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„Du denkst an dich immer noch als den Jungen, der du einst warst. Aber du hast dich verändert“, sagte Arren.
Blake starrte ihn überrascht an. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er all das laut ausgesprochen hatte. Er richtete den Blick wieder hinauf zu den im Wind tanzenden Blättern. „Schon möglich, dass ich in der Vergangenheit lebe“, meinte er.
„Du wirst es schon noch schaffen, sie hinter dir zu lassen“, entgegnete Arren und winkte ab. „Und dann wirst du eine Frau treffen, die dir das Gefühl gibt, geliebt zu werden, so wie es bei meiner Frau und mir ist. Das haben wir alle verdient.“
An Blakes Augenwinkel zuckte ein Muskel. Hatte Arren Recht? Hatten es alle Menschen verdient, geliebt zu werden? Zumindest was ihn selbst anging, war er sich nicht sicher. Er hatte viel Schlimmes, Unverzeihliches getan. Er hatte sich verstellt, sich für jemand ausgegeben, der er nicht war, hatte gelogen, betrogen, getäuscht, gestohlen, gemordet – und das alles für Geld. Damit er leben konnte, mussten andere sterben. Er hatte nicht einmal in Erfahrung gebracht, ob die Anschuldigungen stimmten oder nicht, wenn ihm ein nächster Name genannt wurde. Nur der Auftraggeber war ihm wichtig gewesen. Ob dieser sein Opfer denunzierte, war belanglos. Immerhin wurde Blake für das bezahlt, was er mit seinen Händen tat, und nicht für das Stellen von Fragen. Dies alles zu vergessen, schien unmöglich. Wie sollte er da glauben, dass es besser werden würde? Wie sollte er glauben, dass er eines Tages liebenswert sein würde, wenn er es bis jetzt zu seinem Alter von zweiundvierzig Jahren nie gewesen war?
„Ich bin nicht dazu gemacht, jemand zu lieben und zu umsorgen“, sagte er schließlich, der Unterarm über seinem Gesicht liegend. „Ich bin auch nicht dazu gemacht, von jemand geliebt zu werden. Ich habe auch kein Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen.“
Arren lachte. „Und wie bezeichnest du das, was wir haben?“
Blake kam hinter seiner Deckung hervor und rollte sich auf die Seite, um sich seinem Partner zuzudrehen. Er legte ein schiefes Grinsen auf und stierte über die Flammen hinweg zu ihm. „Ein notwendiges Übel“, konterte er.
Mit dieser Antwort hatte Arren nicht gerechnet. Er verschluckte sich an seiner eigenen Lache und hustete. „Sehr freundlich. Danke“, sagte dieser und rang nach Luft.
„Habe ich dich beleidigt?“, fragte Blake zuckersüß und fasste sich theatralisch an die Brust. Arren winkte ab. „Es ist nun einmal eine Tatsache, dass es besser ist, zu zweit unterwegs zu sein. Der Zufall wollte es, dass du einer der besten Krieger bist, die es gibt“, erklärte er weiter. „Gleich nach mir natürlich.“
Arren schnaubte. „Selbstverständlich. Aber im Ernst, fehlt es dir nicht, eine liebevolle Beziehung zu einer Frau zu haben?“
„Nein.“ Die Antwort kam viel zu schnell, als dass sie ehrlich gemeint sein konnte. Dieses kleine Wörtchen wirkte vielmehr wie ein Kanonenschuss, der zum Selbstschutz abgefeuert wurde, damit nicht die Wahrheit ans Licht gelangen konnte. Arren verstand es und lächelte nachsichtig. Blake schloss seufzend die Augen.
„Ich bin ein geborener Blender und Meuchelmörder“, begann er zu sagen und sah seinem Gegenüber in die Augen. „Was ich nicht bin, ist ein Ehemann. Ich bin fähig zu töten, aber nicht zu lieben. Glaube mir, ich habe es versucht. Ich habe versucht, ein anderes Leben zu führen, aber ohne Erfolg. Das, was ich nun tue, ist das, was ich am besten kann.“ Er konnte es Arren vom Gesicht ablesen, dass dieser schockiert war von den Worten. Doch Blake sah es ganz pragmatisch. Die Dinge waren nun einmal so. Was soll’s?
„Du vergisst dabei, dass du in deinem Tun auch Gutes bewirkst. Du befreist die Welt von Tunichtguten und den übelsten Verbrechern“, erwiderte Arren. Und schaffe Platz für neue Schurken, dachte Blake bitter. „Egal wie du über dich selbst denken magst, ich werde für dich beten, mein Freund, dass du lernst, dich anders zu sehen, Seiten an dir entdeckst, die du nicht kennst, und dass du die Erfahrung einer gesunden, gegenseitigen und aufrichtigen Liebe machst“, sagte Arren und nickte bedächtig.
Nun war es an Blake zu lachen. „Spar dir das. Gebete funktionieren nicht. Es gibt nicht den einen Gott oder irgendwelche anderen Gottheiten oder höheren Mächte! Und wenn doch, dann nur solche der finsteren Sorte, die dafür sorgen, dass sich Schlechtes erfüllt, aber nicht Gutes und die darüber auch noch lachen. Und jetzt Schluss mit dem verweichlichten Gerede oder hast du noch irgendwelche Sorgen, was mich und mein Gefühlsleben angeht?“
Arren schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment nicht. Du hast mir vorerst genug zum Nachdenken gegeben. Vielleicht fällt mir später noch etwas dazu ein.“
Blake nickte. „Viel Glück beim Grübeln. Du kannst dafür die erste Nachtwache verwenden. Ich versuche jetzt, etwas Schlaf zu bekommen.“ Und damit rollte er sich auf die andere Seite, den Rücken zu seinem notwendigen Übel gewandt, und schloss die Augen. Das Letzte, was er hörte, waren diese Arrens Worte: „Dein Name passt perfekt zu dir, mein Freund. Blake – dunkelhaarig und dunkles Gemüt.“
~
„Oh, er ist unausstehlich, dieser Blake“, seufzte Prinzessin Laoghaire. Sie mochte die Figur, die ihr Bruder erschaffen hatte, so wenig, dass sie ein Schaudern durchfuhr.
„Ich mag ihn“, sagte Prinz Anrai und betrachtete sich die Zeichnung des verbitterten Mannes auf der Tapete, der hinauf zu dem gottgleichen Wesen über sich schaute.
Der Prinz war regelrecht stolz auf das, was er sich zu ihm ausgedacht hatte. Nun gut, vielleicht war er etwas über das Ziel hinausgeschossen für den Geschmack seiner Schwester. Aber was hatten sie abgesprochen? Jeder erzählte die Geschichte auf seine Weise, und er war sich sicher, dass sich alles gut zusammenfügen würde.
„Jetzt bist du an der Reihe, Schwesterchen“, sagte er und setzte sich auf den Boden direkt vor der Wand. „Jetzt können deine Träumereien die Welt unserer Erzählung betreten. Wie geht es weiter?“ Grinsend zwinkerte er Prinzessin Laoghaire zu.
Diese raffte ihr Kleid und setzte sich im Schneidersitz hin. Grüblerisch ließ sie ihre Blicke über die Tapete wandern, während ihre Finger über die hellen rosa, grünen und blauen Stickereien ihres Rocksaums strichen. Es dauerte eine Weile, bis sie die passende Idee hatte, um die Geschichte weiterzuerzählen, und Prinz Anrai fing schon an, ungeduldig zu fragen: „Wird das heute noch was? Oder soll ich weitermachen?“
Die Prinzessin hob gebieterisch die Hand. „Still! Ich bin so weit.“
~
3

Wie lange hatte er geschlafen? Blake wusste es nicht. Es konnte allerdings keine Stunde gewesen sein. Es war nach wie vor mitten in der Nacht; das Feuer nicht viel mehr heruntergebrannt. Und doch war er hochgeschreckt durch ein lautes Geräusch, das aus den Tiefen des Waldes zu ihnen gedrungen war. Nun war es jedoch still. Er saß aufrecht auf seiner Decke, mit der Hand an seinem Schwert, das er aus Erfahrung stets bei sich behielt ganz gleich, ob er schlief oder wachte. Blake vernahm lediglich den kräftigen Schlag seines eigenen Herzens, der in seinen Ohren dröhnte, und das aufgeregte Schnaufen Arrens.
„Was war das?“, fragte dieser, griff zu seinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne, bereit ihn abzuschießen auf das, was womöglich auf sie zukam.
„Ein Tier?“, mutmaßte Blake. „Ein Mensch?“
„Ein Mensch, der uns Böses will, wäre darauf bedacht, sich geräuschlos zu bewegen“, erwiderte Arren.
„Einigen wir uns also auf ein Tier“, meinte Blake flüsternd.
„Von mir aus“, brummte sein Partner, hielt weiter Ausschau und lauschte. Die Aussicht auf einen Angreifer aus der Fauna ließ die beiden Männer sich beruhigen, bis abermals ein lautes Knacken die Stille des Waldes zerriss. Dieses Mal jedoch war es näher, was bedeutete, dass was auch immer weiter an sie herangekommen war. Die Geräusche von brechendem Holz nahmen zu, folgten in immer kürzeren Abständen und mischten sich mit einem Seufzen und Stöhnen.
Arren und Blake wechselten verwirrte Blicke. Welches Tier gab solche Laute von sich? Kein ihnen bekanntes jedenfalls. Die zwei Meuchelmörder brachten sich in Verteidigungsposition. Rücken an Rücken stehend, sich gemeinsam im Kreis drehend, suchten sie die blauen und schwarzen Schatten um sich herum ab. Schließlich machte Blake eine Bewegung in ihnen aus. Es war etwas Großes, noch Dunkleres, das da zwischen den Bäumen hervor getaumelt kam. Eine seltsame Gestalt, die Silhouette menschenähnlich und doch wieder nicht.
„Was ist das?“, hauchte er, kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt vor.
Arren wirbelte zu ihm herum, aufgeregt fragend: „Was? Wo denn?“ Die Spitze seines Pfeils auf der Bogensehne zeigte in schnellem Tempo hierhin und dorthin, bis seine Augen das erfassten, dem Blakes ganze Aufmerksamkeit galt. „Was ist das, zum Henker noch eins?“, fragte der Schütze und richtete seine Waffe auf es. Blake zuckte mit den Achseln, trat einen weiteren Schritt vor und reckte den Hals, als könnte er so mehr erkennen.
„Ein Tier ist es jedenfalls nicht“, merkte er an, obgleich er sich dessen nicht ganz sicher war. Denn welches Wesen gab es, das derart ungleich gebildet war: groß und schlank mit zwei Beinen und Armen, aber mit einem merkwürdigen Auswuchs, der vom Rumpf abstand? Einst hatte Blake in einer Gasse darauf gewartet, dass ein Auftrag vorbeikam, als er dem bunten Treiben auf dem Marktplatz lauschen musste, wo ein Puppenspieler für die Kinder Gruselgeschichten darstellte. Über missgebildete Menschen, Monstern aus der Hölle und geflügelten Dämonen hatte er erzählt, was die Kleinen vor Spannung zum Aufkeuchen gebracht, die Eltern jedoch entsetzt hatte. Sie ahnten bereits, welche Auswirkung die mittägliche Erzählstunde über solcherlei Kreaturen mit ihren Sprösslingen in der Nacht anrichten würde. Und nicht wenige zerrten ihre plärrenden Gören von dort fort in der Hoffnung, dass der Schaden noch nicht allzu groß war.
Blake hatte damals den Kopf darüber geschüttelt, sowohl über die Menschen als auch über die Hirngespinste, die sich der Puppenspieler ausgedacht hatte. Mit keinerlei Faser seines Herzens hatte er dessen Worten geglaubt. Monster und Dämonen mit grausigen Fratzen, Fabelwesen und Magie – er war viel gereist, hatte viel gesehen und erlebt, aber in keiner noch so unwirtlichen Gegend hatte er derlei je zu Gesicht bekommen. So etwas gab es schlicht und ergreifend nicht! Aber was war es dann, das da im Wald umher wankte?
Blake schüttelte den Kopf. Es musste eine völlig normale Erklärung dafür geben, und er würde sie schon sehr bald erhalten, denn die Gestalt taumelte immer weiter in seine und Arrens Richtung. Je näher sie kam, desto mehr enthüllte der Schein des brennenden Lagerfeuers an ihr, und nur zwei Wimpernschläge später hockte Blakes Antwort zu seinen Füßen. Mit weit aufgerissenen Augen und dem Ausdruck der Überraschung und des Unglaubens im Gesicht starrte er nach unten, unfähig sich zu bewegen oder zu reden. Doch er wusste mit Sicherheit eins: Es war an der Zeit, dass er seine Meinung über Märchenfiguren änderte. Denn vor ihm kniete ein menschlicher Schmetterling.
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Prinz Anrai hielt sich lachend den Bauch. „Ich kann mir sein Gesicht so gut vorstellen“, japste er.
Prinzessin Laoghaire kicherte. „Es tut ihm gut, eines Besseren belehrt zu werden. Es gibt nun einmal mehr, als unsere Augen sehen können“, sagte sie, selbst überzeugt davon, dass es in ihrer Heimat Kobolde, Trolle und Feen gab. Ihr Bruder winkte nur ab. Die altkluge Art seiner Schwester war ihm nur allzu sehr vertraut.
„Machst du weiter?“, fragte er, und die Prinzessin nickte.
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Ein verdammter Schmetterling saß da vor ihm! Nun gut, ihm fehlte ein Flügel, aber es war ein Schmetterling. Wie konnte das sein? Sicher halluziniere ich, dachte er.
„Arren, sag mir, dass ich das träume“, sagte er, das Wesen zu seinen Füßen nicht aus den Augen lassend.
„Ich wünschte, ich könnte. Aber ich sehe es auch. Das bedeutet also, entweder träumen wir beide dasselbe oder es ist tatsächlich real“, entgegnete Arren, der den Pfeil samt Bogen gesenkt hatte.
„Aber das ist nicht möglich“, flüsterte Blake, ging in die Knie und streckte die Hand nach dem sonderbaren Geschöpf aus. Seine Fingerspitzen berührten sachte die Haut des Gesichts und zogen sich umgehend zurück. Es war also keine Einbildung. Es – sie war echt, so wie er und Arren echt waren, wenn auch nicht so hübsch wie sie, denn das war sie zweifellos: ein zauberhafter Schmetterling in Menschengestalt, eine wunderschöne Frau mit allem Drum und Dran, wie Blake mit einem forschenden Blick erkannte, plus Flügeln. Obwohl, einer fehlte ihr. Die Erkenntnis hatte kaum angefangen sich zu setzen, da packte sie seine Hand und hielt sie fest umschlossen. Im allerletzten Moment gelang es ihm, sich abzufangen, bevor er mit ihr zusammenstoßen konnte.
„Bitte, helft mir“, flehte sie, ihre Stimme so lieblich und wohlklingend, als wäre sie wie auch ihre einzigartige Gestalt einem Kinderbuch entstiegen. „Sie sind hinter mir her.“ Das klang jedoch nicht sehr märchenhaft.
„Wer?“, wollte Blake wissen. Neben ihm schickte sich Arren an, nach ihren Verfolgern Ausschau zu halten.
„Sie haben mir das angetan“, gab der Schmetterling als Antwort, mittlerweile Blakes Hand so fest umschließend, dass er das Gefühl in ihr verloren hatte. Mit Mühe lockerte er ihre Finger um sie, packte sie an den Schultern und hob sie hoch, damit sie auf ihren zwei Beinen stand. Er war erstaunt darüber, wie leicht sie war, aber wenn ein Schmetterling fliegen wollte, musste er auch leicht sein, nicht wahr?
Er schüttelte den Kopf. Wie war es möglich, dass er sich über derlei Dinge Gedanken machte?
„Wer sind sie?“, hakte er nach. Die Ungeduld fing langsam an, von ihm Besitz zu ergreifen, auch die Besorgnis, dass wer auch immer hinter ihr her war, schon bald zu ihnen stoßen würde.
„Es waren andere meinesgleichen“, antwortete sie.
„Es gibt noch mehr von deiner Art?“, fragte Blake. Geschöpfe dieser Größe und Anmut waren nicht einfach zu übersehen. Wieso war er ihnen noch nie zuvor begegnet, hatte noch nie auch nur ein Flüstern über ihre Existenz vernommen?
„Viele, sehr viele gibt es von uns. Helle und dunkle, gute und böse, loyale und untreue, Beschützer und Rebellen“, erklärte sie ihm.
„Schon gut, schon gut. Ich habe verstanden“, würgte er sie ab, bevor sie weitere Gegenüberstellungen hervorbringen konnte. „Ich nehme an, du bist eine von der guten Sorte?“
Sie nickte. „Du erkennst es an meiner Farbe.“ Blake betrachtete sie von oben bis unten, wie sie sich an seinen Arm klammerte, um nicht umzufallen. Ihr musste Schreckliches widerfahren sein. Nicht nur, dass ihre eigene Art ihr einen ihrer Flügel genommen hatte. Sie musste auch schon lange auf der Flucht sein, so kraftlos wie sie war. „Die Farbe meiner Flügel oder besser gesagt meines Flügels -“, Tränen erstickten ihre Stimme und es dauerte einen Moment, bis sie weitersprechen konnte, „ist Gelb. Sie steht für Freude, Glück, Hoffnung und für bevorstehendes Gutes. Normalerweise gilt all dies dem, der einen gelben Schmetterling sieht. Aber ich hoffe, dieses eine Mal gilt dies mir, nun da ich euch gefunden habe.“
Blake sah ihr einen Moment lang schweigend in die Augen, die golden leuchteten. So viel Angst stand in ihnen. Der gehetzte Ausdruck in ihnen, das Flehen um Hilfe und Schutz, das aus ihnen sprach – all das berührte etwas in ihm, sodass er einwilligte, ihr zu helfen.
„Weißt du, ob sie immer noch hinter dir her sind?“, wollte er wissen.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete sie. „Manchmal dachte ich, sie wären fort, und dann habe ich doch wieder etwas gehört oder habe das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden.“
Blake rieb sich sein bärtiges Kinn. „In deinen Worten stecken mir zu viele Eventualitäten, um bis zum Morgengrauen hierzubleiben. Der Weg wäre sicherlich einfacher, aber bei vielen Fragezeichen in einer Situation habe ich gelernt, weiterzuziehen“, sagte er und wies Arren an, zusammenzupacken.
„Hast du schon eine Idee, wohin es gehen soll, mein Freund?“, fragte dieser. Blake nickte ohne eine genaue Erklärung zu geben. Arren akzeptierte dies. Er vertraute auf die Fähigkeiten und die Erfahrung seines Partners, um ihm auch ohne das Wissen um ihr Ziel zu folgen. „Hast du eigentlich auch einen Namen, du schönes Geschöpf?“, wandte sich Arren an ihre neue Gesellschaft.
„Imogen“, antwortete sie.
Arren seufzte. „Ein schöner Name für ein schönes Wesen, das den Anbruch eines neuen Lebens einläutet“, sagte er und fügte mit Blick auf Blake hinzu, „oder das auch für eine neue Beziehung steht.“
Blake sah finster über die Flammen des Lagerfeuers hinweg zu ihm. Er konnte nicht glauben und es ärgerte ihn auch, dass sein notwendiges Übel selbst jetzt noch um sein Liebesleben, sein Wohlergehen, sein Seelenheil, oder wie auch immer er es verdammt nochmal nennen wollte, besorgt war und Zeichen sah, wo er Zeichen sehen wollte. Blake ließ den Unsinn unkommentiert und machte sich daran, das Feuer mit Erde zu ersticken.
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Prinz Anrai würgte. „Irgh! Ich hätte es wissen müssen, dass du den Gefühlsaspekt einbringen würdest, kleine Träumerin“, meinte er zu seiner Schwester, die sich mittlerweile ebenso wie er die Stiefel von den Füßen gestreift hatte.
Prinzessin Laoghaire streckte die Beine aus und lockerte die Muskeln in ihnen. „Du magst dir Blake als abgestumpften Grobian vorstellen, der keinen Wert auf Emotionen legt. Aber das ist nicht richtig. Für niemanden. Was auch immer ihn angetrieben hat, den Weg zu gehen und die Dinge zu tun, die er getan hat. Es steckt auch in ihm etwas, das liebenswert ist“, verteidigte sie ihren ersten Beitrag zu ihrer gemeinsamen Geschichte.
Ihr Bruder verdrehte die Augen. Mädchen, dachte er und besonders dieses Exemplar steckte mit seinem Kopf hoch oben in den Wolken und glaubte stets an das Gute in einem Menschen. Selbst dann noch, wenn dieser eigenhändig seine Gräueltaten gestanden hatte. „Ich denke, es ist Zeit, dass ich wieder übernehme“, meinte der Prinz und betrachtete grüblerisch die Tapete.
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4

Sie liefen und liefen, geführt von Blake, der trotz der um sie herrschenden Finsternis zu wissen schien, wo es für sie entlangging. Stunden mochten vorübergegangen sein, so dachte Arren. Zumindest fühlten sich seine Beine danach an und Imogen, die weit mehr Strapazen in dieser Nacht durchlebt hatte, zeigte noch viel größere Erschöpfung. Doch egal wie oft sie stöhnte, strauchelte und fiel, Blake gönnte ihr keine Rast. Im Gegenteil, er zerrte sie wieder auf die Beine und zog sie mit sich. Manchmal hob er sie auf und trug sie ein Stück des Weges, aber nie für sehr lange, und wenn sie dachte, sie könnte auf seinen Armen ruhen, belehrte er sie eines Besseren. Mit unzähligen Fragen überhäufte er sie, wollte alles in Erfahrung bringen, das es für ihn und Arren zu wissen gab über Imogens Verfolger.
„Du hast unsere Hilfe gewollt. Wenn du sie weiterhin willst, wirst du uns Informationen geben müssen, damit wir uns vorbereiten können auf das, was uns im schlimmsten Fall erwartet“, hatte er ihr bereits am Anfang ihrer nächtlichen Wanderung erklärt. Somit hatten die beiden Männer von Imogens Volk, den Dealan-Dè, erfahren. Arren und mehr noch Blake konnten kaum begreifen, dass es die Welt gab, von der sie erzählte. Doch sie brachte die Worte so glaubhaft hervor, beschrieb so detailreich, dass dieses unbekannte, verborgene Land namens Beathan existieren musste.
„Beathan und das Reich Rohat, meine Heimat, sind unsichtbar für eure Augen. Nur ein Zauberspruch vermag den Schleier, der über ihnen liegt, zu lüften. Dort leben wir, beschützen wir, heilen wir je nach dem, welche Fähigkeiten und Talente ein jeder von uns hat. Angeführt werden die Kriegerinnen, Magierinnen, Wächterinnen, Handwerkerinnen, Heilerinnen und alle übrigen von unserer Königin Enid, die die Dealan-Dè aus ihren Tränen gebiert. Sie ist eine strenge Herrscherin, die von ihren Untertanen viel erwartet, aber sie ist auch gütig, wenn dies angebracht ist. Bei aller Strenge ist sie gerecht. Sie wird sehr verehrt von ihrem Volk, so auch von mir. Ich könnte mir keine Bessere vorstellen, die die Aufgabe übernimmt. Obgleich es uns allen sehr gut geht und es niemand an etwas mangelt, kam vor einiger Zeit Unmut in einigen aus unseren Reihen auf. Erst war es nur eine, die ihre Aufgaben nur ungenügend erfüllte und Befehle verweigerte. Bald darauf schlossen sich ihr weitere an. Aus einer wurden fünf und aus fünf wurden zehn. Mittlerweile sind es etwas mehr als fünfzig Dealan-Dè, die sich zusammengetan haben und rebellieren. Sie gehen gegen anders Denkende vor, unterdrücken, bedrängen, intrigieren und reden auf andere ein, um sie zum Überlaufen zu bewegen. Wer sich ihnen nicht anschließt, ist ein Verräter. Unsere Königin befürchtet, dass sich diese Krankheit, oder was auch immer es ist, das ihre Töchter und meine Schwestern befallen hat, weiter ausbreitet und bald nur noch Dunkelheit herrscht.“
„Hat eure Königin denn nicht versucht, gegen die Aufrührer vorzugehen? Hat sie sie nicht festnehmen und einsperren lassen?“, fragte Arren. Er packte Imogens Arm gerade noch rechtzeitig, bevor sie auf die Nase fallen konnte, da ihr Fuß sich in einer Wurzel verfangen hatte.
„Natürlich hat sie das getan!“, antwortete sie scharf, erbost darüber, dass er hatte annehmen können, ihre Königin sei unfähig, mit dieser Situation umzugehen. „Sie hat sie einkerkern lassen, aber das Gift, das in den Gefangenen wütete, hatte bereits andere außerhalb der Zellen angesteckt. Jenen gelang es, die Festgenommenen zu befreien, und zusammen flohen sie. Lange haben wir nicht verstanden, wieso all das passiert und warum unsere Freunde zu unseren Feinden wurden. Eines Tages kehrte eine Rebellin reumütig in unser Reich zurück, beugte ergeben das Knie und gab uns dringend benötigte Antworten. Sie erzählte davon, dass die Abtrünnigen es auf unseren größten Schatz abgesehen hätten, der verborgen in einer für Menschenaugen unsichtbaren Höhle auf die Zeit wartet, in der er ans Tageslicht treten wird. Die Aufgabe der Wächterinnen unter uns, und ich bin eine von ihnen, ist es, diesen Schatz zu behüten nicht nur bis zu jenem Moment, sondern auch darüber hinaus, denn eine Prophezeiung besagt, dass der Schatz dafür sorgen wird, dass das Chaos in der Welt und das Leid der Menschen beendet und sie den Dealan-Dè ähnlicher werden, die weder Hunger kennen noch Kälte und keine Krankheiten erfahren, wie es die Menschen tun. Die Rebellen wollen, dass immer Chaos herrscht. Sie können die Menschen nicht ausstehen, in denen sie nur niedere Kreaturen sehen und denen sie sich überlegen fühlen. In ihren Augen sind sie schwach, der Magie nicht fähig und in ihrer Entwicklung unterlegen. Sie ergötzen sich daran, wie sie sich gegenseitig bekriegen und zerfleischen, ob nun mit Worten oder Waffen. Die Abtrünnigen haben sogar selbst Zwietracht gesät, um dies zu fördern. Doch um gänzlich zu verhindern, dass sich die Prophezeiung erfüllt, wollen sie den Schatz zerstören, und dafür gehen sie über Leichen“, erklärte Imogen weiter.
Zittrig lehnte sie sich gegen einen Baum, hoffend auf einen Moment der Erholung, nur einen winzig kleinen. Der hätte ihr schon gereicht. Doch ganz gleich, wie sehr sie vor Erschöpfung stöhnte, Blake ignorierte all diese Zeichen und nahm sie lieber Huckepack, als länger an einem Ort zu verweilen.
„Wir müssen in Bewegung bleiben“, brummte er und rutschte sich Imogen auf seinem Rücken zurecht. „Diese Höhle, die du erwähnt hast, liegt also nicht in eurer Welt. Wieso nicht? Warum habt ihr eure ach so große Kostbarkeit nicht in eurem Reich versteckt und dort beschützt?“, wollte er wissen.
Imogen seufzte. „Darüber müsstest du mit unserer Königin sprechen. Es war ihre Entscheidung. Es stand mir nicht zu, diese zu hinterfragen. Nach allem, was ich jedoch weiß, vermute ich, dass es zu den Vorkommnissen ebenfalls eine Vorhersage gibt, die nur sie kennt. Als Anführerin unseres Volkes obliegt es allein ihr, Wissen zu teilen oder für sich zu behalten.“