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Keira war vor allem erleichtert, dass ihre Sachen alle noch da waren. Dann sickerte langsam in ihr Bewusstsein, was Elliot da gesagt hatte.
„Ich habe ein Büro?“, wiederholte sie ungläubig.
„Selbstverständlich. Du bist jetzt eine Vorgesetzte. Alle Vorgesetzten haben ein eigenes Büro.“
Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. Als Keira durch das Büro schritt, fing sie einen Blick von Nina auf, die ihr zuzwinkerte. Sie musste es wohl schon gewusst haben.
Sie blieben an der Tür zu einem kleinen Eckraum stehen. Keiras Name stand auf dem Schild neben dem Eingang. Ihre persönlichen Gegenstände waren auf dem Tisch angeordnet, wie sie es gewohnt war. Bloß hatte sie hier viel mehr Platz, der Raum wirkte so leer.
Keira fühlte sich leicht, als schwebe sie auf einer Wolke. Sie hatte noch nie ein eigenes Büro gehabt oder ihren Namen auf einem Türschild gelesen.
„Ist das okay für dich?“, fragte Elliot.
„Es ist großartig!“, rief Keira, trat ein und drehte sich um sich selbst. Der Raum war eigentlich nicht groß genug zum Tanzen, aber das interessierte Keira gerade gar nicht.
„Wir haben inzwischen eine Regelung getroffen, dass die Türen immer auf sind“, sagte Elliot. Es sei denn, du hast eine Besprechung oder ein Telefonat. Wir haben das mehrheitlich beschlossen, während du weg warst.“
Keira schaute ihn überrascht aber auch zufrieden an.
Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie eine solche Abstimmung bei Viatorum aussehen mochte. Joshua hatte immer nur Anweisungen gebrüllt und alle hielten sich dran. Wenn er einen an einem Feiertag ins Büro bestellt hatte, egal, ob Hanukkah, Weihnachten, das Opferfest, oder was man sonst so feiern konnte, dann hatte man zu erscheinen. Oder man war sofort gefeuert. Es machte Keira sehr glücklich, dass auch die Nachwuchsschreiber endlich mitreden durften.
„Hast du Lance schon kennengelernt?“, fragte Elliot.
„Lance? Nein. Ist das ein neuer Nachwuchsautor?“
Elliot lachte. „Er ist dein neuer Boss“, sagte er.
„Oh.“ Keira runzelte die Stirn. „Ich dachte, du bist mein neuer Boss.“
Der Gedanke, jemand anderes würde nun das Sagen haben, beunruhigte Keira. Was, wenn der sich als ein neuer Joshua entpuppte? Was, wenn ihre kreativen Visionen nicht zusammenpassten?
Elliot schüttelte den Kopf. „Ich kann ja nicht rund um die Uhr hier sein. Mal abgesehen von seinen Schwächen war Joshua aber sehr engagiert. Ich brauche jemanden, der die Stellung hält, wenn ich nicht da bin. Daher habe ich Lance eingestellt. Aber mach dir keine Sorgen, er wird dir gefallen. Er ist das genaue Gegenteil von Joshua, ich verspreche es.“
Sie folgte Elliot aus dem Zimmer in den Konferenzraum, wo besagter Lance bereits auf sie wartete. Elliot hatte recht, er war so ganz anders als Joshua, zumindest rein optisch. Er war ein kleiner, stämmiger Mann, in einem alten, schlecht sitzenden Anzug und ungekämmt. Als er Keira eintreten sah, grinste er breit. Keira hatte immer vermutet, dass Joshuas Gesichtsmuskeln dazu gar nicht in der Lage waren. Lance streckte ihr seine Hand hin und sie schüttelte sie.
„Du bist also der Star von Viatorum“, sagte Lance. „Die Heldin Keira Swanson.“
Keira kicherte verlegen. „So weit würde ich jetzt nicht gehen.“
„Ich schon“, meinte Lance und nahm wieder Platz. Mit einer Geste bat er Keira und Elliot, das ebenfalls zu tun. „Ich habe deine bisherigen Artikel gelesen und muss sagen, dass du wirklich Talent hast.“
„Danke“, sagte Keira und wurde rot.
Sie war es nicht gewohnt, Komplimente zu bekommen. Elliot war sehr sparsam damit, Joshua hatte so etwas gar nicht gekannt. Sie wusste gar nicht, wie sie damit umgehen sollte, wie man darauf antwortete, ohne arrogant zu wirken.
Sie schaute zu Elliot hinüber, als sie sich neben ihn setzte. Er erwiderte ihren Blick, als wollte er sagen, habe ich dir doch gleich gesagt, er ist anders.
„Kommen wir also direkt zu den Aufträgen“, sagte Lance und klatschte in die Hände. „Elliot hat den dicksten Batzen schon verteilt.“ Er rieb sich die Hände und grinste erwartungsvoll. „Das wird ein harter Wettbewerb.“ Dann sprang er auf und rannte zur Tür. Mit fröhlicher Stimme rief er laut: „Aufträge sind zu vergeben, Jungs und Mädels!“
Es gab hektisches Stühle rücken, als sich alle eilig auf den Weg in den Konferenzraum machten. Keira hatte plötzlich das Gefühl, neben sich zu stehen. Alles war auf einmal so anders. Es war immer noch hektisch und man konkurrierte immer noch im die Aufträge, aber alles fühlte sich so anders an als mit Joshua.
Als die anderen Autoren in den Raum traten, konnte Keira ihren Eifer und den Hunger nach Herausforderungen geradezu spüren. Früher war das alles unter Selbstzweifeln begraben gewesen. Ohne Joshua, der sie nur niedermachte, dafür mit Lance, der freundlich und ermutigend war, konnten die anderen Autoren bei Viatorum aufblühen und zu sich selbst finden. Keira stellte überrascht fest, dass dadurch die Konkurrenz in der Redaktion nur noch schärfer geworden war.
„Einer von euch wird heute den besten Auftrag absahnen, den wir je hatten“, sagte Lance und grinste breit. „Drei Woche lang durch Italien reisen. Ich rede von Florenz, der Toskana, Verona, Capri.“
Der ganze Raum schien vor Aufregung zu summen wie ein Bienenstock.
Keira rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wollte diesen Auftrag unbedingt. Allein die Vorstellung, nach Italien zu reisen, war so unglaublich aufregend; echte Pizza zu essen, Pasta, Eis. Und nicht nur eine Kopie davon, wie sie bei Gino auf der Karte stand.
Dieser Auftrag war wie für sie gemacht. Sie war die einzige hier, die mit einem solchen Auftrag schon Erfahrung hatte. Aber natürlich wollten alle diesen Auftrag. Sie hatte sich zu sehr in Sicherheit gewähnt, mit all dem Applaus und dem eigenen Büro. Wie es aussah, hatte sich doch nicht alles geändert. Es würde ein harter Kampf werden und sie war bereit.
„Also“, begann Lance und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. „Wer von euch ist im Rennen?“
Keira hob sofort die Hand.
Die Zeiten, in denen sie darauf gewartet hatte, dass eine gute Gelegenheit ihr einfach in den Schoß fallen würde, waren unwiderruflich vorbei. Sie war hungrig nach Erfolg und würde sich diese einmalige Chance nicht durch die Lappen gehen lassen. Außerdem konnte sie die Reise wirklich gut gebrauchen, um sich von Shane abzulenken.
Zu ihrem größten Erstaunen fiel ihr auf, dass außer ihr niemand die Hand gehoben hatte. Verwirrt schaute Keira alle der Reihe nach an und stellte fest, dass ohnehin aller Augen auf sie gerichtet waren. Und alle lächelten.
„Was ist hier los?“, fragte sie und nahm die Hand wieder runter.
Lance lachte fröhlich auf. „Er gehört dir!“, rief er. „Offensichtlich. Wir haben uns nur einen Spaß mit dir erlaubt.“
Alle begannen zu kichern. Keira schaute sich um, vollkommen irritiert. Seit wann wurden bei Viatorum solche Scherze gemacht?
„Du meinst, du hattest sowieso vor, mir den Auftrag zu geben?“, fragte sie.
„Ja!“, antwortete Lance, noch immer herzhaft lachend.
Zu Keiras größtem Erstaunen schienen alle anderen damit kein Problem zu haben. Sie freuten sich für sie. Es gab keinen Neid mehr, keine Rücksichtslosigkeit.
„Die Anderen haben auch alle großartige Aufträge“, erklärte Lance. „Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich mag solches Gerangel nicht. Jeder hat seine Stärken. Und deine ist es, nach Übersee zu reisen und großartige Artikel zu schreiben.“
Keira hatte das Bedürfnis, sich zu kneifen. War das alles ein Traum? Lag sie noch immer schlafend auf Bryns Couch und träumte davon, wie der erste Arbeitstag wohl sein würde?
Aber nein, das hier war real. Ohne Joshua hatte sich Viatorum in ihren Traumjob verwandelt. Und sie hatte gerade einen traumhaften Auftrag bekommen.
„Das ist unsere Art, danke zu sagen“, bemerkte Denise. „Dafür, dass wir Joshua los sind.“
Keira lachte begeistert. Sie war sehr aufgeregt wegen des neuen Auftrags. Aber sie war auch ziemlich nervös. Vielleicht lag es daran, dass Joshua ihr das eingeimpft hatte. Oder es war Teil ihrer Persönlichkeit. Auf jeden Fall brachte ein neuer Auftrag für sie immer auch Nervosität und Selbstzweifel mit sich. Tief in ihr drin wusste sie nicht, ob sie dem gewachsen war, zumal die Sache mit Shane noch schwer auf ihr lastete. Aber sie wusste natürlich, dass sie das nicht ablehnen konnte. Alle schauten sie so erwartungsvoll an. Sie musste quasi zurück in den Sattel.
„Wie wird der Artikel heißen?“, fragte sie, bemüht, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren und nicht länger an Shane zu denken.
„Das Land der Liebe“, sagte Lance und machte eine dramatische Geste.
„Wieder ein Artikel über die Liebe?“, fragte Keira schockiert.
„Natürlich!“, rief Lance. „Genau da liegt dein Talent, Keira. Dein letzter Artikel war beeindruckend.“
„Aber nur, weil ich mich verliebt hatte“, sagte sie.
Lance nickte eifrig. „Genau. Das war toll. Das will ich wieder sehen. Also schicken wir dich an die romantischsten Orte überhaupt. Ich möchte, dass du dich mit dein Einheimischen unterhältst und ihr Geheimnis herausfindest. Was wissen die Italiener über die wahre Liebe? Wieso gilt Italien als so romantisch? Welche Geheimnisse der Romantik verbergen sich da?“
Er grinste breit und ermutigend. Aber bei Keira setzte Panik ein.
Wie sollte sie über die Liebe schreiben, wenn ihr Herz in tausend Stücke zersprungen war? In Irland hatte sie mit dem Auftrag zu kämpfen gehabt, weil sie naiv, dumm und unerfahren gewesen war. Dieses Mal war sie verbittert und ausgelaugt. Das würde niemals funktionieren.
„Können wir über den Titel noch mal reden?“, stammelte sie. „Um vielleicht den Blickwinkel zu ändern? Ich möchte nicht auf die Rolle der Liebesautorin festgelegt werden.“
Lance blickte sie amüsiert an. „Aber genau das bist du doch, Keira. Der Guru für Romantik. Das wollen die Leute von dir lesen. Das ist dein Erfolgsgarant. Dein Alleinstellungsmerkmal.“
Sie konnte es nicht fassen.
Aber welche Wahl hatte sie denn? Lance hatte sich für sie richtig ins Zeug gelegt, damit sie diesen tollen Auftrag bekam. Sie hatte keine andere Wahl als ihn anzunehmen. Alle wollten, dass sie das tat und ihre Karriere hing davon ab. Sie musste sich irgendwie durchmogeln.
Andererseits musste sie das vielleicht gar nicht. Möglicherweise lernte sie ja jemanden kennen. Nicht einen neuen Shane, nicht jemanden, in den sie sich Hals über Kopf verliebte, aber einen leidenschaftlichen Italiener für eine stürmische Affäre. Ohne Verantwortung, keine Liebe, nur Lust.
Sie lächelte in sich hinein. Vielleicht war das ein geeignetes Gegenmittel für ein gebrochenes Herz. Die Liebe war derzeit das letzte, woran sie dachte, aber ein Flirt mit einem heißblütigen Italiener war genau das, was sie brauchte, um über Shane hinwegzukommen.
Sie schaute Lance an und hob eine Augenbraue.
„Danke“, sagte sie. „Wann reise ich ab?“
KAPITEL VIER
„Morgen schon?“, rief Bryn und hockte sich auf die Armlehne des Sofas.
Keira nickte und wuselte durch die kleine Wohnung, sammelte ihre Sachen ein und warf sie in ihren Koffer. Sie war ganz hibbelig vor Aufregung.
„Kannst du dir das vorstellen? Du hast deine Wohnung drei ganze Wochen für dich allein.“
„Aber du verpasst Halloween“, jammerte Bryn. „Malcolm und Glen wollten uns auf eine Party mitnehmen.“
Keira rollte mit den Augen. „Wie bedauerlich“, sagte sie voller Sarkasmus.
Es klingelte an der Tür. Bryn ging hin, um die Gegensprechanlage zu benutzen. Dann schaute sie über ihre Schulter zu Keira, ihr Blick verfinsterte sich. „Warum stehen Shelby und Maxine vor meiner Tür?“
Maxine und Shelby waren Keiras älteste Freundinnen, die sie auf dem College kennengelernt hatte. Bryn konnte die beiden nicht leiden, allerdings verstand Keira nicht, wieso. Vermutlich steckte Eifersucht dahinter.
„Das hatte ich total vergessen“, keuchte Keira. „Ich habe die beiden schon vor Ewigkeiten zu einem Drink eingeladen. Ich wollte die beiden sehen, bevor Shane meine ganze Zeit in Anspruch nehmen würde. Ist das okay?“
„Ich habe ja offensichtlich keine Wahl“, antwortete Bryn schnippisch. „Ist halt schade. Wir beide hätten uns einen echt netten Abend zu zweit machen können, bevor du so lange weg bist.“
„Tut mir leid“, sagte Keira schulterzuckend. „Ich wusste ja nicht, dass dies mein letzter Abend hier sein würde, als ich mich mit ihnen verabredete. Ich war davon ausgegangen, dass du ein Date mit irgendeinem Typen hast, wie fast jeden Abend.“
Es klopfte an der Tür und Bryn stand schnaubend auf, um zu öffnen. Kurz darauf hörte Keira die fröhlichen Stimmen von Maxine und Shelby. Sie eilte zur Tür und schaute ihre Freundinnen an, die zarte Shelby mit ihren langen, weißblonden Haaren und die super sportliche Maxine mit den kurzen schwarzen Locken und der dunklen Haut.
„Keira!“, riefen sie und nahmen sie stürmisch in den Arm.
„Wir haben uns ewig nicht gesehen“, sagte Maxine in ihr Ohr.
„Ich war mir sicher, du würdest nie wieder nach New York zurückkehren“, fügte Shelby ins andere Ohr hinzu.
Keira zog sich ein Stück zurück. „Ich weiß, es tut mir leid. Alles ging irgendwie so schnell. Die Reise nach Irland, das Ende mit Zach, der Auszug aus der Wohnung. Ich hatte kaum Zeit, meine eigenen Gedanken zu sortieren.“
Bryn, die noch immer die Tür aufhielt, fügte spitz hinzu: „Es blieb nur Zeit für die Familie, ihr versteht das sicher.“
„Klar“, meinte Maxine mit einem erzwungenen Lächeln.
Keira zog ihre Freundinnen hinein in die Wohnung. „Kommt, wir trinken etwas. Und dann reden wir.“
„Und du packst“, fügte Bryn mit besonders erwachsenem Ton hinzu.
Sie gingen hinein und plapperten alle gleichzeitig. Bryn öffnete widerwillig eine Flasche Wein für sie alle und setzte sich dann schmollend an die Küchenzeile. Sie reichte jeder ein Glas, konnte sich aber eine finstere Miene nicht verkneifen.
„Du reist also nach Italien?“, fragte Shelby und grinste aufgeregt. „Für wie lange?“
„Drei Wochen.“ Keira faltete ihre Kleidung und verstaute sie im Koffer. „Das ist in der Redaktion aktuell mein Fachgebiet. Ich reise nach Übersee und schreibe über die Liebe. Sie nennen mich den Guru für Romantik.“
Shelby und Maxine tauschten einen Blick, den Keira sofort verstand.
„Ich weiß, ich bin ganz schlecht in Beziehungen. Zwei Trennungen in zwei Monaten, ich weiß. Aber ich kann ja so tun als ob.“
„Du meinst lügen?“, fragte Maxine lachend.
„Wenn es sein muss.“ Keira erinnerte sich daran, wie sehr sie mit dem letzten Artikel gerungen hatte. Damals war sie zynisch gewesen und hatte sich dagegen gewehrt, sich in Irland zu verlieben, und darüber hinaus auch in Shane. Jetzt musste sie die Sache genau anders herum angehen. Sie sollte hoffnungslos romantisch sein und sich der Liebe und der Leidenschaft ganz einfach hingeben. Sie fühlte sich wahrlich nicht danach.
„Du musst dich einfach in einen heißen Italiener vergucken“, fügte Shelby hinzu.
Keira schmunzelte. „Wäre doch nett, oder?“ Allerdings hatte sie das Gefühl, eine Nonne im Kloster hätte größere Chancen auf eine leidenschaftliche Affäre als sie derzeit.
„Du wirst Halloween verpassen“, meinte Maxine niedergeschlagen.
„Ich weiß, es ist ein Jammer“, gab Keira zu. „Das ist mein liebster Feiertag. Aber in Italien feiert man auch so etwas. Sogar vier Tage lang, glaube ich. Totensonntag, Allerseelen, Allerheiligen. Das ist eine große Sache. Eine Riesenparty.“
Shelby verschränkte spöttisch die Arme vor der Brust. „Du meinst also, dein Halloween wird um Längen besser als unseres?“
„Nein“, antwortete Keira lachend. „Na, vielleicht.“
Alle lachten, außer Bryn natürlich. Sie starrte in ihr Weinglas und schmollte.
„Wie dem auch sei“, sagte Keira, „wir können ja dann Thanksgiving zusammen feiern. Bis dahin bin ich längst zurück.“
Bryns Kopf ruckte hoch. „Wir verbringen Thanksgiving dieses Jahr bei unserer Mutter, vergiss das nicht. Nur wir drei.“
„Zum Essen“, wandte Keira ein. Sie verlor langsam die Geduld mit ihrer Schwester. „Den Rest des Tages darf ich aber mit meinen Freundinnen verbringen, oder?“
„Natürlich kannst du das“, maulte Bryn. Sie starrte wieder in ihr Glas.
Maxine hob fragend die Augenbrauen. Sie und Shelby waren Bryns Herumzickerei gewohnt, aber Keira verstand nicht, warum Bryn so besitzergreifend war. Sie hatte doch wohl das Recht auf andere Menschen in ihrem Leben. Bryn war selber sehr unabhängig und hatte ständig Freunde und Liebhaber, war permanent unterwegs, von einem Ereignis zum nächsten. Aber sobald Keira Zeit mit jemand anderem verbringen wollte, stellte sie sich an. Manchmal hatte Keira schon das Gefühl, sie sei die ältere der beiden. Bryn konnte sich manchmal wie eine verwöhnte Zicke aufführen.
„Thanksgiving ist noch so weit weg“, meinte Shelby.
„Ich weiß“, antwortete Keira. „Ich habe auch das Gefühl, kaum in New York angekommen zu sein. Es ist, als ob ich nur auf Urlaub hier gewesen wäre. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit, um mit allem auf den neuesten Stand zu kommen. Ich habe noch nicht mal eine neue Wohnung gefunden.“
„Wo wir gerade von Wohnungen reden …“, sagte Bryn.
Sie schaute auf Keiras Handy, das auf dem Schrank lag. Der Bildschirm war erleuchtet, gerade war eine Nachricht eingetroffen. Zachs Name stand gut lesbar im Display.
„Wehe, das ist nicht wegen der Kaution, die er mir schuldet“, sagte Keira.
Shelby und Maxine tauschten einen schuldbewussten Blick und Keira bekam das unbestimmte Gefühl, die beiden hätten etwas zu verbergen.
„Was ist los?“, frage sie energisch.
Sie hatte von Überraschungen die Nase gestrichen voll.
Shelby gab schließlich alles zu. „Ich könnte mir vorstellen, dass es mit Julia zu tun hat. Sie haben sich getrennt.“
Keira hob überrascht eine Augenbraue. „Haben sie?“ Diese Affäre war der Grund für ihre Trennung gewesen und hatte nur ein paar Wochen angehalten?
Sie nahm das Telefon und las Zachs Nachricht. Shelbys Vermutung wurde bestätigt.
Hallo Keira. Lange nichts voneinander gehört. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich mich von Julia getrennt habe, bevor du es durch die Gerüchteküche hörst. Hat einfach nicht gepasst mir ihr. Frage mich, ob du Lust auf einen Drink hast? Heute? Morgen? Lass es mich wissen. X
„Was für ein arroganter Drecksack“, murmelte Keira.
„Was hat er denn geschrieben?“, fragte Maxine.
„Nichts darüber, dass er meine Kaution als Geisel genommen hat“, meinte Keira angewidert. „Er will mich auf einen Drink treffen.“
Bryn fiel die Kinnlade runter. „Das machst du doch wohl nicht, oder?“
Keira schaute sie schockiert an. „Natürlich nicht. Es sei denn, es ist die einzige Möglichkeit, an mein Geld zu kommen.“
Bryn schüttelte tadelnd den Kopf. „Wenn er dich erpresst, damit du mit ihm ausgehst, dann kriegt er es mit mir zu tun.“
Shelby schaute sie irritiert an. „Er erpresst sie doch nicht, übertreib doch nicht so.“
Bryn sah beleidigt aus. „Entschuldige mal, wessen Freunde seid ihr doch gleich? Seine oder Keiras?“
„Beides“, antwortete Shelby und verschränkte die Arme.
Bryn sah unbeeindruckt aus. „Obwohl er fremdgegangen ist?“
„Leute!“, rief Keira. Sie hatte keinen Bock auf Rumgezicke. Sie starrte noch immer auf ihr Handy.
Bryn nahm es ihr aus der Hand.
„Denk nicht mal dran“, sagte sie streng.
„Tue ich ja gar nicht!“, rief Keira empört.
Aber Bryn hatte recht. Ein winziger Teil von ihr hatte darüber nachgedacht. Trotz all seiner Fehler hatte Zach sie gern gehabt. Sie waren zwei Jahre zusammen gewesen, hatten zusammen gewohnt. Er war verlässlich gewesen. Und vertraut. Bloß die Tatsache, dass für sie die Karriere vor der Beziehung kam, hatte alles zunichte gemacht. Hatte einen Keil zwischen sie getrieben und ihn in die Arme von Julia.
Bryn schaute sie finster an und ließ das Handy über ihrem Weinglas baumeln.
„Bring mich nicht dazu“, sagte sie.
Aus dem Augenwinkel konnte Keira sehen, dass Shelby und Maxine über Bryns dramatische Vorstellung den Kopf schüttelten.
Sie seufzte laut. „Okay, okay. Ich werde mich nicht mit ihm treffen. Ist es das, was du hören willst?“
Bryn nickte zufrieden und gab ihrer Schwester das Handy zurück.
„Jetzt löschst du die Nachricht und dann Zachs Kontaktdaten.“
Keira atmete geräuschvoll aus.
„Das ist lächerlich“, murmelte Shelby.
Keira blickte auf das Handy und Zachs Daten. Seit Jahren waren die da gespeichert. Sie konnte das nicht einfach löschen, als habe es ihn nie gegeben.
Aber sie musste zugeben, dass Bryn durchaus recht hatte, auch wenn sie mal wieder zu sehr dramatisierte. Sich mit Zach wieder zu treffen, wäre ein Schritt zurück. Keiras Leben hatte sich in kürzester Zeit so sehr verändert, dass Zach darin wie ein Rückschritt wirkte. Sie musste nach vorn schauen. Sie musste Zach hinter sich lassen und Shane ebenfalls. Sie musste endlich lernen auf eigenen Füßen zu stehen und ihre Unabhängigkeit zu erlangen.
Entschlossen löschte sie die Kontaktdaten, sah, wie sein Name vom Display verschwand. Es fühlte sich gut an, machte sie stark. Wenn sie es jetzt noch über sich brachte, auch Shanes Daten zu löschen, dann hatte sie es geschafft. Aber dafür war der Schmerz noch zu frisch.
Keira schaute ihre Schwester an.
„Glücklich?“
Bryn grinste. „Sicher. Ich bin immer glücklich, wenn ich gewinne. Und ich sorge dafür, dass ich immer gewinne“, fügte sie verschlagen hinzu.
Shelby stöhnte auf. Maxine vergrub ihr Gesicht in den Händen und schüttelte theatralisch mit dem Kopf. Keira lachte einfach, glücklich und erleichtert, dass sie einen weiteren Schritt nach vorne in ihrem Leben gemacht hatte.
KAPITEL FÜNF
Keira musste schnell feststellen, dass es gar nicht so leicht war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und es würde weit mehr dazu gehören, als nur ein paar Kontaktdaten vom Handy zu löschen. Denn sobald sie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Flughafen war, wurde sie von Erinnerungen an Shane und an Irland eingeholt.
Sie wurde geradezu von Nostalgie überwältigt, als sie durch die Flughafenhalle ging. Als sie ihren Bordpass überreichte, erinnerte sie sich lebhaft an all die Gefühle, die sie beim letzten Mal überkommen hatten, die Anspannung, gemischt mit Aufregung und Hoffnung. Das war noch gar nicht lange her, aber dennoch hatte sie das Gefühl, ein vollkommen anderer Mensch zu sein, trauriger und verbitterter.
Sie ging an Bord und suchte sich ihren Platz. Zum Glück saß sie am Fenster, was ihr als willkommene Ausrede diente, um nicht mit dem Passagier neben ihr ins Gespräch kommen zu müssen. Sie war nicht in der Stimmung für Geplauder. Dummerweise war der Mann aber sehr wohl in der Stimmung dafür. Sie waren gerade erst in der Luft, als er sich schon zu ihr herüber beugte und anfing zu reden.
„Garrett heiße ich. Waren Sie schon mal in Neapel?“, fragte er und grinste gut gelaunt.
Er war ein Mann mittleren Alters, mit dem Ansatz einer Glatze. Offenbar reiste er allein. Keira bemerkte, dass er keinen Ehering trug, aber ein schmaler Streifen blasser Haut verriet, dass das erst seit kurzem der Fall war. Frisch geschieden, vermutete sie und stöhnte innerlich. Das würden verdammt lange acht Stunden.






