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Zu Hause ging ein Donnerwetter los, warum ich mich dieser Kuh nicht in den Weg gestellt hätte. Hatte ich, bloß die Kuh beachtete mich nicht, und ehrlich gesagt, ich war in letzter Sekunde zur Seite gesprungen, es ging alles furchtbar schnell. „Du musst dich der Kuh entschlossen entgegenstellen. Beginnt sie mit dem Schwanz zu wedeln, hin zu ihr und sie mit dem Hund von ihrem Startplatz vertreiben.“ Einleuchtend, aber ich schien einfach zu klein zu sein, die Theorie erfolgreich umzusetzen. Jedenfalls ist diese Kuh noch mehrmals durchgebrannt.
An Arbeit gewöhnt, empfand ich es in meiner Pferdejungenzeit keineswegs als diskriminierend, dass ich nun zum Personal rechnete und in Vorräumen, in Küchen abgespeist wurde, das wiederum reichlich und gut. Nicht selten wurde mir ein Kuchenpaket zugesteckt oder Braten, falscher Hase, den ich besonders gern aß. Ich fühlte mich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Objektiv gesehen, verharmloste ich mit der positiven Erinnerung die für unsere Familie katastrophale Nachkriegszeit, indem ich sie sozusagen kindlich naiv schönfärbte. Das musste bei meinem Gegenüber zumindest zum Missverständnis führen. Ähnlich geht es mir, wenn ich an Stammtischen oder anderswo höre, wie ehemalige Kriegskameraden ihre Fronterlebnisse immer wieder aufs Neue austauschen und dabei ins Schwärmen geraten. Sie haben überlebt. Auffallend allerdings, dass derart verklärende Berichte über die Ostfront im Vergleich zu anderen Fronten weniger im Umlauf sind. Oder irre ich mich da?
Frau Flissakowski bittet uns ins Haus. Wir treten durch die Tür vom Hof her ein. Wie früher. Der eher repräsentative Eingang von der Dorfstraße wurde ausnahmslos bei feierlichen Anlässen geöffnet.
Irlas Kriegshochzeit war eine solche Gelegenheit, bei der trotz der furchtbaren Geschehnisse kräftig gefeiert wurde. Ein Kalb und ein Schwein waren extra geschlachtet worden, wozu man in den letzten Kriegsjahren eine Genehmigung brauchte. Eine Amtsperson wollte die im Nachgang sogar einsehen. Folgen hatte die hochnotpeinliche Befragung für den Bürgermeister Löschmann wohl keine. Dass mein Vater Bürgermeister war habe ich früher in allen Fragebögen verschwiegen. Großbauernsohn und Bürgermeistersohn – das hätte mich in der DDR zusätzlich belastet. Mir reichte ersteres völlig. Ich weiß nicht, wie mein Vater zu dem Amt gekommen war, für mich als Kind war eh Irla die Bürgermeisterin, da ich sie oft am Tisch schreiben sah und sie schließlich in Bütow die Mittelschule besucht hatte.
Zu einer Hochzeit gehörte jedenfalls, dass geschlachtet wurde. Der Schlachter kam ins Haus und wir Kinder wussten, was die Stunde schlägt. Ein besonderes Ereignis, ich würde es nicht Schlachtfest nennen, keine Bekränzung des Opfers, aber aus dem Alltag herausragende Tage waren es schon. Der Schlachtvorgang gehört zu den naturgemäßen Abläufen auf einem Bauernhof, die dem Städter zumeist zuwider sind; der ist froh, dass sich Tötung und Verarbeitung der Tiere möglichst weitab in einem Schlachthof vollziehen. Für uns Kinder war nicht das Töten der Graus, sondern die bei den Erwachsenen sehr beliebte süßsaure Blutsuppe ebenso wie die frisch hergestellte Hausmacherwurst. Was auf den Tisch kam, musste gegessen werden.
Vieles war wie früher. In der Wohnstube die schwarze Anrichte, in der Mitte der stabile Esstisch, sechs Stühle zählte ich, ein Sofa, an das ich mich nicht erinnern konnte. Und ein Bild der Maria hing nun zwischen den Fenstern im Wohnzimmer, dort, wo früher ein Ölgemälde hing. Mein Vater hatte es zur Zeit der Inflation mit einer Fuhre Korn erworben. Ja, das war derselbe große Tisch, an dem sich unsere Familie versammelte. Suppen werden sichtbar, die uns Kinder nicht behagten: Erbsensuppe, Kartoffelsuppe nun ja, Linseneintopf, wenn da nicht dieser Speck drin gewesen wäre, und dazu dieses Würgegericht aus Gänseklein, Backobst und Kartoffelklößen, die gerade erwähnte süßsaure Blutsuppe, die es buchstäblich immer gab, wurden Gänse geschlachtet, meistens acht bis zehn auf einen Schlag. Zugleich sehe ich Pellkartoffeln und Hering, kulinarische Höhepunkte: Plinsen, aus Buchweizenmehl und geriebenen Kartoffeln, Obstsuppe, Vanillepudding, rote Grütze, selbst gebackenen Kuchen, Hefe-, Streusel-, Johannisbeer-, Stachelbeerkuchen.
Es wird Kaffee gebracht, Käse- und Schmalzstullen aufgetischt. Tochter Theresa kommt mit ihren zwei Kindern herein, sie bewohnt offensichtlich die zwei Zimmer, die links vom Eingang liegen und das Altenteil unserer Oma waren. Sie lebte sehr zurückgezogen, schlief auf einem Strohsack, strickte und stopfte unsere Strümpfe, las in der Bibel, sang Kirchenlieder, oft Eine feste Burg ist unser Gott – von Heine als „Marseiller Hymne der Reformation“, von Friedrich Engels als „Marseillaise der Bauernkriege“ bezeichnet und von mir auf der Silvesterparty der Uni zum Lutherjahr 83, leicht alkoholisiert lautstark skandiert. Unsere Oma, Mutter von sieben Kindern, hat sich in Abständen bei meiner Mutter darüber beschwert, dass sowohl meine zwei Jahre ältere Schwester Gisela als auch ich die Tür zu ihrem Zimmer ohne Vorankündigung aufstießen und ohne ein Wort die zerrissenen Strümpfe in den Raum schmissen. Viel mehr weiß ich nicht über meine Großmutter. Bestimmt erinnerte ich, falls sie, wie man von anderen Großmüttern hörte, erzählt hätte, von der Wand sei wieder einmal ein Bild gefallen, ein sicheres Zeichen, dass ein Mitglied der Familie im Krieg gefallen wäre.
Die ohnehin etwas schwierige Unterhaltung – nicht der Sprache wegen, eher wegen der recht vertrackten Grundsituation – flacht ab, als Sohn Janucz das Wohnzimmer betritt, in stark verschmutzter Kleidung, mit blau unterlaufenen Augen, es war erst gegen elf und eine Alkoholfahne wehte ihm voran. Wir sahen dann, in welch schlechtem Zustand der Hof war, und wir wussten, warum. „Erinnerst du dich, wie wir zusammen die Kühe gehütet haben?“
Er blieb nicht lange, höchstwahrscheinlich schämte er sich. Dabei hätten wir beide uns am meisten zu erzählen gehabt.
Im sog. feinen Zimmer, das bei besonderen, vor allem festlichen Anlässen geöffnet wurde, stand tatsächlich noch das Klavier, auf dem meine Geschwister geübt hatten. Auf Bildung im weitesten Sinne haben meine Eltern, namentlich meine Mutter, größten Wert gelegt und keine Ausgaben gescheut. Ich bin sicher, dass meine Eltern angetan waren, als ein Lehrer um Irlas Hand anhielt. Unser Hof von knapp 50 ha warf ja nicht so viel ab, dass nicht gerechnet werden musste. Sollte er als Ganzes erhalten bleiben, mussten meine vier Geschwister ausgezahlt werden, ihren Anteil am Erbe in Geldwert bekommen. Beide Eltern schufteten von früh bis spät, selbst im Winter gönnten sie sich keine Ruhe. Aus den verschneiten Wäldern wurde in Fremdarbeit, d.h. gegen Bezahlung, Holz aus dem tiefen, finsteren Wald zum Bahnhof transportiert. Eine nicht ungefährliche Arbeit, ein Baumstamm konnte sich schnell lösen, und einmal löste sich einer, überrollte meinen Vater und verletzte ihn ziemlich schwer. Seine Narbe im Gesicht kam von dieser Verletzung.
Unser Hof war niemals verschuldet. Das gesparte Geld kam in eine verschließbare Zigarrenkiste und wurde am Spartag auf die Bank gebracht. Jeder Groschen wurde dreimal umgedreht, ehe er ausgegeben wurde. Was sein muss, muss sein. Meine Mutter ließ sich immerhin ihre Festkleider von einer bekannten Schneiderin in Bütow anfertigen. Irla erinnert sich an ein blaues Seidenkleid mit Perlen bestickter Schärpe im Charlestonstil. Die hin und wieder nach Bütow unternommenen Fahrten waren immer Einkaufsfahrten.
Mir ist mein Vater letztlich fremd geblieben, an seine Geburtstage am 30. Dezember erinnere ich mich jedoch gut. Denn einen Tag danach, zu Silvester, gab es immer Pfannkuchen, sie wurden den Honoratioren des Dorfes angeboten. Sie, nicht die Verwandten, wurden eingeladen: der Förster Borchert, der Lehrer Brosowski, der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts Kosin, Ortsgruppenleiter Wedel. Berge von Pfannkuchen errichten sich vor meinen Augen, an deren Abtragung wir Kinder beteiligt wurden. Handarbeit: Unsere Mutter riss von einem großen Teigklumpen nach Gefühl eine Handvoll Teig ab, formte sie zu einem ballförmigen Gebilde, meine Schwester hatte einen Löffel selbstgekochter Marmelade oder Pflaumenmus hinein zu bugsieren und die Bällchen auf einem Blech geordnet abzulegen. Das voll belegte Blech kam zum Gehen oben auf den Kachelofen in der Wohnstube. Sobald sie aufgegangen waren, verschwanden die Pfannkuchen in einem großen Spezialtopf mit siedendem Öl und erhielten die duftende Bräune, wurden mit Zuckerguss überzogen oder mit Puderzucker bestreut. Wenn irgend möglich, hat unsere Mutter viele Jahre nach dem Krieg in Zeitz und darauf in Halle-Neustadt Pfannkuchen für den Rest der Familie gebacken. Irrläufer mit Senf kamen erst in dieser Zeit hinzu.
Als die Tür zum feinen Zimmer geöffnet wird, bestimmt nicht das schwarze Klavier meine Assoziationen, sondern die Bescherung am Heiligabend. Die Tür ging auf, der große Tannenbaum erstrahlte im Lichterglanz und die Geschenke lagen unterm Weihnachtsbaum. Stille Nacht, heilige Nacht. Ich bekam die lang gewünschten Schlittschuhe.
Man will uns die oberen Räume zeigen, aber ich glaube, unsere Führerin durchs Haus ist froh, dass wir darauf verzichten. Sie war ja auf unseren Besuch nicht vorbereitet. Und was hätte die Besichtigung zusätzlich gebracht? Die Bestätigung, dass die Kammern, in denen meine Geschwister schliefen, klein waren und es in den Räumen keine Öfen gab. Im Winter war es da oben bitter kalt, das Wasser gefror in der Waschschüssel. Damit die Katzenwäsche früh am Morgen überhaupt erledigt werden konnte, goss die Mutter heißes Wasser auf das Eis. Das Zischen klingt in meinem Ohr.
Das elterliche Schlafzimmer, an dessen linker Seite mein Kinderbett stand, war etwas größer. Es gab eine Zeit, wo ich aus mir heute unerfindlichen Gründen nicht ins Töpfchen pinkelte, sondern hinters Bett. Eigenartigerweise gab es dafür keine Schläge. Nach Entdeckung der vor sich hin stinkenden Angelegenheit wurde ich über Wochen und Monate, bevor sich meine Eltern zur Nachtruhe begaben, von meiner Mutter vorsorglich wachgerüttelt und auf den Pott aus Emaille gesetzt, bis sich etwas tat. Das konnte allerdings dauern. Schläge gab es dagegen, als ich mich einmal eingeschlossen hatte und meine Eltern über das offene Fenster mit Hilfe einer Leiter einsteigen mussten. Gisela und Renate hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mich als Gespenster in meinem Kinderbett zu erschrecken. Wie konnte ich mich besser wehren? Pech für mich, ich vergaß, vor dem Einschlafen die Tür wieder aufzuschließen.
Vom Eheleben habe ich wenig mitbekommen, anders, wenn mein Vater aus dem Gasthof kam und etwas über den Durst getrunken hatte, was zwei-, dreimal im Jahr passieren konnte. Er konnte in solchen Nächten recht aggressiv werden. Zumindest die Freudianer unter meinen Lesern werden es deuten können, sobald ich an dieser Stelle bekenne, nach reichlichem Alkoholgenuss werde ich eher sanft wie ein Lamm. In einem ersten Versuch über meinen Vater hatte ich ihn zum Entsetzen von Irla als Quartalssäufer charakterisiert. Ich wollte es mir mit ihm zu einfach machen, eine der üblichen Stanzen bedienen, die Söhne über viele Generationen geformt und bereitgestellt haben.
Und das Bild über dem elterlichen Bett habe ich auch nicht vergessen. Geht es in einem Gespräch, in einer Diskussion um Kitsch, habe ich es vor Augen: nächtliche Waldesstimmung, eine gut ausgeleuchtete Lichtung, Rehe im Hintergrund, links im Bild junge Männer oder waren es irgendwelche Satyrn, trunksüchtige, lüsterne Begleiter des Dionysos, die Blicke auf herannahende Elfen gerichtet, deren nackte Körper leicht verhüllt.
Ich fragte, ob wir uns auf dem Hof und im Garten umsehen dürften. Wir durften natürlich, ich hatte wohlbedacht gefragt, um klarzumachen, wir kommen nicht mit irgendwelchen Ansprüchen. Wir nahmen den Weg an der Pumpe vorbei, die tatsächlich funktionierte, der Schwengel musste einfach bewegt werden, ließen rechts den kleinen Obstgarten liegen, der zum Altenteil gehörte und aus dem wir der Oma gern mal die gut schmeckenden Gravensteiner gestohlen hatten, und standen vor dem eigentlichen Hof.
Können Sie erklären, warum der Protagonist dieses Buches am Samstag, dem 17. Januar 2009 gegen 14 Uhr bei REWE in der Kulturbrauerei (Prenzelberg) Gravensteiner Apfel-Gelee/Aus reinem Gravensteiner Apfelsaft kaufte?
Auf dem Hof prangte die große Dunggrube nebst Jauchengrube. Die war nun wirklich riesig, sie wirkte überdimensional, ein kleiner zerzauster Haufen Mist darin. Flissakowskis besaßen lediglich einen Teil des Bodens, waren Kleinbauern geworden, wie man sie aus Polen kennt: drei, vier Kühe, ein Pferd, ein paar Schafe. Wo sollte der Mist herkommen? Bei sechs Pferden, fast zwanzig Kühen und mehreren Kälbern, Färsen, einem Bulle war das etwas anderes gewesen.
Der Bulle war im Kuhstall von den Kühen getrennt. Er hatte seinen Platz am Übergang zu dem Teil, wo die Kühe standen. Es konnte passieren, dass er mit den Hinterbeinen auf diesem Gang stand. Eines Sonntags, ich war für den Kirchgang in einen adretten Matrosenanzug gesteckt worden, marschierte ich, als die Aufbruchsstimmung auf ihrem Höhepunkt angelangt war und sich keiner um mich kümmerte, in den Stall und forderte den Bullen mit der mir zur Verfügung stehenden Stimmgewalt auf, den Übergang freizugeben: Bulle rum! Dieser hebt stattdessen das rechte Bein, das in der eigenen Scheiße gestanden hatte, und schüttelte den Brei – das Bein leicht nach hinten gestreckt, wo ich auf die Befolgung meines Kommandos erwartungsfroh wartete – voll in mein Gesicht und auf den neuen Anzug. Ach, wie habe ich geschrien. Ganz offensichtlich hatte ich einen falschen Standort für mein Kommando gewählt. Gott sei Dank, Irla war zur Stelle, beruhigte meine Eltern, nahm mich ans Händchen, tröstete mich, „ein Junge weint doch nicht“, befreite mich von dem Übel und fand eine Ersatzkleidung.
Die älteste Schwester musste sich um uns kümmern, und sie tat es mit allem Nachdruck liebevoll. Dass wir Hochdeutsch sprachen, war gesetzt und wurde mit aller elterlichen Strenge durchgesetzt, unterstützt von unserer stellvertretenden Mutter. Ich war der Junge mit den x-Beinen und musste noch vor der Schulzeit über einen längeren Zeitraum hinweg täglich eine bestimmte Zeit im Schneidersitz verbringen. Ein fachmännisch zu belegender Rat steckte wohl nicht dahinter, aber meinen Beinen ist die vom Schwesterchen beaufsichtigte Übung gut bekommen.
Meine Güte war die Scheune verfallen. Man sah ihr gleich an, dass sie nicht mehr im vollen Umfange gebraucht wurde. Von Quantität und Qualität der eingefahrenen Ernte hing viel ab. Im späten Herbst und im Winter wurde gedroschen: Roggen, kaum Weizen, Hafer, Gerste. Mein Vater legte die Garben oben auf der Dreschmaschine selbst ein. Wir Kinder mussten die Garben, die aus dem jeweiligen Scheunenfach auf die dafür vorgesehene Fläche der Maschine geworfen wurden, zunächst einzeln auf den Garbentisch legen und aufschneiden, bevor der Einleger sie behutsam herunternahm. Oh, diese Tätigkeit war gefürchtet. Exaktheit, Koordination, Augenmaß waren verlangt. Die Ähren immer rechts von einem auf den Tisch, niemals zwei Garben, im richtigen Moment aufschneiden, auf keinen Fall mit der Garbe dem Vater vor dem Gesicht herumfuchteln, geschweige denn ihn treffen. Da konnte er saugrob werden. Einmal habe ich meinem Vater die grantigen Ähren ins Gesicht gewischt. Obschon ich mich für meine Unachtsamkeit sofort entschuldigte, musste ich auf der Stelle die Dreschmaschine verlassen. Gisela hat mich an diesem Tag ersetzt. Ich war geächtet, ein Kind, ein Junge gar, der nicht einmal das richtig konnte.
Die Scheune war von Hause aus ein Abenteuerspielplatz der besonderen Güte. Von den Versteckmöglichkeiten können Stadtkinder bestenfalls träumen. Damit das Versteckspiel nicht missriet, wurde der Raum begrenzt. Solange das Korn nicht gedroschen war, durften wir ohnehin nicht überall in der Scheune herumtoben. Ängstlichkeit war verpönt, die besten Chancen hatten die guten Kletterer. Meine zwei Jahre ältere Schwester war unerreicht. Doch einmal hat es sie voll erwischt, mit vorgebeugtem Kopf war sie gegen eine Wagendeichsel gerannt, die auf der Tenne stand, die Platzwunde musste genäht werden. Ein anderes Mal war Harald, Sohn des Stellmachers und Ortsgruppenleiters, an einem Balken tief ins gedroschene Stroh gerutscht, sodass er sich nicht ohne des Polen Adam Hilfe heraushieven konnte. In der Scheune fanden übrigens die Doktorspiele statt, bei denen die Älteren, Harald und Gisela, die Hauptakteure waren, er der Doktor, sie die Patientin, die sich auf den mit Stroh bedeckten Boden legte, nachdem sie sich ausgezogen hatte. Sie wurde gründlich untersucht. Wir Kleinen waren aufgeregt staunende Zuschauer. Doktorspiele finden, wird behauptet, zwischen 3 und 6 Jahren statt. Wieso war ich da passiver Zuschauer?
An der Stirnseite der Scheune vorbei gelangt man zum Obst- und zum Gemüsegarten, am Ende befand sich ein Teich, in dem sich Enten und Gänse tummelten. Eigentlich schon zu unserer Zeit verschmutzt und unappetitlich, jetzt war er vollends versumpft. Die paar Entchen und Gänschen konnten uns den Blick nicht verstellen.
Heio Popeio, was raschelt im Stroh?/Das Gänschen läuft barfuß und hat keine Schuh/Der Schuster hat Leder, keine Leisten dazu/ drum kann er auch machen dem Gänschen keine Schuh.
Der Obstgarten mit seinen riesigen Apfel- und Birnenbäumen wird zum Gemüsegarten hin von Pflaumenbäumen abgeschlossen: die deutsche Hauspflaume, würzig und knackig. Bis es nicht mehr ging, habe ich die reifen Pflaumen in mich hineingestopft und frischer Pflaumenkuchen war ein unbeschreiblicher Genuss. Nirgendwo auf der Welt habe ich unsere Pflaumen wiedergefunden. Diese großen Pflaumen aus Kalifornien, mit Chemie durchtränkt, sind mir ein Gräuel. Erst als ich 2001 zu einem vom DAAD geförderten Seminar für kasachische Universitätslektorinnen und -lektoren in Astana war, habe ich sie wiedergefunden. Das Klima ist ähnlich, kontinental, mit harten Wintern. Während meines vierzehntägigen Aufenthalts verdrückte ich Tag für Tag ein Pfund, manchmal gleich ein ganzes Kilo. Falls mich meine Geschmacksnerven und mein Erinnerungsvermögen nicht täuschten, schmeckten sie jedenfalls wie die von Zuhause. Hätte meine Mutter zu der Zeit noch gelebt, sie wäre gewiss in der Lage gewesen, die Wiederentdeckung der Pflaume meiner Kindheit zu bekräftigen. Vielleicht war ich nach den vielen Jahren reif für die Relativierung eines Verlustes.
Das ist der Daumen/der schüttelt die Pflaumen/der hebt sie auf/der trägt sie nach Haus/und der Kleine, der isst sie ganz alleine.
Wie lebte unsere Mutter auf, als wir ihr einmal aus Polen Schweinebohnen mitbrachten. Sie wurden in unserem großen Garten angebaut und gehörten zu ihren Lieblingsessen. In der DDR waren sie kaum zu finden. Wir erinnerten uns gemeinsam, wie unsere Großmutter die Bohnen, vor dem Garten sitzend, auspuhlte, wie sie in einen großen Kochtopf mit Salzwasser geschüttet, gekocht, abgegossen, in Butter geschwenkt und mit viel Petersilie auf den Tisch kamen. Mehlsuppe gab es dazu, die nach Ansicht meiner Mutter nicht besonders gut zu dem Schweinebohnen-Gericht passte, sie trank deshalb lieber Buttermilch dazu.
Sauerkirschen dagegen habe ich seit der Neuansiedlung in Mitteldeutschland nie vermisst, sie wurden durch die verschiedenen Süßkirscharten ersetzt, die hatte es in Bernsdorf nicht gegeben. Ich lernte sie zuerst in Zeitz beim Öbster Urban kennen, bei dem wir nach der Umsiedlung einquartiert worden waren und dem ich als Schüler beim Pflücken von roten, schwarzen und gelben Knorpel- und Herzkirschen half.
Am Garten entlang führte ein Weg durch die Felder, in Umrissen zu erkennen, ein kaum merklicher Anstieg und man hat einen Blick bis zum Wald, Eichen und Buchen – Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen, blitzt und donnert es. Der Wald, der uns mit seinen vielen Früchten lockte, hat sich mit der Zeit dem Dorf genähert. Sein Rand hob sich sichtbar ab. Der Wald als Ort voller Geheimnisse, beängstigend und undurchdringlich. Ich habe im Studium die romantische Naturauffassung leicht nachvollziehen können, wonach der Wald für eine Natur steht, in der sich Wunderbares und Beängstigendes ereignet.
Die Annäherung an das Dorf war keine Einbildung wie beim Koppelberg, sondern wurde mehrmals im Dorf bestätigt. Reizvoll ist der Blick von hier aus insofern, als er zwei Seen einschließt. Zwar erhascht man nur ein paar blaugraue Flecken, die Wasser vermuten lassen, doch machen sie die Landschaft abwechslungsreich. Schulwissen aktiviert sich: Du hast deine Kindheit zwischen Moränenhügeln, Wäldern und Seen verbracht. Glaziale Serie. War das obendrein ein Grund aus der Leipziger Tieflandsbucht auf den Prenzlauer Berg zu ziehen?
Auf dem Rückweg fällt mein Blick zwischen Obst- und Gemüsegarten auf den verfallenen, grün überwucherten Backofen. Wie konnte ich ihn übersehen, am Weg ins freie Feld. Eine Art Hexenhäuschen mit einem kleinen Satteldach, das den riesigen Ofen vor Wind und Wetter schützte. Mehr als 20 Brote auf einmal konnte man darin backen und diverse Kuchen auf großen Blechen.
Alle 14 Tage war Backtag. Das Heizen mit Holz war Großmutters Aufgabe. Die Aussicht auf frisches Brot, frischen Kuchen machte den Tag zum Festtag. Für die Mutter war es eine Plackerei: Der Teig musste in einem Holztrog fast eine Stunde lang geknetet, der Ofen auf Backhitze gebracht werden. War das Feuer erloschen, wurden Asche und verkohlte Holzreste fein säuberlich entfernt und Brote und Kuchen hineingeschoben. Ein Schieber stand nach wie vor in einer Ecke. Im Herbst nutzte man die Restwärme zum Trocknen von Obst, Äpfeln und Birnen, Pflaumen. Wann immer gebacken wurde, wir Kinder waren dabei. Aus dem fertigen Teig etwas formen zu dürfen, machte uns glücklich, zu Künstlern, die beim Anblick des bereitgestellten Materials kaum ihren Schaffensdrang zu bändigen vermögen. Nach allem das fertige Produkt in den Händen halten und ohne Skrupel hineinbeißen. Kaum waren die Brote und Brötchen im Ofen, quälten wir die Mutter mit der Frage, wann unsere Brötchen denn endlich fertig seien. Der Backprozess musste ständig beobachtet werden. Unsere Mutter zum Backofen eilen sehen, hingen wir schon an ihrem Rockschoß. Backen in einem freistehenden Backhäuschen ließ Mutter den Wechsel der Jahreszeiten intensiv miterleben: Sommerhitze und Eiseskälte, herbstliche Stürme und Frühjahrsschauer. Und welche Freude, kam man im Sommer ins angenehm kühle und im Winter ins wohlig warme Wohnhaus zurück.
Auf dem Rückweg kommen wir direkt an dem Örtchen vorbei, windschief nun, irgendwie verloren, zwei Türen: die linke für die Magd, den Knecht, die Saisonarbeiter. Bei 30 Grad minus konnte einem in der rechten Hälfte ebenso kalt um den nackten Po werden wie in der linken.
Wenn der Bauer an den Waldesrand hetzt,
war das Plumpsklo schon besetzt.
Ich denke, 30 Meter waren vom wärmenden Haus aus zu überwinden, das im Winter an der Kellerseite zum Hof hin mit einer mannshohen und einen Meter dicken Wärmedämmung aus Mist bepackt wurde, die den Ratten behagte. Die Toilette auf halber Treppe in der Posaer Straße in Zeitz, der ersten eigenen Wohnung nach der Umsiedlung, wurde dagegen bei größter Kälte als eine wohltuende Einrichtung empfunden. Eigenartigerweise habe ich das Klo, in dem Edgar Wibeau, Held des Romans Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf, zufällig ein altes Exemplar von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther findet, immer mit dem Plumpsklo in Berndorf verbunden. Das angedachte Familien-Projekt Toiletten in aller Welt, das leider nicht das Licht der Welt erblickte, sollte mit dem Häuschen in Berndorf beginnen. Weitere Höhepunkte das Café 89 in New York, die Toiletten eine Treppe höher, die Kabinen durchsichtig, sodass man Klarsicht der draußen Stehenden befürchtet, doch kaum schließt man die Tür von innen, wird glücklicherweise die Einsicht vermilchglast. Jörg hatte das Café entdeckt, und wir wiederum führten Enkelin Hanna auf der New York-Reise, unserem Geschenk zu ihrer Jugendweihe, in diesen Toilettenwitz ein. Und der Hinweis auf der Herrentoilette im größten Supermarkt von Quingdao (Tsingtao) in China: Step Forward to Get Closer to Civilization.
An dem Holzhäuschen vorbei verlief ein schmaler Weg zur Stellmacherei; sie gehörte uns, war jedoch verpachtet. Da entlang mussten wir zwangsläufig auf die Dorfstraße zum Bahnhof stoßen. Und etwa 200 m weiter sehe ich das Deputatshaus. Da wohnten fünf Familien, die die Miete in Form von saisonbedingter Arbeit auf unserem Hof abzahlten: Kartoffeln und Rüben pflanzen, hacken und aus der Erde holen, Getreide ernten. Weder die Stellmacherei noch das recht bescheidene Deputatshaus habe ich je als Eigentum meiner Eltern angegeben. Man hätte mich womöglich gleich zum Sohn eines Rittergutsbesitzers erhoben.