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Ich weiß nicht, ob meine Mutter meine bittere Enttäuschung überhaupt mitbekam. Sie hatte schlechterdings andere Sorgen, die Kühe, Schweine, Hühner, Katzen, der Hund, alles musste zurückgelassen werden. Wer würde sie füttern, die Kühe melken? Kaum anzunehmen, dass die Zurückgebliebenen die Wirtschaft weiterführten. Eine Herz zerreißende Abschiedssituation, zu ertragen allein durch den Glauben meiner Eltern an eine baldige Rückkunft.
Ohne Schlittschuhe hatte die Flucht für mich jeglichen Reiz verloren. Ich weinte wie fast alle auf den Flüchtlingswagen, als es geordnet losging. Wir reihten uns ein in einen riesigen Flüchtlingstreck. Sehr langsam ging es gen Bütow voran, überall auf den Straßen neben den und vor den Wagenkolonnen Militärfahrzeuge, Verwundetentransporte, stundenlanges Stehen, Umleitungen, Übernachtungen zumeist in Scheunen und Pferdeställen, allerdings zwei-, dreimal in Häusern mit gemachten Betten, sonst keine Badewanne, keine Dusche, tagelang ungewaschen durchs Land ziehen, irgendwann etwas essen, was meistens nicht schmeckte, und die Front kam immer bedrohlicher näher. Ein-, zweimal tauchten Flugzeuge auf und beschossen die Wagenkolonne. Wir blieben verschont, gewiss nicht weil wir uns rechtzeitig in den Straßengraben geworfen und in den Schnee eingewühlt hatten. Zufall, purer Zufall, im Ernstfall hätte uns nichts geschützt.
Plötzlich hieß es: Es gibt nur eine Straße, auf der man weiterkommen kann. Die Trecks formierten sich neu, ein letzter Versuch. Zwei Kilometer vorwärts – Richtung Stolp und Lauenburg, und schon ist diese Hoffnung genauso dahin. Die Russen waren irgendwo bei Kolberg nicht weit von unserem Treck durchgebrochen. Die Wehrmacht sperrte das letzte Ausfalltor, um den eigenen Rückzug zu sichern. Unsere sechs Pferde, offensichtlich noch kräftig, wurden von deutschen Soldaten unter Vorweis eines militäramtlichen Papiers gegen den Protest meines Vaters ausgewechselt. Mit geschundenen, mehr als klapprigen Gäulen ging es weiter, d.h. erst einmal wieder zurück. Und die Front unter Führung von Marschall Shukow saß uns fast im Nacken. Allwissende Männer in unserem Treck konnten sicher ausmachen, wer schoss und womit geschossen wurde. Wummern hatte man das Rollen, Grollen und Stampfen des Artilleriefeuers im ersten Weltkrieg genannt. Bis heute, wenn es in der Ferne gewittert, passiert es, dass sich Assoziationen zu den Kriegserlebnissen einstellen.
Endstation am 13. März, es ging nicht mehr weiter, in einer Schule saßen wir fest. Hunderte von Gefangenen, Häftlingen, vermutlich aus einem KZ, wurden durch das Dorf getrieben, schleppen sich dahin, von Stöcken und Gewehrkolben gesteuert.
Urplötzlich schrie jemand: „Die Russen kommen“ oder etwas Ähnliches. Eine unbeschreibliche Stille – Stille aus Angst – breitete sich aus. Russische Panzer tauchten auf, zuerst Spähpanzer, dann die berühmt-berüchtigten T34, der junge Oldenburg will fernerhin Sherman-Panzer entdeckt haben. Sie ratterten vorbei, als wollten sie gar nicht anhalten. Sie mussten angehalten haben, denn auf einmal standen drei leibhaftige Russen vor uns, drei Rotarmisten, wie wir sie später nannten. „Woijna kapuut!“ Der Krieg sei für uns zu Ende, erklärte einer, fraglos der Offizier, in Deutsch. „Damoi, damoi“, wir sollten dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen seien, nach Hause. Kein blitzendes Messer zwischen den Zähnen, kein Ohrenabschneiden, kein Zungenherausreißen.
Am nächsten Tage traten wir die Heimkehr an. Obwohl fast vierzehn Tage unterwegs, waren wir nicht weit gekommen, 60, höchstens 80 km. Von der Entfernung her war die Rückkehr kein Problem. Gleichwohl gestaltete sie sich buchstäblich zu einem Wettlauf mit dem Tode. Die von den Russen befreiten ehemaligen Häftlinge kamen zurück und nahmen sich, was sie brauchten. Wer sich ihnen in den Weg stellte wurde geschlagen, mit Stöcken entschlossen beiseite gedrängt. Mein Vater versuchte zwei von unserem Wagen fernzuhalten. Vergebens. Die Menschen trieb der Hunger, sie froren jämmerlich in ihren notdürftig zusammengehaltenen Sträflingskleidern. Was sollten sie tun? Es ging ums Überleben.
Die letzte Nacht vor der Umkehr verbrachten wir in einer Schule: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, Alte und Junge. An Schlaf war nicht zu denken, mindestens fünf oder sechsmal wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen, bewaffnete Russen trieben uns hoch, mal suchten sie deutsche Soldaten, mal wollten sie Schmuck haben, mal Uhren – Uris, mal beides.
Und nicht nur das. Die nächtlichen Eindringlinge zeigten sich erbarmungslos. Nach einiger Zeit kamen die geschändeten und geschundenen Mädchen und Frauen zurück. Obwohl ich nur ahnte, was ihnen angetan wurde, waren ihr Schreien, ihr Schluchzen, ihre Hilferufe unvergleichlich erschütternd, etwas Furchtbares musste mit ihnen geschehen sein. Die grausamen Ängstigungen, Demütigungen, Erniedrigungen der Nacht hätten sich in die Gesichter eingegraben, hieß es. Meine Schwester Renate, ungefähr so alt wie du jetzt, Julika, wurde gegen Morgen herausgeholt. Eine Frau hatte mit der Vergewaltigung nicht leben können und sich unter dem Dach des Schulgebäudes erhängt.
Im Physikunterricht erinnerte mich die Eselsbrücke URI für die Formel: Spannung x Widerstand = Stromstärke an die erlebte Todesangst. Ein paar Tage nach der Umkehr tauchten wieder einmal zwei wie es schien abgesprengte Russen in einem abgelegenen kleinen Dorf auf und verlangten eben diese Uris und Goldschmuck. Doch weder die Familie, bei der wir untergekommen waren, noch wir hatten etwas zu bieten, leer gebrannt war die Stätte. Da halfen keine Drohgebärden, deshalb griffen sie zum Letzten: Der eine stellte sich an die Tür mit einer Kalaschnikow im Anschlag (vielleicht war es auch ein gewöhnlicher Karabiner), der andere schubste uns alle in die Mitte des Zimmers, vor dem Tisch mussten wir niederknien, zuerst die Erwachsenen, dann die Kinder. Während die Erwachsenen unter Wimmern und Weinen immer wieder aufs Neue erklärten, es gäbe nichts mehr zu holen, weinten und schrien wir Kinder markerschütternd. Kein Erbarmen weit und breit, der neben uns stehende Russe beginnt zu zählen 1, 2 … bricht plötzlich ab, gibt seinem Kumpan ein Zeichen und beide verlassen das Zimmer und waren nie wieder gesehen. Ich habe mein Latein fast vergessen, den Satz aus Aeneis: „Horresco referens“ allerdings nicht – Mich schaudert, davon zu berichten, habe ich behalten. Wir hatten uns eine Situation auszudenken, die zeigen sollte, dass wir Vergil verstanden hatten. Ich musste nichts erfinden.
Ein Fuhrwerk war geblieben. Die zwei Pferde, die den Wagen nach Hause bringen sollten, hielten sich kaum auf den Beinen, völlig abgemagert, klapperdürr. Irgendwie setzte sich der dezimierte Treck dennoch heimwärts in Bewegung. Schon im ersten oder übernächsten Dorf wurde er gestoppt, russische und polnische Soldaten schritten die Wagenkolonne ab: Ob sie Nemetz oder Polski, Deutsche oder Polen waren, wurden alle Männer gefragt, die auf den Fuhrwerken saßen. Ich höre meinen Vater mit fester Stimme sagen: „Deutscher.“ Mit diesem Bekenntnis hatte er sein Todesurteil unterschrieben.
Er musste vom Wagen heruntersteigen und sich zu der Männergruppe unter Bewachung etwas abseits stellen: alles Männer über 50, die bestenfalls dem Volksturm angehören konnten, einer 1944 gegründeten Kampforganisation zur Unterstützung der deutschen Wehrmacht, bestehend aus 16-jährigen bis 60-jährigen Männern. Uns wurde befohlen weiterzufahren. Der Vater blieb da. Keine Verabschiedung. Ich schnappte mir die Leine und versuchte die Pferde in Bewegung zu setzen. Vater wird nachkommen, hieß es. Er kommt wieder, er kommt bestimmt wieder, er muss doch wiederkommen, und kam nicht wieder.
Nach wochenlangen Märschen gen Osten unter unmenschlichen Strapazen ist er vor Schwäche zusammengebrochen und von einer der russischen Begleitpersonen erschossen worden. Das erfuhren wir sehr viel später von einem Heimkehrer. Er sei in den Wald geflohen, den er gut kannte, und auf der Flucht erschossen worden, war eine andere Variante.
Meine Kutscherfreuden währten nicht lange, hatten sie denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt gewährt, frage ich mich beim Korrekturlesen. Die Wehrmacht hatte sich die besten Pferde genommen, nunmehr holten Russen und Polen, was übriggeblieben war: Pferd und Wagen. Hab und Gut verringerten sich Stück um Stück. Irgendjemand nahm uns mit auf seinem Wagen, meine Mutter, meine zwei Schwestern und mich.
Wir fuhren an den Kriegsschauplätzen vorbei. Unvorstellbar und nicht zu beschreiben die Szenen, die sich vor unseren Kinderaugen abspielten oder sich abgespielt hatten: Da lagen Tote am Straßenrand, rot gefärbter Schnee markierte sie. Ich wollte nicht hinsehen, konnte es aber nicht vermeiden. Meine Mutter versuchte mehrmals, uns die Augen zuzuhalten. Man hat in Kriegsfilmen Schlimmeres gesehen, in der Verfilmung des Antikriegsromans Im Westen nichts Neues, in Apokalypse Now, in Geh und sieh, trotzdem sind die persönlich erlebten Bilder niemals überdeckt oder gar zugeschüttet worden. Ja, ich bin ein Kriegskind mit all seinen Narben.
Wieder einmal an einem Morgen tauchten russische Soldaten in unserer Unterkunft auf und verlangten, ich und weitere Jungen zwischen 10 und 15 Jahren sollten mitkommen. Meine Mutter versuchte mich festzuhalten, wurde aber bedrohlich zurückgestoßen. Das hatte es bisher nicht gegeben, dass Jungs eingesammelt wurden. Des Rätsels Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Wir sollten mithelfen, frei herumlaufende Kühe, Bullen und Ochsen, Schafe und Ziegen in eine eingezäunte Koppel zu treiben. Mit Geländewagen wurden wir in Gruppen von vier bis fünf Treibern, geleitet von je einem Rotarmisten, fünf oder sechs Kilometer von Reckow, südlich von Bütow, abgesetzt und los ging die Jagd. Wir schwärmten nach verschiedenen Seiten aus und bewegten uns, mit Stöcken ausgerüstet, vorsichtig auf die Tiere zu – in der Mehrzahl Kühe. Das Gelände war hügelig, die verharschte Schneedecke, aus der hier und da graue Erdklumpen herausragten, erschwerte das Fortkommen. Mir machte das wenig aus, ich war in meinem Element: Kühe zusammentreiben und hüten hatte ich gelernt.
Mein Eifer und Geschick mussten den dirigierenden Soldaten aufgefallen sein. Jedenfalls wurde ich, nachdem das Tagewerk vollbracht und ich in unserer Unterkunft zur Freude meiner Mutter unversehrt abgeliefert war, kurz danach als einziger der Jungen in den Gemeinschaftsraum geholt und verpflegt wie die Russen auch: mit Brot, Wurst, gebratenen Eiern und Speck. Müde gelaufen und hungrig wie ich war, habe ich kräftig zugelangt. Kritisch wurde es erst, als man mir Wodka reichte und unbedingt erwartete, dass ich ihn hinterkippte. Gleich mehrere Soldaten machten mir vor, wie auch ich diese Aufgabe männlich bewältigen könne. Molodjetz – Prachtkerl. Das Zeug stank erbärmlich, ich wusste, das bringst du nicht runter, und fing an zu weinen. Da tauchte ein Offizier auf und bot dem nicht kindgemäßen Treiben zu meiner Erleichterung ein Ende.
Bevor wir in unser Dorf zurückkehrten, versteckten wir uns im Wald und lebten dort in und rund um eine Wagenburg länger als eine Woche. Ein starker Mann, jünger als mein Vater, war in unserem Treck geblieben. Als die Schicksalsfrage gestellt wurde, reagierte er blitzschnell und gab sich als Taubstummer aus. Er spielte die Rolle dermaßen überzeugend, dass er unbehelligt blieb und sicher nach Hause kam. Im Laufe der Zeit perfektionierte er seinen Auftritt dadurch, dass er den Siegern mit gezielter Taubstummen-Gestik aus seinem Tabakbeutel Tabak anbot. Jedes Mal bin ich vor Bewunderung erstarrt, wenn Herr Berndt und die Gefahrbringer in friedlicher Runde die Friedenspfeife rauchten. Ach ja, das Bild trifft nicht bis ins Letzte zu: erstens rauchte nur er Pfeife, während die Bedränger ihre selbstgedrehten Papirossa qualmten, zweitens war es eher ein Auszeitnehmen, gegründet auf dem grenzüberschreitenden Mitleid mit Behinderten.
Einmal jedoch enttäuschte uns der Überlebens-Künstler, nämlich an jenem Morgen, als verwilderte und wild gewordene Bullen, Ochsen und Kühe auf unsere Wagenburg losstürmten und er sich in der Stunde hoher Gefahr in Sicherheit brachte, ohne an die Frauen und Kinder zu denken, die in den Wagen schliefen oder sich auf das Aufstehen vorbereiteten. Beherzt wehrten die Frauen, die Mütter die aggressiven Tiere ab. Sie schützten ihre Kinder mit Knüppeln, Gerätschaften, die greifbar waren; meine Mutter habe ich kaum jemals wieder derart energisch handeln sehen. Zwei, drei Frauen hatten sich verletzt, wenngleich nicht ernstlich, meine Mutter darunter. Als die Bedrohung weitgehend gebannt war, tauchte unser bewunderter Taubstummer mit allerlei Ausflüchten auf. Er wurde nicht gerügt oder gar beschimpft, wohl ein wenig abschätzig betrachtet. Männer waren rar in diesen Zeiten.
Eine Frau wagte sich schließlich ins Dorf und fand heraus, dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestand. Wir kehrten nach Hause zurück.
Haus und Hof waren inzwischen von einer polnischen Familie in Besitz genommen worden. Uns gehörte nichts mehr im Dorf, das nunmehr Ugoszcz hieß. Wir kamen im Nachbarhaus unter und mussten den neuen Besitzern zur Hand gehen, ich als Stalljunge bei dem Polen, der den Hof bewirtschaftete, auf dem wir jetzt wohnten, meine beiden Schwestern als Hausmädchen. Lohn für die Arbeit gab es nicht, genug zu essen und zu trinken schon.
Haus und Hof verloren, die Mutter ohne Mann, die Kinder ohne Vater. Mir wurde der Verlust damals nicht richtig bewusst, in mancher Hinsicht war das Leben für mich in dieser Zeit durchaus schön, reizvoll, spannend, wie man heute gern sagt: keine Schule – eine deutsche Schule gab es nicht mehr, die polnische war uns verschlossen –, mit Pferden unterwegs sein, Pflügen, Dung auf die Felder fahren, mit der Hungerharke das verstreute Heu zusammenrechen, mit dem Sohn des neuen Besitzers unseres Bauernhofes gemeinsam Kühe hüten, vorausgesetzt für ihn war keine Schule. Für das Mähen mit der Sense kam ich noch nicht in Frage. Die Kunst war für Kinder nicht erreichbar: zu schwer, zu gefährlich, selbst für Erwachsene war das alles andere als ein Zuckerschlecken. Sich als Mann beweisen, sich einreihen dürfen in die Schar der Mäher, das wäre es schlechtweg gewesen. Der Gleichschritt und Gleichklang beim Mähen, mein Vater als Taktgeber immer vorneweg. Stand die Mahd an, konnte man das Dengeln der Sensen im ganzen Dorf hören, der Klang ist mir seither im Ohr.
Völlig anders empfand verständlicherweise meine Mutter die für sie fast unerträgliche Situation: Sie konnte unser Schicksal nicht fassen, war im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört. Wie oft hat ihr Weinen uns Kinder in der Nacht aufgeweckt. Es brauchte Jahre, bis sie begriff, dass an allem Elend der Krieg schuld war, den Hitler, unterstützt von weiten Teilen des deutschen Volkes, heraufbeschworen hatte.
Nach dem Potsdamer Abkommen war vorgesehen, dass die Deutschen, die in den von Polen in Besitz genommenen Gebieten (bis zur Oder-Neiße-Grenze) lebten, nach Deutschland umgesiedelt werden. Fast drei Jahre hat es gedauert, bis wir die Erlaubnis erhielten, die Heimat zu verlassen. Warum es in unserem Fall bis Ultimo dauerte, ist mir bis heute nicht erklärlich. Waren wir billige Arbeitskräfte für die Polen, die polnischen Behörden mit der Aussiedlung überfordert oder war es purer Zufall? Facharbeiter wurden zurückgehalten, solange es ging, Arbeitsfähige generell, in diese Kategorie gehörten wir wohl eher nicht. Im Westen sprach man von Vertreibung, Zwangsaussiedlung, Abschub, Transfer, im Osten von Umsiedlung. Was wir mitnehmen durften, war äußerst begrenzt, zwei Koffer, zwei, drei Taschen. Auf dem Sammelplatz in Bütow wurde das Gepäck einer scharfen Kontrolle unterzogen. Das war’s. Nun ade, du, mein lieb Heimatland. Mit den beiden Kindern der neuen Besitzer Flissakowski, mit Janucz (12) und Theresa (13), hatten wir uns gut verstanden. Als wir Ende 1947 unser Dorf für immer verließen, gab es ein tränenreiches Abschiednehmen.
Fast vier Tage hat es gedauert, bis wir in Zeitz, 40 Kilometer von Leipzig entfernt, ankamen. Das war keine bequeme Reise, immer 20 bis 25 Personen in einem Viehwaggon. Ich dächte, in der Ecke habe ein Öfchen gestanden, von dem wir Kinder uns fernhalten sollten. Zur Notdurftverrichtung hielt der Zug in bestimmten Abständen an, an Bahnhöfen wurde Tee gereicht, in großen Abständen gab es etwas zu essen. Wie wenig von dieser Reise hängen geblieben ist. Einzig das rollende Geräusch der Schiebetüren, wenn die Waggons geöffnet wurden, die Angst, der Zug könnte sich in Bewegung setzen und ich bleibe zurück, die Scham, in der Notgemeinschaft im Graben oder auf dem freien Feld sich hinhocken zu müssen, um sich vom aufgestauten Druck zu befreien. Am schlimmsten war es, sobald der Zug ohne erkennbaren Grund anhielt und man durch die Sehschlitze nicht orten konnte, wo man war, und der Zug hielt und hielt, unzählige Minuten, Stunden.
In Zeitz wurden wir in einem der großen Säle der Moritzburg untergebracht, nachdem man uns durch eine Entlausungsstation geschleust hatte. Wir lagen mit über 50 Personen in einem ehemaligen Rittersaal. Mehr als acht Wochen mussten wir dort leben, auf dem Fußboden kampieren, zwei Decken standen jedem am Anfang zur Verfügung. Die Verpflegung war zentral geregelt. Zum Sattessen zu wenig, zum Verhungern zu viel. Hunger hatten wir immer.
Das Mittagessen wurde in Kübeln gebracht. Da sie undicht waren, klebten an den Außenseiten, besonders an den Deckeln übergeschwappte Essensreste. 20 bis 30 Jungen warteten darauf, dass die leeren Kübel auf den Hinterhof gestellt wurden. Kaum kam einer, stürzte sich die Horde darauf, um die unappetitlichen Reste abzukratzen und zu verschlingen. Jedes Mal tobte ein unerbittlicher Kampf, denn nur einer konnte jeweils der Gewinner sein. Es gab an keinem Tag genügend Kübel für alle Hungrigen. Als ich Herta Müllers Atemschaukel las, nachdem sie 2009 überraschenderweise den Nobelpreis bekommen hatte, drängte sich mir ihre Beschreibung des chronischen Hungers geradezu auf:
Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat.
Am Ende der Moritzburg-Zeit wurde uns ein Zimmer bei einer von der Einquartierung nicht gerade erbauten Familie Urban, Am Eulengrund 10 in Zeitz zugewiesen. Wir bekamen Lebensmittelkarten. Was man uns an Lebensmitteln zugestand, sicherte bedingt das Leben der vierköpfigen Familie. Deshalb waren wir ständig auf der Suche nach Essbarem. Der Schwarzmarkt blieb uns verschlossen, wir hatten nichts anzubieten, was einen sachständigen Tauschwert gehabt hätte. Wir gingen stoppeln, von einem abgeernteten Feld, dem Stoppelfeld, wurden Weizen-, Roggen-, Gerste- oder Haferähren aufgesammelt, die heruntergefallen, übersehen oder in der Boden getrampelt worden waren. Bei abgeernteten Kartoffelfeldern genügte es nicht, die erspähten Erdäpfel aufzulesen, da musste man mit der Hacke blitzschnell nachhelfen, um fündig zu werden.
Sobald ein Feld abgeerntet war, wurde es freigegeben. Zu Hunderten standen die Menschen stundenlang um die Felder und warteten auf den Moment der Freigabe. Aufseher, mit Peitschen unter dem Arm und von bissigen Hunden begleitet, hielten die Masse in Schach. Wagten Kinder sich vorzeitig aufs Feld und das geschah nicht selten, passierte kaum etwas; sie mussten nur sofort Reißaus nehmen, entdeckten die Aufseher die Grenzüberschreitung. Ich war fast immer unter den waghalsigen Kindern, meistens Jungen. Bei Erwachsenen wurde schon mal der Hund losgelassen oder die Peitsche geschwungen.
Einmal war kein Halten mehr, die Massen stürmten von zwei Seiten auf das riesige Roggenfeld bei Osterfeld – mit der Bahn 18 km von Zeitz zu fahren –, bevor das Freigabesignal ertönte. Die noch nicht vom Feld geräumten Garben verhießen volle Rucksäcke. In kürzester Frist war ein Schlägertrupp zur Stelle und jagte die Menge zurück. Diejenigen, die die Puppen, wie die Stiegen in Mitteldeutschland genannt wurden, erreicht und sich vor der Zeit bedient hatten, mussten die Taschen leeren. Zur Strafe wurde das Feld abgesperrt und erst am nächsten Tage freigegeben. Nicht nur einmal kehrte man ohne jegliche Ausbeute zurück. An solchen ertraglosen Abenden konnte es passieren, dass unsere Mutter zerknirscht, ohne etwas zu sagen, todmüde ins Bett fiel.
Man musste schnell, überaus schnell sein, um möglichst viele Ähren zu erwischen. Lange vor dem Sturm auf das jeweilige Feld spähte man guten Ertrag versprechende Stellen aus. Mit beiden Händen gezielt nach links, nach rechts, nach vorn, nach hinten grabschen, alles blitzschnell in die Schürze stopfen, die mit einer großen Tasche versehen, anfangs vor dem Bauch baumelte und nach und nach immer schwerer nach unten zog. Am Ende kam alles in einen Rucksack. Zu Hause wurden die Körner aus den Ähren geschlagen und mit der Kaffeemühle zu Mehl gemahlen. Am 31. März 2010, 17:47 fragt ein Kafka im Kaffee-Netz:
Hat schon mal jemand versucht, mit einer Kaffeemühle Getreide fürs Brotbacken zu mahlen? Funktioniert das halbwegs, oder muss ich dann eine verstopfte Mühle reinigen?
Erst jetzt – 1948 – forderte die Schule ihr Recht. Mehr als 50 Fehler im ersten Diktat machten mich zum krassen Außenseiter der Klasse. Ich schämte mich unendlich, auch wegen der grob gestrickten langen Strümpfe, die keiner mehr trug. Sie waren mithilfe von Strumpfhaltern, heute Strapse genannt, an einem Leibchen festgemacht, welches man zwischen Unterhemd und Hemd trug. Und diese ekligen gelblichen Igelitschuhe, hergestellt aus gesundheitsschädlichem Weich-PVC. Im Sommer schwitzte man furchtbar darin, im Winter fror man erbärmlich. Anfang der fünfziger Jahre wurden sie Gott sei Dank aus dem Verkehr gezogen.
Da ich in die Klasse eingestuft worden war, in die ich vor der Flucht ging, überragte ich alle, geistig schien ich ein Zwerg zu sein. Mein Banknachbar gab mir jedoch eine Chance: „Du stinkst wenigstens nicht.“ Lange hielt meine Drangsal nicht an. Durch den Krieg, den Tod des Vaters und die geschwächte Mutter vollends auf mich gestellt, lernte ich hochmotiviert und holte den Stoff relativ schnell auf, sodass ich innerhalb eines Jahres zwei Klassen überspringen konnte.
In der achten Klasse kam mein Klassenlehrer zu uns nach Hause und schlug meiner Mutter vor, mich auf die Oberschule zu schicken. Sie stimmte zu, obgleich sie lediglich Sozialfürsorge erhielt und es von ihr aus ohne Frage besser gewesen wäre, wenn ich einen Beruf erlernt und schnell Geld verdient hätte. Ich bin ihr unendlich dankbar für ihre Entscheidung, die für sie weiterhin Entsagung bedeutete.
Damit wollte ich mit dem Krieg für mich abschließen. Beim Wiederlesen des Kapitels wird mir eine Leerstelle klar: Das Thema Vergewaltigungen, sowohl in der DDR und als auch in der Sowjetunion tabuisiert, ist nicht allein aus meiner kindlichen Erlebnisperspektive zu erzählen, sie verstärkt womöglich das von westlichen Ideologen einseitig geprägte Bild von den Russen.
Im engsten Familienkreis habe ich gelegentlich angedeutet, dass ich neben meiner Mutter stand, als sie von einem Russen in einem Heuschuppen vergewaltigt wurde, wohin sie mit mir geflüchtet war. Sie wähnte, sich und mich sicher versteckt zu haben.
Hätte ich Julika mit Werner Heiduczek, dem Leipziger Schriftsteller aus Oberschlesien, kommen können? Kaum. Er brach 1977 in seinem wohl bekanntesten Roman Tod am Meer das Tabu, indem er auf die Frage „Habt ihr vergewaltigt?“ den sowjetischen Offizier antworten lässt:
Ob Griechen oder Römer, Osmanen oder Chinesen, Amerikaner oder Russen, schick sie in den Krieg, und es wird Mord geben, Raub, Plünderung und Vergewaltigung. Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.
Just diese Stelle veranlasste den damaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Abramowitsch zu intervenieren. Einfach lächerlich, die Spatzen pfiffen es von den Dächern, kein Geringerer als Ilja Ehrenburg hatte es in seinem Tagebuch bestätigt. Gut ein Jahr vor Heiduczek hatte Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster das heikle Thema gewissermaßen gestreift, indem sie von einem jungen russischen Offizier erzählt, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Heiner Müller gab dem Thema in seinem letzten dramatischen Text Germania 3 Gespenster am toten Mann zudem eine neue Perspektive: