie vor Philosophiestudenten Vorlesungen über die Geschichte des Altertums gehalten, nachdem sie ihre eigenen historischen und altsprachlichen Kenntnisse aufgefrischt hatte. »Auch Fernstudenten betreute sie, und so mancher hielt noch lange Jahre den Kontakt zu ihr, beeindruckt von der Humanität, die ihre Persönlichkeit kennzeichnete.«4 1959 habilitierte sie mit der Arbeit »Probleme der Muße im alten Hellas«, ein Jahr später wurde sie zur Professorin für Alte Geschichte mit Lehrauftrag berufen.
4 Audring, Gert: Humanistin und Forscherin: Elisabeth Charlotte Welskopf. Das Altertum, Bd. 33, Heft 2 1987, S. 122.
Am 1. Januar 1961 ernannte man sie zur Leiterin der Abteilung Altertum des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Philosophischen Fakultät, die sie schon seit Mai 1958 kommissarisch leitete, und sie wurde zum (ersten weiblichen) ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt. Sie erhielt den Nationalpreis der DDR, wurde als »Verdienter Wissenschaftler des Volkes« ausgezeichnet und erhielt zahlreiche weitere staatliche und gesellschaftliche Auszeichnungen.
Am 16. Juni 1979 verstarb Liselotte Welskopf-Henrich, Autorin, Wissenschaftlerin und international engagierte Menschenrechtskämpferin nur fünf Monate nach ihrem Mann, während eines Urlaubs in Garmisch-Partenkirchen.5
5 Vgl. ABBAW 1 (Lebensläufe) und 190 (Brief vom 11.12.1975). Weitere Informationen von Isolde Stark.
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Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr der Jugendliteratur von Autoren wie Karl May und vor allem Cooper zugetan, wandte sich Welskopf-Henrich später Werken wie Schillers philosophischen und historischen Schriften sowie Lessings Schriften zu Kunst und Dramatik zu. Shakespeares Tragödien sah sie im Reinhardt-Theater in Berlin. In den folgenden Jahren galt ihre Aufmerksamkeit zunehmend der russischen Literatur, der deutschen kritischen Literatur der frühen zwanziger Jahre und französischen, englischen und norwegischen Schriftstellern. Auch für das Gebiet der historischen Wissenschaft begeisterte Welskopf-Henrich sich bald – so studierte sie mit 14 Jahren Thukydides, einen der bedeutendsten Historiker der Antike. Überhaupt interessierte sie sich schon frühzeitig für Bücher über das frühe Griechenland und die griechische Mythologie und beschloss bereits in diesen jungen Jahren, Altertumswissenschaftlerin zu werden.
Ihren Beruf als Althistorikerin übte Welskopf-Henrich mit Leidenschaft, Ehrgeiz und wissenschaftlicher Neugier aus. Zahlreiche Verdienste für die Abteilung Altertum an der Humboldt-Universität, die durch Welskopf-Henrich bedeutend an Ansehen gewann, sind ihr zuzuschreiben. Bis zum Schluss gab es in ihrem Leben nach dem Zweiten Weltkrieg kaum einen Zeitraum, in dem sie nicht an einer wissenschaftlichen Groß-Produktion arbeitete. Diese Projekte, die sie unter dem Namen Elisabeth Charlotte Welskopf herausgab, hatten internationalen Charakter: Die »Hellenische Poleis«6 etwa wurde unter der Leitung Welskopf-Henrichs von einem Autorenkreis aus aller Welt geschaffen. Wissenschaftler von Universitäten und staatlichen Museen der DDR, sowjetische und polnische Gelehrte, Fachkollegen aus Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei, Ungarn, Italien, Frankreich, der BRD, Belgien, England, der Schweiz, Portugal, Russland, Spanien, verschiedenen asiatischen Ländern und den USA – insgesamt über sechzig Wissenschaftler – arbeiteten an diesem Projekt; bei dem Nachfolgeprojekt »Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt« waren es sogar noch mehr. Begriffe wie Politik, Barbar, Demokratie und Aristokratie, die von den Griechen geprägt und von der Nachwelt übernommen worden waren, sollten gesammelt und analysiert werden, um aus den Veränderungen des Sprachgebrauchs Ableitungen über die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse vornehmen zu können. Mit den abschließenden Veröffentlichungen zu diesen Projekten gelang es ihr, als Wissenschaftlerin internationales Ansehen zu erlangen, nachdem bei ihren vorangegangenen Beförderungen zur Professorin mit Lehrauftrag und zur Leiterin der Abteilung Altertum ihre politische und ideologische Zuverlässigkeit und ihre Anerkennung als Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus wahrscheinlich noch eine wichtigere Rolle gespielt hatten als ihre Forschungsleistungen. Schließlich war ihre wissenschaftliche Laufbahn viele Jahre unterbrochen gewesen.
6 Inhalt: Politik, Wirtschaft, Sport, Mode, Technik, Kunst etc. in den griechischen Stadtstaaten des 5. und 4. Jahrhunderts v. u. Z.; das vierbändige Werk ist noch heute in fast allen altertumswissenschaftlichen Bibliotheken der Welt zu finden.
Um das enorme Arbeitspensum der großen Projekte zu bewältigen, beschäftigte Welskopf-Henrich eine Anzahl wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistenten, die sie privat bezahlte. Diese Mitarbeiter waren Studierende und Studierte, die aus zahlreichen antiken Schriftquellen die entscheidenden Stellen heraussuchten und bei organisatorischen Fragen behilflich waren. Anfangs beschäftigte sie einen Mitarbeiter, später waren es drei oder vier, zwischenzeitlich sogar bis zu acht.
Ein solcher Student war Gert Audring. Ihm gefiel das Pädagogikstudium in Potsdam nicht, weil ihm die Ausbildung zu oberflächlich war. In seinem Verdruss wandte er sich an einen älteren Studenten, und dieser riet ihm: »Wenn du Probleme hast, dann musst du mal mit der Welskopf reden.« Welskopf-Henrich lud ihn bald darauf ein, ließ sich seine Zeugnisnoten zeigen und überzeugte sich von seinem Wissen, seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, auf die sie sehr großen Wert legte. Da sie mit dem jungen Mann zufrieden war, ermöglichte sie ihm, seinem Herzenswunsch entsprechend, den Hochschulwechsel nach Berlin; allerdings knüpfte sie daran einige Bedingungen. Ursprünglich wollte Audring nur Geschichte studieren und war auch bereit, den Marxismus zu akzeptieren; für Welskopf-Henrich als überzeugte Marxistin von grundlegender Wichtigkeit. Sie verlangte aber zusätzlich von ihm, dass er Latein studiere, was ihm zunächst völlig fern lag, wogegen er gar eine Abneigung hegte. Von dieser Forderung ließ sich Welskopf-Henrich jedoch keinen Deut abbringen, denn sie wusste: Wenn man in die Alte Geschichte eindringen wollte, musste man sein Handwerk beherrschen. Also hat Audring Latein studiert und abends noch Griechisch gelernt, weil er sonst die Quellen nicht hätte lesen können; er wäre sonst nur einer von vielen gewesen, die auf die Darstellungen anderer angewiesen waren und lediglich den Marxismus hinzufügten. Und das war für Welskopf-Henrich nicht akzeptabel. Sie wollte gründliche, marxistische Forschung auf der Grundlage von exakten Sprachkenntnissen. Diese Vorstellung setzte sie konsequent durch. Mit allen Mitteln versuchte sie zu verhindern, dass der Wissenschaftszweig Alte Geschichte, wie vorgesehen, in der DDR abgeschafft würde und dass dann nur noch die entsprechenden russischen Bücher übersetzt würden. Welskopf-Henrich wollte eine eigenständige Alte Geschichte in der DDR, neu begründet auf marxistischer Basis, und in diesem Sinne hat sie publiziert.
Um die marxistische Geschichtsforschung in der DDR zu etablieren, förderte Welskopf-Henrich besonders junge Menschen, von denen sie annahm, dass sie sich engagierten, Marx gründlich lasen und zur Weiterentwicklung beitragen würden. So holte sie Audring nach Berlin, wo er wie gewünscht studieren, sein Staatsexamen machen und in die Wissenschaft gehen konnte. Auch in ihre eigenen Forschungsprojekte bezog Welskopf-Henrich ihn mit ein.
Audring: »Für mich bleibt sie nach wie vor diejenige Frau, die mir ermöglicht hat, mir meinen Berufswunsch zu erfüllen. Das werde ich ihr nie vergessen.«
Welskopf-Henrich war eine mutige Frau, auch in Bezug auf ihre wissenschaftlichen Bücher. Sie hat sich vom Stalinismus distanziert, wo der Sklave lediglich als antiker Proletarier angesehen wurde. Dabei hat sie auch moderne Auffassungen in die Alte Geschichte hineingetragen. Das war der Schwung des Marxismus: Alles strebte vorwärts, auch in der Antike, was zu dem gewagten Vergleich »Spartakus war der Liebknecht der Antike« führte, wie er zu jener Zeit gern gebraucht wurde.
Trotzdem hat sie sich von der sowjetischen Forschung abgegrenzt, weswegen einige ihrer Veröffentlichungen in der DDR wenig beachtet wurden.
Eine weitere private wissenschaftliche Mitarbeiterin war Brigitte Johanna Schulz. Sie berichtete 2002 auf einer Konferenz in Halle: »Bei der Auswahl der Mitarbeiter fragte Frau Welskopf nicht nach dem ‚Klassenstandpunkt’;7wichtig war allein, was man konnte und für das Vorankommen des Projektes tat.«
7 Stark, Isolde (Hrsg.): Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR – Beiträge der Konferenz vom 21. bis 23. November 2002 in Halle/Saale, S. 293.
Über das Zustandekommen des Beschäftigungsverhältnisses gab Schulz ebenfalls Auskunft:
Nun ging alles sehr schnell. Mein Arbeitsvertrag begann am 1. Januar 1974, aber bereits im Herbst 1973 hatte sie [Welskopf-Henrich] alles in die Wege geleitet, um mich einerseits der zentralen Absolventenlenkung zu entreißen und andererseits in die Doktorandenausbildung [Schulung in Marxismus-Leninismus und Sprachkurse] der Akademie der Wissenschaften einzuschleusen, die eigentlich nur für die Doktoranden der Akademie bestimmt war. Sicher waren etliche Telefonate und Korrespondenzen dafür nötig, aber ich bekam nur die prompten Resultate mit: »Ja, Sie können bei mir anfangen.«8, 9
8 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 292.
9 Welskopf-Henrichs Sohn Rudolf Welskopf erinnerte sich gleichfalls auf der Konferenz: »Bei aller Phantasie, über die sie verfügte – sie stand mit beiden Beinen fest in der Wirklichkeit. Das heißt auch, dass sie auf der Klaviatur der Bürokratie spielen konnte. Was sie in und an der DDR für zumindest mittelfristig unabänderlich hielt, dem unterwarf sie sich nicht einfach, sondern versuchte, es auszunutzen für ihre wissenschaftlichen Projekte.« In: Stark, Isolde: Konferenzband S. 308.
Mit ihrer Vermutung hinsichtlich der Korrespondenzen lag Schulz vollkommen richtig. Welskopf-Henrich schrieb an die Kaderleitung der Akademie, sie schrieb an die Universität, sie schrieb an das Finanzamt usw. In ihren Briefen wies sie wirkungsvoll auf die internationale Zusammensetzung des Projektes der »Sozialen Typenbegriffe« und dessen Bedeutung für das Politbüro der SED hin. In der Tat verstand es Welskopf-Henrich, sich Gehör zu verschaffen. Hierzu Isolde Stark: »Man war bei Frau Welskopf gewöhnt: Es geht alles schnell, zügig und immer mit gutem Ausgang.«10
10 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 294.
Für ihre Schreiben verwendete Welskopf-Henrich einen Kopfbogen, auf dem sämtliche ihrer Titel, Ämter, Würden und Orden verzeichnet waren. Darauf hinzuweisen, war ihr sehr wichtig. Schon Tage vor ihrer Berufung zur Professorin ließ sie Briefumschläge drucken, auf denen »Prof. Dr. Welskopf« stand. In dieser Hinsicht war sie sehr ehrgeizig und auch etwas eitel. (Immerhin musste sie sich ihre Titel hart erkämpfen.)
Und sie ließ sich von niemandem beirren. Zum Beispiel beschäftigte sie bei ihren Projekten Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften (AdW), die in Projekte der AdW eingebunden waren und dafür ihr Gehalt bekamen. Der Ur- und Frühhistoriker Joachim Herrmann (1932-2010), Direktor des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie (ZIAGA), versuchte den Mitarbeitern seines Instituts sogar die Beteiligung am Großprojekt »Soziale Typenbegriffe im Alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt« zu verbieten. Schon das Vorgängerprojekt »Hellenische Poleis«, das er als Konkurrenzprojekt zu den Forschungen seines eigenen Instituts betrachtete, hatte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sabotiert: Während Welskopf-Henrich nach Vollendung des Manuskripts im Urlaub in Österreich war, ließ er kurzerhand den Druck im Akademie-Verlag stoppen. Um die Druckgenehmigung hinauszuzögern, forderte er ein überflüssiges Gutachten an, für das der Gutachter erst einmal die 3200 Seiten Text durcharbeiten musste. Er schreckte nicht davor zurück, Intrigen zu spinnen, zu denunzieren und zu lügen, »um das innerhalb von nur drei Jahren von 60 in- und ausländischen Wissenschaftlern geschaffene Gemeinschaftswerk – eine wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Leistung, von der er selbst nicht mal träumen konnte – zu Fall zu bringen«.11
11 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 245.
Welskopf-Henrich wehrte sich: Sie schrieb an den Leiter des Forschungsbereiches Gesellschaftswissenschaften und an den ersten Sekretär der SED-Kreisleitung, der dem Präsidium der AdW angehörte und die höchste Partei-Instanz an der Akademie verkörperte, und sie machte deutlich, dass Verzögerungen nicht hinnehmbar seien. Sie habe nicht Tag und Nacht gearbeitet, um die internationale Gemeinschaftsarbeit zu koordinieren und innerhalb von drei Jahren zur Fertigstellung zu bringen, damit das Manuskript nun auf unabsehbare Zeit in einer Schublade verschwinde. Sie kontaktierte den Direktor des Akademie-Verlags, forderte selbst Gutachten an, setzte Briefe auf, telefonierte, bestand auf persönliche Gespräche, drängte und trieb an. »Die Angelegenheit duldet keinen Aufschub mehr«.12
12 Welskopf-Henrich an Kalweit, Brief vom 31.7.1972. Siehe auch Stark, Isolde: Konferenzband, S. 246.
Da kam ihr die Bitte der Zeitung »Neues Deutschland«, einen kleinen Text für die Rubrik »Woran arbeiten Sie?« zu verfassen, gerade recht: Mit enthusiastischen Worten kündigte sie die Veröffentlichung der vier Poleis-Bände innerhalb der nächsten Monate an und setzte so den Akademie-Verlag unter Druck. Trotzdem blieben Widerstände bestehen. Stellungnahmen wurden ausgetauscht, Besprechungen fanden statt; es war ein zermürbendes Hin und Her. Monate verstrichen, und Hermann praktizierte weiter seine Hinhaltetaktik. Das Gutachten, das er angefordert hatte, ließ weiter auf sich warten. Als Welskopf-Henrich nachhakte, behauptete Hermann wider besseren Wissens, der Gutachter sei viel beschäftigt gewesen und nun erst seit einem Monat mit der Angelegenheit befasst, doch Welskopf-Henrich kannte die Wahrheit und korrigierte den Institutsdirektor sofort. Später lag das Gutachten Hermann zufolge endlich handschriftlich vor, doch es ließe sich angeblich beim besten Willen keine Sekretärin abstellen, um es abzutippen. Als das Gutachten auch noch verhalten-kritisch ausfiel, drohte das Projekt endgültig auf Eis gelegt zu werden. Dann nahte der 7. Oktober, und im Rahmen der Feierlichkeiten zum 33. Geburtstag der DDR erhielt Welskopf-Henrich den Nationalpreis. Den Empfang beim Staatsrat nutzte sie, um einflussreiche Unterstützer zu gewinnen. Endlich wurde das Werk gedruckt.
Nach dieser Niederlage versuchte Hermann nun also, seinen Mitarbeitern zumindest die Arbeit an Welskopf-Henrichs nächstem Projekt, »Soziale Typenbegriffe«, zu verbieten. »Die betroffenen Kollegen beriefen sich daraufhin auf die Freiheit, in ihrer Freizeit machen zu können, was sie wollten, und erklärten somit ihre Arbeit an den ,Typenbegriffen‘ zum Hobby.«13
13 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 250.
Welskopf-Henrich suchte sich immer genau die Leute aus, die sie für ihre eigenen Arbeiten brauchte oder haben wollte. So auch Gert Audring, der im Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie arbeitete. Ob sich Welskopf-Henrich damit den Unwillen des Institutsdirektors Hermanns zuzog, kümmerte sie nicht weiter. Hermanns Macht war ohnehin eingeschränkter als bisher: Die »Sozialen Typenbegriffe« unterlagen nicht mehr der Planung des ZIAGA. Welskopf-Henrich kam für das Projekt in noch bedeutenderem Maße als zuvor selbst auf und sicherte sich so eine größere Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit, die es ihr auch erlaubte, private Mitarbeiter einzustellen, wurde Welskopf-Henrich vor allem durch ihre solide finanzielle Situation ermöglicht, die auf ihren belletristischen Erfolgen beruhte. Das Geld, das sie durch ihre Bücher und den Film »Die Söhne der Großen Bärin« verdiente, gab sie nahezu komplett für ihre wissenschaftlichen Projekte aus. Da die Projekte somit nicht von den Genehmigungsprozeduren der bürokratischen staatlichen Wissenschaftsorganisation abhingen, brauchte Welskopf-Henrich keine Reglementierungen zu fürchten.
Die Wissenschaftler, die für sie arbeiteten, schätzten sie sehr, so dass sie sich stets mit Freuden an ihren Projekten beteiligten. Sie wussten, dass da jemand die Fäden in der Hand hielt, der selbst fleißig arbeitete und den Überblick besaß. Und Liselotte Welskopf-Henrich hat in der Tat unglaublich viel gearbeitet; in Phasen extremer Belastung aß sie Kaffeepulver, um sich wachzuhalten.
Auch Detlef Rößler war einer ihrer Mitarbeiter und über lange Zeit Welskopf-Henrichs Assistent. In regelmäßigen wissenschaftlichen Beratungen und intensivem, auch politischem, Gedankenaustausch lernte er sie gut kennen. In einem Gespräch mit dem Autor beschrieb er Welskopf-Henrich als kleinere, etwas korpulente, freundlich-zurückhaltende, ein wenig mütterlich und einfach wirkende Frau mit einem gütigen Gesicht, die sich gern an der Natur erfreute. Doch in den zahlreichen Diskussionen mit ihr sei ihm die wahre Größe dieser Frau wieder und wieder bewusst geworden.
Liselotte Welskopf-Henrich erlaubte sich auch ein wenig Luxus: So fuhr sie prinzipiell Taxi; auch wenn es nur kurze Strecken zurückzulegen galt. Aber auf der anderen Seite war sie völlig einfach und genügsam in ihrer Lebensweise. Ging sie einkaufen, zog sie beispielsweise gern mit einem alten Kinderwagen los.
»Sie hätten die Frau mal sehen sollen, wenn sie um die Ecke kam!«, erinnerte sich Welskopf-Henrichs Kollege Audring lachend. »Sie hatte so einen grauen Mantel an, ein Tuch um den Kopf und einen klassischen Haarknoten, und dann dieser tiefe Kinderwagen mit solchen kleinen Rädern. Dass das die reichste Frau von Treptow war, hätte man nie geglaubt, weil sie eben ziemlich bescheiden aussah. Absolut bescheiden im Äußeren und dann ganz versessen auf ihre Schriftstellerei.«
Walter Eder beschreibt seine Erinnerung an Welskopf-Henrich wie folgt:
Sie hatte sehr wache Augen, aber sehr strenge Augen. Sie konnte sehr streng auf einen schauen und war aber – in den paar kurzen Stunden, in denen ich mit ihr sprechen durfte – eine eigentlich ganz freundliche Frau.14
14 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 299.
Welskopf-Henrich gewährte ihren Mitarbeitern viele Freiheiten, nicht nur hinsichtlich der Arbeitsweise, sondern auch, was die Beiträge für die verschiedenen Bände betraf, deren Herausgeberin sie war.
Rößler selbst war zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit Welskopf-Henrich noch sehr jung und verfasste in der »Hellenischen Poleis« seinen ersten größeren Aufsatz. Dennoch ließ ihm Welskopf-Henrich völlig freie Hand. Lediglich einige Füllwörter wie »und« oder »auch« strich sie aus dem fertigen Aufsatz – sehr zur Unzufriedenheit des damaligen Anfängers Rößler, der letztendlich jedoch sämtlichen Korrekturen beipflichtete. Dank ihrer Tätigkeit als Autorin wusste Welskopf-Henrich, wie man verschiedene Dinge am besten darstellte und konnte sich auf der Bühne der Sprache und Formulierungen sicher bewegen.
Bei wissenschaftlichen Problemen diskutierte Welskopf-Henrich lebhaft, versuchte bei kleineren Meinungsverschiedenheiten jedoch nicht, ihre Diskussionspartner zu überreden. Unter ihren Angestellten und Kollegen galt sie als tolerant. Dies betont auch Stark, die unter Welskopf-Henrich ihre Doktorarbeit verfasst hat.
Für Rößler war der für die DDR ungewöhnliche »Hauch von Internationalität« beeindruckend, der durch das Haus Welskopf-Henrichs wehte. Kam eine Diskussion angesichts einer schwierigen Fachfrage ins Stocken, griff sie häufig zum Hörer, um beispielsweise János Harmatta, einen berühmten Altertumswissenschaftler aus Budapest, oder andere weltweit tätige Kollegen und Bekannte anzurufen und deren Meinung zu der aufgeworfenen Frage einzuholen.
Zu verschiedenen Anlässen lud sie auf eigene Kosten Kollegen aus aller Welt nach Berlin ein, damit diese an Tagungen oder Kolloquien mit Vorträgen teilnehmen konnten. Die Studenten lernten bei solchen Gelegenheiten internationale Leistungsstandards kennen und genossen die aufgeschlossene Atmosphäre sowie die sachlich-freundlich geführten Diskussionen, die nach Stark »bemerkenswert frei von der Ideologie des Marxismus-Leninismus« waren.15
15 Stark, Isolde: Konferenzband, S. 237.
Oft wurden die Kollegen auch direkt zu Welskopf-Henrich nach Hause eingeladen. Bevor aber Welskopf-Henrichs Gäste zwecks Diskussionen im großen Besprechungsraum Platz nehmen konnten, mussten sie erst einmal in ihr Haus am Rande des Treptower Parks gelangen. Das gestaltete sich oft als abenteuerliches Unterfangen, denn Welskopf-Henrich besaß einige große Schäferhunde, die selbst bei ihren Freunden gefürchtet waren. Wenn man die Klingel neben dem Gartentor drückte, stürzten zuerst einmal die Hunde ans Tor. In den meisten Fällen wurden sie dann von Welskopf-Henrichs Mann Rudolf weggesperrt, bevor der Besuch das Grundstück betreten konnte.

Liselotte Welskopf-Henrich mit ihrer Schäferhündin Unni
Ein tschechischer Althistoriker, dessen fachliche Kompetenz Welskopf-Henrich sehr schätzte und den sie oft zu Vorträgen einlud, wohnte und schlief einige Nächte im Dachzimmer ihres Hauses. Während seines Besuches war Welskopf-Henrich eines Abends unterwegs, und die Hunde liefen frei auf dem Gelände umher, da in der Gegend viel gestohlen wurde. Als Welskopf-Henrich nach Hause kam, belagerten die Hunde die Tür des Dachzimmers; ihr Gast hatte sich vor lauter Angst von innen mit Tischen und Matratzen verbarrikadiert. Dass er mit den Hunden nicht umgehen konnte, nahm sie ihm sogar etwas übel.
Ganz im Gegensatz zu einem rumänischen Kollegen: Er kam eines Tages nichtsahnend auf ihren Hof, als er sie besuchen wollte, und ehe er sich versah, stürzten die Hunde auf ihn zu. In barschem Ton rief er ihnen auf rumänisch »Sitz!« zu, und – sie saßen. Seitdem sprach sie mit größter Hochachtung von ihm.
Natürlich stand auch Welskopf-Henrich nicht mit allen Menschen auf gutem Fuß. Zu ihren erklärten Gegnern gehörte der Gutachter ihrer Habilitation, der klassische Philologe Werner Hartke (1907-1993), späterer Rektor der Humboldt-Universität und Präsident der Akademie der Wissenschaften, der ihr nach ihren eigenen Schilderungen manchen Stein in den Weg legte und ihre wissenschaftliche Arbeit störte. 1954 lehnte Hartke ihre Habilitationsschrift mit dem Titel »Marx, Engels, Lenin und Stalin über die Sklavenhaltergesellschaft« als nicht ausreichend ab. In diesem Projekt hatte Welskopf-Henrich sämtliche Äußerungen von Marx, Engels, Lenin und Stalin zur Antike und zum Alten Orient zusammengesellt und kommentiert. Welskopf-Henrich war sich der Höhe des gesteckten Zieles wohlbewusst: Nach 23 Jahren fachfremder Tätigkeit wollte sie mit der Arbeit in die Alte Geschichte zurückkehren und das Fach selbst unterrichten. »Der Grund für dieses Versagen liegt offensichtlich darin, dass Dr. Welskopf keinen genügenden Kontakt mit der lebendigen praktischen Forschung gehabt hat«, stellt Hartke dann auch fest.16 Zwar würdigte er den »imponierenden Fleiß«, »die gestalterische Kraft« und das zweifellos vorhandene Talent Welskopf-Henrichs. Allerdings sei die Arbeit mit über 600 Seiten bei weitem zu umfangreich und erfordere einen zu hohen Zeitaufwand für ein Aspiranturverfahren, und der Mangel an wissenschaftlichen Quellen und Belegzitaten sei frappierend. Überhaupt gehöre die Arbeit eher in die Politökonomie. 1957 wurde die Arbeit in einer überarbeiteten Fassung im Akademie-Verlag unter Titel »Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike. Ein Diskussionsbeitrag« veröffentlicht. Ein wiederum überarbeitetes und erweitertes Kapitel aus diesem Buch bildete die Grundlage für Welskopf-Henrichs zweiten Versuch für eine Habilitation (»Probleme der Muße im alten Hellas«), die Hartke nach einiger weiterer Kritik und berechtigten fachlichen Einwänden akzeptierte. Später versuchte er zu verhindern, dass Welskopf-Henrich zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt und dass ihre großen wissenschaftlichen Arbeiten wie die »Hellenische Poleis« gedruckt wurden. Der Gutachter, den der Direktor des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie Hermann wie oben beschrieben um eine Beurteilung für das Projekt bat, in der Hoffnung, es stoppen zu können, war kein anderer als Hartke.