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Mein Gott, der Schreibdruck, der auf mir lastet, ist offensichtlich. Wie Irla weiß, schrieb meine Mutter für den Bütower Anzeiger unter Pseudonym zwei Novellen, die veröffentlicht wurden. „Komm in meine Liebeslaube, in mein Paradies, denn in meiner Liebeslaube träumt es sich so süß“ sang sie gern, als ihr das Singen noch nicht vergangen war. Und natürlich dürfen Jörgs erotische Geschichten nicht unerwähnt bleiben. Einige sind immerhin veröffentlicht worden, im Magazin, das einzige seiner Art in der DDR, das einmal monatlich erschien. Ich vermute, Kati hat das ein oder andere in der Schublade; sie übrigens führt ein Tagebuch. Zu guter Letzt, Enkel Janis probierte sich in frühen Jahren an phantastischen Geschichten. Wer weiß.
Wendepunkte in meinem Leben würde nicht schlecht klingen. Mein Gefühl sagt mir, den Titel gibt es sicher längst. Die meisten Gedanken sind sowieso schon gedacht, aufgeschrieben und verlegt worden. Der Atomphysiker Hans A. Bethe, der in Los Alamos entscheidend zur Entwicklung der Atombombe beitrug, hatte eine eigene Schreibweise erfunden, bei der er ausschließlich Großbuchstaben verwandte und die von links nach rechts und auf der nächsten Zeile von rechts nach links nebeneinander setzte. Eine logische Erfindung, man spare dadurch viele überflüssige Handbewegungen. Dass vor ihm, in der Antike, jemand auf diese Idee gekommen war, entdeckte er erst auf Kreta, als ihm mehr oder weniger zufällig eine Inschrift in die Hand fiel.
Oder wie wär’s mit Bruch-Stücke? Bruchstücke, auf die Doppeldeutigkeit des Wortes setzend. Ich möchte bloß gern den Schreiber im Titel signalisiert sehen und erweitere den Titel: Bruch-Stücke aus dem Leben eines Sonstigen. Ich schreibe ein Anti-Memoirenstück aus der Erinnerung, was immer das auch sein mag, und freue mich über den doppelbödigen Einfall: weder erhoben noch auserkoren, ein Sonstiger eben. Der Leser aus östlichen Gefilden wird allenfalls bemerkt haben, worauf ich anspiele, ein womöglich abgeneigter Leser aus den sog. alten Ländern will es kaum wissen, es interessiert ihn nicht sonderlich. Die Ex-DDR, ein Unfall der Geschichte. Vorbei, vorbei, was soll‘s. Dagegen rechne ich mit einem bestimmten Interesse bei geneigten ‚Westlesern‘, sobald sie erfahren, was Sonstiger bedeutete.
Ich hole weit aus: In unserer Finnlandzeit waren wir mit einem Mitarbeiter aus der DDR-Handelsvertretung befreundet, der für den BND spionierte, wie offenbar wurde, als er sich 1973 in die Bundesrepublik absetzte. ‚Unser Freund‘ war der sozialen Herkunft nach Arbeiterkind und Kinder von Arbeitern und Bauern wurden in der DDR gefördert. Er hat es seinem Land nicht gedankt. Ich dagegen musste über 20 Jahre lang, der ‚sozialistischen Abstammungslehre‘ entsprechend, mit dem Makel des Großbauernsohns leben. Erst Anfang der 70er wurde die Schmach der dogmatischen Kategorisierung von mir genommen. Ich wurde als Sonstiger der sozialen Herkunft nach eingestuft und gehörte von nun an zu der Minderheit in unserer Republik, die sich nicht in die soziale Nomenklatur Arbeiter (A), Bauern (B) und Intelligenz (I) einordnen ließ. Für Professor Johannes Rößler allerdings, den langjährigen Direktor des Herder-Instituts – er hatte sich als Quereinsteiger in der DaF-Welt durch seine kenntnisreiche diplomatische, aber hartnäckig prinzipientreue Argumentation einen guten Namen gemacht – blieb ich bis zum Ende der Großbauernsohn, was in diesem Fall unser kooperatives Verhältnis nicht trübte. Kaum zu glauben und doch unbestreitbar: Ich war seit der Umsiedlung stets ein Bauernsohn ohne Land, ein Fürst ohne Land, nicht wie Johann Ohneland im 12. Jh. in England bei der Erbschaft vergessen, sondern durch den Krieg ums Erbe gebracht.
Ich höre und sehe schon die vermeintlichen Kritiker sich spreizen: Reich-Ranitzki, mein Wunschrezensent in schlaflosen Nächten, kann nicht mehr darunter sein. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Bruchstücke und Bruch-Stücke? Ich wachse über mich hinaus: Herr Reich-Ranitzki, der Titel wurde längst aufgegeben, spielt bloß im ersten Kapitel eine Rolle. Ja, haben Sie mein Buch überhaupt gelesen? Das ist es ja, der Titel war noch das Beste an diesem Buch, und Sie geben ihn auf! Der Totalverriss lähmt alle meine Glieder. Ich versuche ihn davon abzubringen und erzähle, ursprünglich vorgesehen zu haben: Aus meiner Kreidezeit, einen Titel, den ich immer genannt hätte, sobald ich etwas an die Tafel anschrieb und dabei mit dem Fingernagel unbeabsichtigt den schrillen Ton erzeugte, der einem durch Mark und Bein geht. In dieser Betroffenheitssituation witzelte ich, ob ich jemals meine Memoiren schreiben werde, wisse ich nicht, einen Titel jedenfalls hätte ich. Der Liedermacher Reinhard Mey hat das in Und Tschüs! erfasst: „Oh nee, das kann ich auch nicht haben, wenn man mit’m Fingernagel am Blumentopf oder an ‚ner Tafel kratzt.“ Wie ich auf diesen Song kam? Eine Kollegin aus Samara hatte mich um eine CD von dem Musikus gebeten. Da habe ich mir das eine oder andere angehört.
Es sei wie es sei, ich habe einen Titel für das, was aus mir heraus will – besser: muss. Bei wissenschaftlichen Arbeiten habe ich mir die Überschrift oft erst am Ende überlegt. So auch im gegebenen Falle: Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. In dreifacher Bedeutung: unglaublich, beispiellos, sodann: unverschämt, was der sich traut, das geht auf keine Kuhhaut und von der spätmittelhochdeutschen Wortherkunft her: nie-gehört. Von mir versehen mit: un-erhört, was niemand hören, niemand zur Kenntnis nehmen will.

Den Berg haben die Polen abgetragen
Wer aus seiner Heimath scheidet,
ist sich selten bewußt, was er alles aufgiebt;
er merkt es vielleicht erst dann, wenn die Erinnerung
daran eine Freude seines späteren Lebens wird.
Gustav Freitag
Irgendwann kommt die Zeit, wo man es wissen will. Auf der Suche nach dem Woher bildet der Geburtsort in der Regel eine erste, quasi natürliche Verortung. Viele der Umsiedler haben im Lauf der Jahre ihre Geburtsstätten in Ostpreußen, Hinterpommern, Schlesien, im Sudentenland aufgesucht, um Erlebnissen in der Heimat nachzusinnen, sich zu erinnern, den Abstand zu messen zwischen dem Heute und dem Gestern, Verlorenem nachzutrauern, Zurückgebliebenen zu zeigen, wie herrlich weit man es gebracht, sofern man es zu etwas gebracht hat, Ansprüche anzumelden, Identitätsfindung zu betreiben.
In Michael Zellers Roman Die Reise nach Samosch (2003) sagt die Polin Bascha zu Stephan, dem jungen Schriftsteller, der erfahren möchte, wo sein Großvater als Wehrmachtssoldat Schreckliches sehen und erleben musste: ,,Die Deutschen kommen immer nur nach Polen, um nach ihrem Krieg zu schauen.“ Mein Grund war das nicht. Es war die Neugier, auf einen Ort zu treffen, den andere Heimat nannten, den ich fürwahr vergessen sollte und weitgehend verdrängt hatte. In der Schule bin ich niemals aufgefordert worden, meinen Heimatort zu beschreiben und hätte es gern getan – besonders dieses Stück Land am Wald, aus dem immer die Züge kamen, die Fahrten auf der Eisenbahndraisine, wann immer sie vorbeifuhr, und wir Jungs, erwartungsvoll an der Eisenbahnstrecke stehend, ein Stück mitgenommen wurden.
Um eine in derzeitigen Deutschlehrwerken beliebte Übung zu bemühen: Welches Wort passt nicht in diese Reihe?
Boykott, Litfaßsäule, Praline, Draisine.
Wer kennt heute ein Fahrzeug namens Draisine und weiß, dass Karl Drais es erfand.
Im Gegensatz zu meiner Mutter und meinen beiden älteren Schwestern hatte ich immer den Wunsch, mir Bernsdorf einmal anzusehen. August 1972 – eine Ferienadresse in Oliwa, einem historisch trächtigen Ort, nordwestlich von Gdańsk, hatte uns fast in die Nähe der alten Heimat gebracht, knapp 200 km trennten uns. Der Abstecher nach Bernsdorf war gesetzt. Wir nahmen den Weg über Lauenburg (Lębork), an diese Stadt konnte ich mich neben Bütow (Bytów) und Stolp (Słupsk) vom Namen her erinnern. Die drei Städte begrenzten meinen heimatlichen Horizont in einer höchst abstrakten Weise.
Von Bütow über Hügendorf (Udorpie) kommend, stellten wir unser Auto am Dorfeingang gegenüber der Schule ab. Es war ein russischer Moskwitsch (in der DDR nicht zu Unrecht oft Rostkwitsch genannt) – nicht gerade eine Empfehlung in Polen. Mich beschlich die bange Frage: Wie würden uns die Dorfbewohner entgegentreten? Immerhin war mein Vater Bürgermeister gewesen. Was man im Laufe der Zeit von Verwandten und Bekannten gehört hatte, musste nicht in jedem Fall verlässlich sein.
Bis zur Dorfmitte, bis zur Kreuzung. Auf einer leichten Erhebung steht mit ihrem eingelassenen verschalten Fachwerkturm die katholische Kirche, in die wir einen Blick werfen konnten: Hauptaltar im Stil des Rokoko, barocke Seitenaltäre, Tragaltäre aus dem 18. Jahrhundert. Angeeignetes Kulturwissen, in der Kinderzeit ein fremder Ort, der ‚naturgegeben‘ gemieden wurde, will sagen: Zwischen den beiden Konfessionen gab es Spannungen, gelegentlich abfällige Bemerkungen über Katholiken im Dorf. Sie lassen sich unter Bigotterie mit den Merkmalen Glaubenseiferei und Scheinheiligkeit zusammenfassen. Gefühlt war unser Dorf mehrheitlich evangelisch.
Die evangelische Kirche auf einer kleinen Anhöhe am südlichen Dorfausgang, die Kirche meiner Eltern, blieb uns verschlossen. Seit die letzten deutschen Bewohner das Dorf verlassen hatten, war sie funktionslos, entsprechend trostlos ihr Anblick. Der Eindruck verstärkt sich durch den völlig verwahrlosten Friedhof. Irla hatte von Bemühungen erzählt, für den Erhalt der Kirche unter ehemaligen Einwohnern zu sammeln. Wenngleich man die Initiative von Heinz von Mrozeck achten muss, mir stellt sich die Frage: Wozu? Gewiss, als Kirche ein Denkmal, aber für wen und wofür? Keiner braucht sie heute und die, die sie einst brauchten, werden immer weniger. Von Mroczek indes ist unermüdlich, scheint geradezu besessen von seiner Rettungsaufgabe, selbst weit über die achtzig bat er noch zum Jahreswechsel 2008/2009 meine Schwester um einen Obolus für anstehende Dachreparaturen.
Wir stehen an der Kreuzung, und ich bin mir ziemlich sicher, wir müssen nach links, geradeaus geht's nach Stüdnitz (Studnice), dort, wo der Pfaffensee beginnt. Wir werden unseren Bernsdorf-Besuch an diesem See beenden. „Den größten Findling Pod Zielonym Dworem (Zum Grünhof) müsst ihr euch unbedingt ansehen“, 2 km nördlich des Dorfes, sein Umfang beträgt nicht weniger als 15 m.
Plötzlich taucht der Briefträger auf – ich denke, die Zeit ist stehen geblieben – stoppt sein klappriges Fahrrad und fragt in bestem Deutsch:
Kann ich Ihnen helfen? Wohin wollen Sie?
Zum Hof von Löschmanns,
antworte ich so verhalten wie möglich.
Löschmann? Davon gab es im Dorf zwei,
schießt es aus ihm heraus, Stotter-Löschmann und Bürgermeister Löschmann.
Pause.
Wie heißt dein Vater?
Max.
Dann bist du der Martin.
Wie kann er meinen Vornamen wissen? Meine Mutter hatte von unserem Namensvetter im Dorf berichtet, eine Verwandtschaft gäbe es jedoch nicht. Er muss meine Vorsicht, durch Unsicherheit geprägt, schnell verarbeitet haben: „Du, Martin, dein Vater war anständig, kein übler Nazi wie der Ortsgruppenleiter Wedel.“ Ein Stein fällt mir vom Herzen, wusste ich tatsächlich nicht genau, wie sich mein Vater besonders den Kaschuben gegenüber verhalten hatte. Obwohl man sich seine Eltern nicht auswählen kann und Sippenhaft nicht erwartet wird, machten mich die Worte des Briefträgers ein wenig sicherer. „Geht die Dorfstraße hinunter, auf der rechten Seite ist euer Haus. Ich schau hernach gleich mal bei Flissakowkis vorbei.“
Ein paar Schritte nach links gewendet, konnte ich das Haus erkennen, ein Haus, wie man es überall im Norden Deutschlands kennt: Backstein, ein Giebel in der Mitte der zwei symmetrischen Haushälften, die gewissermaßen durch den Eingang mit Treppenaufgang markiert sind. Das ist es, wiewohl ich nicht begreifen wollte, wie klein, fast armselig es auf mich wirkte. Sah so das Haus eines Großbauernsohnes aus?
Marianne, die nach meinen und meiner Mutters Beschreibungen ein stattlicheres Haus erwartet hatte, hielt sich mit jeglichem Kommentar zurück. Erst als ich meinen Blick nach links schweifen ließ, er auf den Koppelberg traf und ich spontan und vorwurfsvoll ausrief: „Den haben die Polen abgetragen“, war es mit ihrer Zurückhaltung vorbei: „Vielleicht denkst du mal daran, wie klein du damals warst und wie groß dir Haus und Hügel vorgekommen sein müssen.“ Der Koppelberg – maximal 150 m hoch – hatte sich als stattlicher Berg in meinem Kopf festgesetzt, auch deshalb, weil meine Mutter gern erzählte, wie mein älterer Bruder Dietrich, kaum hatte er seine Schier zu Weihnachten bekommen, den Koppelberg erklommen habe und ohne hinzufallen heruntergefahren sei. Kein besonderes Kunststück angesichts der bescheidenen Höhe und des sanft abfallenden Abhangs.
Dietrich war der Stolz der Familie, sportlich, klug, erfolgreiches Notabitur, Leutnant, der eigentliche Erbe des Hofes, hätte nicht die Gesetzgebung unter Hitler den jüngsten Sohn zum Erbhofbauern bestimmt. Die älteren Brüder wurden für den Krieg gebraucht. Ich war der jüngste Sohn, dessen Geburt meine Mutter mit den im Dorf üblichen Abtreibungsmitteln gern verhindert hätte, wie sie mir erst in Zeitz gestand, und zwar an dem Tage, als ich ihr das mit sehr gut abgelegte Abitur vorlegte. Sie war froh, dass ich damals offensichtlich keinen größeren Schaden genommen hatte.
Es scheint mir so, als ob Dietrich, der leidenschaftlich gern Forstmeister geworden wäre und sich womöglich gern im Forsthaus Grünhof niederlassen hätte, das zu Bernsdorf gehörte, mich als kleinen Bruder gar nicht richtig wahrnahm. Der Altersunterschied war einfach zu groß. Er war immer unterwegs, ging aufs Bütower Gymnasium, traf sich mit seiner Gruppe der Hitlerjugend, hatte Freundinnen. Dass es ein Glück der späten Geburt gibt, war zu jener Zeit nicht von mir zu wissen. Zu jung selbst für das Jungvolk. Mir wird man keine Mitgliedschaft in einer Nazi-Organisation nachsagen können wie den Schriftstellern Günther Grass, Siegfried Lenz, Erich Loest, Erwin Strittmatter, Martin Walser, Dieter Wellershof, dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Ihnen hatte man in den neunziger Jahren, als sie schon „mit letzter Tinte“ schrieben, um mich eines Wortes von Grass zu bedienen, ihre Registrierung vorgehalten. Dass sie damals 17-, 18-, 19-jährig waren, wurde ihnen in den meisten Medien nicht nachgesehen. Was für ein Sturm aufgekratzter Entrüstung brach 2006 los, nachdem Grass im Roman Beim Häuten der Zwiebel seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS thematisiert hatte. Enthüllungen, wie die über Strittmatter, er habe im Zweiten Weltkrieg in einer zur SS gehörenden Polizeieinheit gedient und dies verschwiegen, lässt meine Biografie gar nicht zu. Geburtsjahr und Studium zur rechten Zeit machten mich in der DDR zum sog. weißen Jahrgang.
Mutter konnte stundenlang über ihren ältesten Sohn erzählen. Als die Ratten im Kuhstall, gegenüber dem Wohnhaus, überhandnahmen, hat er sich an mehreren Abenden in den Stall gesetzt, gewartet, bis sie in Rudeln vom Dachboden herunterkamen, um die Reste aus den Trögen zu fressen. Licht an und mit dem Luftgewehr losgeballert. Die nächtliche Beute wurde vor dem Stall aufgereiht und zur Bewunderung freigegeben: Hausratten, 16 bis 24 cm lang. Im Gegensatz zu den Wanderratten – liest man heute – nähme die Zahl der Hausratten ständig ab. Mein Rattenbild jedenfalls ist in der Kindheit geprägt worden: Ungeziefer, das man bekämpfen muss.
Wenn das Thema interkulturelle Kommunikation ansteht, fällt mir immer das indische Dorf Deshnok ein, in dem der Ratte ein Tempel gewidmet ist. Es wimmelt in allen Gängen, auf allen Stufen von den Nagern. Pilger reisen von weit her und bringen den Tieren Nahrung im Glauben, dass sie Glück brächten, vorausgesetzt, sie huschen einem über die nackten Füße. Und in China war 2008 das Jahr der Ratte. Ich kann dieses andere Kulturverständnis rational begreifen, meine Einstellung ändert sich deshalb nicht.
An Dietrichs Heimaturlaube erinnere ich mich. Aufregendes Ereignis in der Familie jedes Mal. Einmal berichtete er über den Einsatz an der Ostfront, über die erbitterten Kämpfe, den nicht erwarteten Widerstand der Russen und über den Partisanenkrieg. In einem solchen Krieg kämen selbst sie nicht ohne Grausamkeiten aus: Ein altes Mütterchen habe man in der Nähe von Kiew erschossen, einzig und allein, weil sie am Straßenrand an einem Feuer gesessen und damit angeblich den Partisanen Zeichen, Rauchzeichen gegeben habe. Der vage Verdacht genügte, um sie zu erschießen. Immer wenn ich in der Sowjetunion, später in Russland war – und das war nicht selten – und Babuschkas am Straßenrand hocken sah, wo sie irgendetwas, ein paar Äpfel oder Zwiebeln verkauften, musste ich an das Mütterchen von Kiew denken. Obwohl man genügend über die Gräueltaten der deutschen Soldateska erfahren hat, die von Dietrich geschilderte hat sich tief in mein Kinderherz eingegraben.
Er hatte unbedingt zu den Fliegern gewollt, doch eine kaum merkliche Kurzsichtigkeit des linken Auges verhinderte seinen Eintritt in die gefragte Waffengattung. Vetter Hans Gutzmer dagegen bestand das Aufnahmeverfahren und lief dem Infanteristen im Dorf den Rang ab – Fliegen und Siegen. Als er im Februar 1944, gut ein Jahr vor Kriegsende, als Staffelkapitän des Kampfgeschwaders 51 mit dem Ritterkreuz dekoriert wurde, trennten Welten die beiden Cousins. Mein Vater mochte das wohl nicht gern gesehen haben, jedenfalls hätten sich des Ritterkreuzträgers Eltern beim Bürgermeister beschwert, dass die hohe Auszeichnung im Dorf nicht angemessen gewürdigt wurde.
Mein Bruder war auch als Infanterist begeistert in den Krieg gezogen. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Fürs Volk und Vaterland. Es gibt nichts Schöneres als vor dem Feind zu fallen.“ Spontan möchte man ihm mit Arno Schmidt entgegenschleudern: „Ehe du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir‘s erst mal genauer an!“ Bis heute ist mir der Satz vom schönen Heldentod unfassbar. Nichts gegen Sätze wie: Es gibt nichts Schöneres als lieben und geliebt zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als am Abend ein köstliches Bier zu trinken. Es gibt nichts Schöneres, als eine Arbeit, die einen ausfüllt. Es gibt nichts Schöneres als dem Schweigen eines Dummkopfs zuzuhören (wo hab‘ ich das bloß her?). Ja, ich begreife selbst Ilja Ehrenburgs Äußerung aus dem Jahre 1942: „Wenn du einen Deutschen getötet hast, bring den nächsten um – es gibt nichts Schöneres als deutsche Leichen.“
Auf der Straße vor dem Haus waren wir schnell von vier, fünf Dorfbewohnern umringt, die uns offensichtlich freundlich gesinnt waren, fragten, wie es den Löschmanns ergangen sei. Unter ihnen der Pole von gegenüber, bei dem ich fast zwei Jahre als Pferdejunge gearbeitet hatte. Der Teufel muss mich geritten oder die Verklärung der Kinderzeit mich überwältigt haben, als ich ihm gegenüber ein, mein krönendes Lebensresümee gebe: „Wissen Sie, meine schönste Zeit war eigentlich die nach dem Krieg bei Ihnen: keine Schule, Pferde füttern, striegeln, aus- und anspannen, reiten, pflügen und die herrlichen Ausfahrten am Wochenende. Erinnern Sie sich? Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Das war sein Lieblingslied, er sang es immer, sobald ich ihn, meistens eine Frau neben sich, von Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnissen nach Hause kutschierte. Ich geriet in Fahrt, wurde aber jäh gebremst, denn sein Gesicht versteinerte förmlich. Zu spät. Mit dem knappen Hinweis, er habe zu tun, verließ er abrupt die Runde. Offensichtlich hatte ihn ein Schuldgefühl den Perspektivwechsel nicht mit vollziehen lassen. Wie hätte ich mit zehn die Schule vermissen sollen? Mit Pferden selbstständig umzugehen war für einen Bauernjungen das größte Glück. Was scherte mich, wem Haus und Boden gehörten. Noch in Zeitz hätte ich davon geschwärmt, Bauer zu werden, schreibt Irla, „und sei es auf einem ganz kleinen Hof wie dem von Knuths in Bernsdorf.“ Von dieser Sehnsucht ist nichts übrig geblieben. Bernsdorf kein Sehnsuchtsort.
Ich glaube es manchmal fast selbst nicht, wenn ich von diesen Nachkriegsjahren in Polen erzähle. Ich soll mit meinen 11 Jahren eine Kutsche mit zwei Pferden über Stock und Stein gelenkt, einen Mann kutschiert haben, der Zuchthaus und KZ überlebte, nach dem Krieg zum Besitzer eines Hofes gemacht worden war und nur eines im Kopf hatte, nach all den Entbehrungen in vollen Zügen zu genießen. Unglaublich, hätte ich nicht in meinem 68. Lebensjahr in Myanmar mit eigenen Augen gesehen, was Kinder oft schon leisten müssen: harte Garten- und Feldarbeit, stundenlanges Sitzen beim Zigarrenwickeln, Teppichknüpfen, Krabbenpuhlen, Steine klopfen im Steinbruch. Kinderarbeit, die es nicht und nirgends geben dürfte.
Julika, die mit ihren 14 Jahren bis dahin keine nennenswerte körperliche Arbeit verrichtet hatte, konnte es nicht fassen und verdrehte die Augen ungläubig, als ich berichtete, wie ich als Achtjähriger allein Kühe hütete, dass wir Kinder bei vielen Tätigkeiten auf dem Hof zugreifen mussten. Im Frühjahr und Herbst sammelten wir Steine von den Feldern. Sie kamen in große Körbe, die möglichst gut gefüllt zum Wegesrand geschleppt wurden. Thomas Mann schrieb einmal an Arnold Schönberg: „Ich kann von meinem Stein nicht lassen.“ Er hatte ihn bei einem Strandspaziergang auf Usedom gefunden, schleppte ihn seither mit sich herum, wo immer sein Schreibtisch stand, in München, Los Angeles, Kilchberg bei Zürich. Für mich waren Steine lange Zeit etwas Bedrohliches im wahren Sinne des Wortes Belastendes. Erst im Alter habe ich mich am Sammeln beteiligt: Steine aus Algerien, Australien, Brasilien, England, Griechenland, Schottland, Schweden, Ungarn, von der Ostsee, vom Baikalsee, vom Flussufer des Ob, aus den Rocky Mountains, von der Halbinsel Sinai, aus Oman, von überall her liegen auf der kleinen Dachterrasse in Berlin. Steine als Metapher für Stärke, Steine, die zum Sprechen gebracht, aus dem Weg geräumt werden können, müssen, Steine als Gedächtnisstütze. Spur der Steine von Erik Neutsch, Skulpturen aus Stein gehauen, Werner Stötzers Sandsteingestalt an der Mole in Warnemünde, Penelope, auf Odysseus wartend, mit dem Blick nach Osten, ein gestalteter Stein für all jene Seemannsfrauen, deren Männer nicht mehr heimkehrten. Es dauerte Jahre, ehe die Rostocker Behörden die Aufstellung des Denkmals erlaubten. Man wollte nicht öffentlich wahrhaben, dass der Tod, der aus dem Meer kommt, die DDR nicht umschiffte und immer wieder Seeleute auf dem Meer blieben. Als ob es das Sterben im Arbeitsprozess nicht geben durfte. Grabstein, bloß keinen Grabstein.
Wenn irgend möglich, musste ich unsere Kühe auf Wiesen und Felder treiben, nicht selten ein, zwei Kilometer weit, und das zweimal am Tage. Die Tiere wurden nicht draußen auf der Weide gemolken, wie es heute üblich ist, sondern im Stall. In diesem Punkt gab es zumindest bei meinem Vater ein Erkenntnisdefizit: Kühe, die am Tage 4 bis 6 km laufen, geben weniger Milch als die, die im Sommer draußen, z.B. auf der Alm bleiben. Da es keine eingezäunten Weiden gab, bedurfte es eines Kuhjungen, eines Hirten. Der kleine Steppke, sein Schäferhund Rolf und die Kühe, ja, ich wurde bewundert und genoss die Bewunderung, bis mich eine meiner Schwarz-weiß-Gefleckten im wahrsten Sinne des Wortes überrannte. Es war an einem sehr heißen, schwülen Tag im Juli 1944, als eine Kuh, die gerade noch lethargisch herumgestanden hatte, ab und an Bremsen abwehrend, mit schnellem Antritt und hochgestrecktem Schwanz den Gipfel eines Hügels erstürmte, schnaufend innehielt und plötzlich, ehe ich mich versah, mit gesenktem Kopf herunterstürzte und an mir vorbei Reißaus nahm, die Bremsen hinter sich lassend, zwei Kühe folgten ihr stehenden Fußes. Ich war machtlos, weinte und musste die drei Kühe ziehen lassen. Rolf griff nicht in das Geschehen ein.
War das ein Grund, weshalb wir Jungen ihn manches Mal furchtbar quälten: Wir wussten, dass sich der hochempfindliche Schwellkörper des Penis in einer schützenden Hauttasche an der Bauchseite befindet. Den legten wir frei und rieben ihn mit Hagebutten ein. Das durch Mark und Bein gehende Gewinsel erlosch erst nach x Versuchen, sich von dem Juckreiz zu befreien. ‚Tierische‘ Freude kam bei uns Jungen vollends auf, wenn wir uns von hinten an die Mädchen heranschlichen und Nüsschen der Hagebutte mit ihren feinen, widerhakenbestückten Härchen zwischen Blüschen und Rücken bugsierten.