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Mannheim verwendet den Begriff Generationszusammenhang, um die enge Bindung zu bezeichnen, die aus der Teilhabe an einem gemeinsamen geschichtlichen und gesellschaftlichen Schicksal einer Generation erwächst.17 Tatsächlich ist der Bruch zwischen den Generationen kein biologisches Faktum. Nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen entsteht ein Abstand oder sogar eine Kluft zwischen den Generationen. Bei der neuen jüdischen Intelligenz, die in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde, läßt sich solch ein Generationszusammenhang nachweisen. Er betrifft die Gruppe von Intellektuellen, der diese Untersuchung gewidmet ist. Sie alle sind etwa in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren: Martin Buber 1878, Franz Kafka 1883, Ernst Bloch 1885, Georg Lukács 1885, Franz Rosenzweig 1886, Walter Benjamin 1892, Ernst Toller 1893, Gershom Scholem 1897, Erich Fromm 1900, Leo Löwenthal 1900. Allerdings muß ergänzt werden, daß die oben skizzierte soziologische Analyse lediglich Aufschluß gibt über die Chancen einer bestimmten Anzahl dieser jüdischen Intellektuellen, den romantischen Antikapitalismus zu vertreten. Sie kann nicht erklären, warum gerade diese Wahl von diesem oder jenem Menschen getroffen worden ist. Zu diesem Zwecke müßte eine Reihe von anderen Variablen geklärt werden, zum Beispiel solche psychologischer Natur. Das Beispiel der Familie Scholem mag hier aufschlußreich sein: Einer der Söhne, Reinhold, wird deutscher Nationalist, und bleibt es sogar nach 1945 …; der andere, Werner, betätigt sich als kommunistischer Abgeordneter, und den dritten, Gerhard, kennen wir als Zionisten und Historiker der Kabbala … Das soziale Milieu allein kann eine derartige Unterschiedlichkeit der Lebensläufe ganz offensichtlich nicht erklären!
Für den jüdischen Intellektuellen der »romantischen Generation« der Jahre 1880, der manchmal die halböffentlichen Kreise frequentierte, in denen der romantische Antikapitalismus erstmals in Begriffe gefaßt wurde (Lukács und Bloch besuchten den Kreis um Max Weber in Heidelberg), stellte sich sofort ein ganz bestimmtes Problem. Der Traum von der Vergangenheit, das wesentliche der romantischen Position, wurde von Assoziationen genährt, die über deutsches Nationalbewußtsein hinaus eine gemeinsame Geschichte und Religion, vielleicht sogar die Zugehörigkeit zur Aristokratie, voraussetzten.
Wie aber sah die Beziehung eines Juden zum Germanentum der Vorfahren aus, zum mittelalterlichen Adel, zum protestantischen oder katholischen Christentum? Von diesem allen Deutschen gemeinsamen kulturellen Erbe war er völlig ausgeschlossen. Es ist richtig, daß bestimmten jüdischen Intellektuellen der Sprung gelang, vor allem die Mitglieder des Kreises um Stefan George waren hier sehr erfindungsreich. Rudolf Borchardt wandelte sich zum deutschen Nationalisten; Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl zu konservativen Germanisten, Hans Ehrenberg zum protestantischen Theologen. Aber derart extreme Fälle kamen selten vor, sie lassen auf eine einigermaßen künstliche, selbstentfremdende Entwicklung und eine völlige Verneinung der jüdischen Identität schließen. Eine nicht zu überbietende Manifestation dieser Haltung liegt uns vor im Werk jüdischer Antisemiten wie Otto Weininger und Theodor Lessing. Für die anderen und damit für die Mehrzahl gab es im Rahmen der Neuromantik nur zwei mögliche Auswege: entweder die Rückkehr zu den eigenen historischen Wurzeln, zur eigenen Kultur und zur Nationalität und Religion der eigenen Ahnen, oder der Glaube an eine romantische und revolutionäre Utopie, die universellen Charakter hatte. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Anzahl jüdischer Denker deutscher Sprache, die als Anhänger des romantischen Antikapitalismus gelten können, beide Wege gleichzeitig wählten. Sie entdeckten die jüdische Religion für sich neu, vor allem die restaurativen und utopischen Tendenzen des Messianismus, und sympathisierten bzw. identifizierten sich sogar mit revolutionärem, utopischem Gedankengut, das in gleicher Weise von Sehnsucht nach der Vergangenheit erfüllt war. Wie wir oben bereits gezeigt haben, entsprachen beide Tendenzen in struktureller Hinsicht einander.
Sehen wir uns die Wege näher an, die sie gingen. In der religiösen Atmosphäre der Neuromantik revoltieren viele jüdische Intellektuelle gegen die Assimilation ihrer Eltern und versuchen, die religiöse Kultur der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. So vollzieht sich eine De-Säkularisation, eine (partielle) Dissimilation, eine kulturelle und religiöse Anamnese, eine »An-Akkulturation«.18 Es gab Kreise und Vereinigungen, die hier als treibende Kräfte wirkten: der Club Bar Kochba in Prag, zu dessen Mitgliedern Hugo Bergmann, Hans Kohn und Max Brod zählten, der Kreis um den Rabbiner Nobel in Frankfurt (Siegfried Kracauer, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst Simon), das Freie Jüdische Lehrhaus mit Franz Rosenzweig, Gerhard Scholem, Nahum Glatzer, Margarete Süssmann, die Zeitschrift Martin Bubers Der Jude usw. Aber diese »An-Akkulturation« erfaßt noch weitaus breitere Bereiche der Gesellschaft. Eine Vielzahl der von der Neuromantik beeinflußten jüdischen Intellektuellen sind von ihr betroffen. Sie trägt manchmal nationale Züge, vor allem durch den Zionismus, aber ihr vorherrschendes Charakteristikum ist die Hinwendung zur Religiosität. Die Auswirkungen der Assimilation gehen so tief, daß es äußerst schwierig ist, mit dem deutschen Nationalbewußtsein zu brechen. Im Rahmen des fortgeschrittenen Assimilierungsprozesses in Mitteleuropa verbleibt die Religion als einzig legitimes Merkmal für die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Demnach ist es verständlich, daß sie schnell zum wichtigsten Ausdrucksmittel der kulturellen Rückbesinnung wird.
Dennoch handelt es sich um eine neue Form von Religiosität. Sie ist geprägt von der Spiritualität der deutschen Romantik und sehr verschieden vom rituellen Traditionalismus des orthodoxen Judentums, das von der Assimilation nie betroffen war. Das Paradoxe dabei ist, daß diese jungen Intellektuellen ihre eigene Religion erst über die Vermittlung der deutschen Neuromantik entdecken. Ihr Weg zum Propheten Jesaja führt über Novalis, Hölderlin und Schelling. Mit anderen Worten, ihre Assimilation und Akkulturation wird zur Vorbedingung und zum Ausgangspunkt für den Prozeß der Dissimilation und An-Akkulturation. Es ist kein Zufall, daß Buber vor der Konzeption seiner chassidischen Schriften19 über Jakob Böhme geschrieben hat und Franz Rosenzweig sich fast zum Protestantismus bekehrt hätte, bevor er zum Erneuerer der jüdischen Theologie wurde. Gustav Landauer hat die mystischen Schriften Meister Eckharts übersetzt, bevor er sich der jüdischen Tradition zuwandte, und Gershom Scholem hat die Kabbala dank der Werke des deutschen Romantikers Franz Joseph Molitor wiederentdeckt. Das Erbe der jüdischen Religion wird wahrgenommen durch die Gläser einer von der Romantik blau getönten Brille, was die Empfänglichkeit für ihre irrationalen Züge natürlich erhöht, ihren jeder Institutionalisierung feindlich gesonnenen Impetus und ihre mystischen, explosiven, apokalyptischen Aspekte. In seinem ersten, 1919 veröffentlichten Artikel über die Kabbala verwendet Scholem ganz gezielt den Begriff »antibürgerlich«. Der Messianismus konzentriert wie ein Brennspiegel das gesamte Sturm- und Drang-Potential des Judentums in sich, was natürlich voraussetzt, daß auf seine liberale, neukantianische und aufklärerische Interpretation verzichtet wird, die das messianische Zeitalter in der allmählich fortschreitenden Vervollkommnung der Menschheit verwirklicht sieht. Das Judentum entdeckt dieses Lebensgefühl nun für sich. Was hier neu betont wird ist die ungeheure eschatologische Kraft der originären Tradition, von den Propheten bis zur Kabbala und vom Alten Testament bis hin zu Sabbatai Zwi. So wird der jüdische Messianismus mit seinen beiden Antriebskräften Restauration und Utopie zum Schibboleth der religiösen Rückbesinnung der um das Jahr 1880 geborenen jüdischen Romantiker. Und daß aus der romantischen Explosivität dieses neuen Messianismus eine größere Bereitschaft zur politischen Veränderung entsteht als aus dem rabbinischen Messianismus des orthodoxen Judentums, das sich in politischen Dingen vor allem ruhig verhielt und niemals Bereitschaft zur aktiven Parteinahme zeigte, ist evident.
Wie geht die politische Aktivierung dieser jungen jüdischen Intellektuellen vor sich? Wie läßt sich ihre Anhängerschaft an revolutionäre Utopien erklären?
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir etwas weiter ausholen. Zuerst gilt es festzuhalten, daß sich jüdische Intellektuelle von der linken Bewegung und von sozialistischem Gedankengut generell angezogen fühlten. Historische Forschungen bestätigen, daß es sich bei einer Mehrzahl der jüdischen Linken in Mitteleuropa um Intellektuelle handelte.20 In Osteuropa, wo ein jüdisches Proletariat existierte, sah die Sache anders aus.
Der Antisemitismus erklärt dieses Phänomen auf seine Weise: Der heimatlose und kosmopolitische Jude tendiert instinktiv zum roten Internationalismus. Dieser Gemeinplatz ist offensichtlich falsch; die Mehrheit der Juden waren gute deutsche oder österreichische Patrioten, aber wahrscheinlich machte das Spannungsverhältnis von Assimilation und sozialer Verachtung und Marginalisierung im Rahmen der Volksgemeinschaft die jüdischen Intellektuellen sensibler für den internationalistischen Anspruch des Sozialismus als ihre nichtjüdischen Kollegen. Die Intelligenz spürte die Paria-Situation deutlicher als jüdisches Bürgertum und jüdische Geschäftswelt, litt stärker unter dem Antisemitismus, der sie überall umgab, unter der beruflichen und sozialen Diskriminierung. Hannah Arendt schreibt, diese neue Schicht von Intellektuellen sei der Welle antijüdischen Hasses um die Jahrhundertwende besonders stark ausgeliefert gewesen. »Ohne Schutz und Verteidigung« (»exposed without shelter and defense«) waren sie gezwungen, ihren täglichen Lebensunterhalt und ihre Selbstachtung außerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu suchen; so entwickelt sich in ihrer Mitte ein rebellisches »Paria-Bewußtsein«, das in scharfem Gegensatz steht zur konformistischen Haltung des Parvenu.21
Für den Paria gibt es nur zwei Möglichkeiten: Totale Selbstverneinung, wie wir sie bei Otto Weininger beobachten können, oder eine radikale Infragestellung des Wertesystems der Gesellschaft, die seine Andersartigkeit nicht toleriert. Seine gesellschaftliche Außenseiterposition treibt den Paria zu einem kritischen Blick; so wird er, in der Formulierung von Elisabeth Lenk, »zum Spiegel, der das Wesen der Gesellschaft reflektiert.«22
Die »negativen Privilegien« (Max Weber) der jüdischen, in die Paria-Rolle gedrängten Intellektuellen in Mitteleuropa äußern sich auf verschiedene Weise. Da ihnen Posten im Verwaltungsbereich und im öffentlichen Unterrichtswesen nicht zugänglich sind, sehen sich die jungen Hochschulabsolventen zu Tätigkeiten verdammt, die nur geringes gesellschaftliches Prestige genießen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt als freischaffende Schriftsteller und Journalisten, als Künstler oder Privatgelehrte, als Privatlehrer usw. Nach dem deutschen Soziologen Robert Michels ist es diese Diskriminierung und Marginalisierung, die die Prädisposition der Juden zum Anschluß an die revolutionären Parteien verständlich macht.23
Das gleiche Phänomen haben Karady und Kemeny in Ungarn untersucht und festgestellt, daß »die Bildung eines harten revolutionären Kerns innerhalb der liberalen Intelligenzija in direktem Zusammenhang mit den Härten des Marktes steht. Der institutionalisierte Antisemitismus innerhalb bestimmter Berufsklassen wie zum Beispiel dem Professorenstand ist nur eine der Folgen, die die Ausgeschlossenen in der Überzeugung bestärken, daß ihre normale Integration in ein Berufsleben ihrer Qualifikation nur über eine Veränderung der Spielregeln erfolgen kann.«24
Die Bedeutung dieses Aspekts darf man nicht unterschätzen. Dennoch habe ich den Eindruck, daß die revolutionäre Radikalisierung einer Vielzahl jüdischer Intellektueller in Ungarn und Deutschland nicht reduziert werden darf auf Probleme des Arbeitsmarktes oder der Berufsaussichten. Wenn man verstehen will, warum der Sohn eines jüdischen Bankiers, Georg Lukács, Volkskommissar der Ungarischen Räterepublik wurde oder der Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes, Eugen Leviné, Führer der Münchner Räterepublik, müssen andere Überlegungen berücksichtigt werden.
Walter Laqueur hat versucht, die Anziehungskraft der Linken auf die Juden zu erklären. In seinem Buch über die Weimarer Republik schreibt er dazu: »Kurz gesagt, sie neigten zur Linken, weil sie die Partei der Vernunft, des Fortschritts und der Freiheit war, die ihnen geholfen hatte, gleiche Rechte zu erlangen. Die Rechte andererseits war in verschiedenen Abstufungen antisemitisch, weil sie die Juden als fremdes Element im Komplex Politik betrachtete. Diese Einstellung war das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein Grundfaktum des politischen Lebens gewesen und änderte sich auch nicht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.«25
Laqueurs Analyse ist sicherlich nicht falsch und legt Rechenschaft ab von der großen Zahl jüdischer Intellektueller, die sich in Deutschland und vor allem in Österreich zur Sozialdemokratie bekannten. Aber sie reicht bei weitem nicht aus, die Radikalisierung einer ganzen Generation jüdischer Romantiker zu erklären, die allem Mißtrauen entgegenbringen, was Rationalismus, industrieller Fortschritt und politischer Liberalismus heißt – und keiner von ihnen sympathisiert mit den Sozialdemokraten.
Alle diese jungen Leute sind erfüllt von revolutionärer Begeisterung und vom Bedürfnis, ein sozialistisches Gesellschaftsmodell zu gestalten, das den Kapitalismus ablösen soll. Was hat sie auf diesen Weg gebracht? Wie läßt sich zum Beispiel erklären, daß vom Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in dem die neuromantische Weltanschauung vorherrschte, ausgerechnet die Juden – Lukács, Bloch, Toller – für die Revolution gestimmt haben?
Mit Sicherheit ist es ihre Paria-Situation, von der bereits die Rede war, ihr Außenseitertum und ihre Entwurzelung, die die jüdischen Intellektuellen empfänglich machte für eine Ideologie, die in radikalem Gegensatz steht zur bestehenden Ordnung. Aber hier im romantisch-antikapitalistischen Milieu kommen noch andere Motive ins Spiel. Der nationalen und kulturellen Romantik der Juden dient eigentlich der Zionismus. Aber seine Anhängerschaft bleibt gering. Die Assimilation ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit fortgeschritten, als daß der Gedanke an eine jüdische Nation noch große Identifikationsbereitschaft auszulösen vermöchte. Für Mitteleuropäer ist diese Vorstellung zu abstrakt, in Osteuropa mochte das anders aussehen. Also ist es verständlich, daß die Mehrheit der jüdischen Intellektuellen eine Verweigerungshaltung zeigt, die allen Nationalismen gilt und eine romantische, antikapitalistische Utopie entwickelt, die im Internationalismus die einzige Möglichkeit sieht, soziale und nationale Ungleichheiten radikal auszumerzen. Anstelle des Zionismus votieren sie für den Anarchismus, den Anarchosyndikalismus oder eine romantische und libertäre Interpretation des Marxismus. Die Anziehungskraft dieser Ideen ist so groß, daß sie sogar die Zionisten beeinflussen; die Beispiele Martin Buber, Hans Kohn und Gershom Scholem zeugen davon.
Für die ganz spezifische Faszination, die die libertäre Utopie vor allem vor 1917 auslöste, gibt es verschiedene Gründe. Von allen sozialistischen Theorien ist sie zunächst einmal am stärksten geprägt vom romantischen Antikapitalismus. Der orthodoxe Marxismus, der in diesen Zeiten mit der Sozialdemokratie identifiziert wird, erscheint hingegen wie eine etwas linkere Version der liberalistischen und rationalistischen Philosophie und verehrt wie diese die industrielle Zivilisation. Die Kritik Gustav Landauers am Marxismus (»Sohn der Dampfmaschine«) ist typisch für diese Einstellung. Der autoritäre und militaristische Charakter des deutschen Kaiserreichs ruft den antiautoritären und libertären Protest der deutschen Intelligenz vor allem nach 1914 hervor, wo er ihr als Moloch erscheint, der nach Menschenopfern giert. Außerdem entspricht der Anarchismus eher der Stellung der Intellektuellen »ohne soziale Bindungen«, ihrer Entwurzelung und ihrem Außenseitertum vor allem in Deutschland, wo – anders als in Frankreich, Spanien und Italien – die libertäre Bewegung nicht sozial organisiert war und über keine Massenbasis verfügte.
Es ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die es möglich machte, daß in einem ganz bestimmten historischen Moment und inmitten einer ganz bestimmten Generation jüdischer Intellektueller der Zusammenhang zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie dynamisch wurde und sich in eine Beziehung der Wahlverwandtschaft verwandelte. Es ist schwierig festzustellen, welches das erste oder entscheidende Element gewesen ist. Wesentlich ist, daß sie sich wechselseitig befruchtet, bestärkt und stimuliert haben. In diesem spezifischen Zusammenhang entsteht das komplexe Netz von Verbindungslinien zwischen romantischem Antikapitalismus, Renaissance der jüdischen Religion, Messianismus, antibürgerlicher und antietatistischer kultureller Revolte, revolutionärer Utopie, Anarchismus und Sozialismus. Diesem sozialen und geschichtlichen Prozeß, der sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt, gilt es nun, das konkrete politische Zusammentreffen bestimmter Umstände innerhalb einer Epoche hinzuzufügen.
Der Aufschwung der revolutionären Bewegungen im Europa dieser Zeit läßt sich innerhalb der Geschichte der Neuzeit mit nichts Ähnlichem vergleichen. Er beginnt mit der russischen Revolution im Jahre 1905 und endet mit dem definitiven Scheitern der deutschen Revolution im Jahre 1923. Es ist kein Zufall, wenn die wichtigsten Werke, in denen sich die Wahlverwandtschaft zwischen Messianismus und Utopie manifestiert, in diesem Zeitraum entstehen.
So stammen »Die Revolution« von Landauer aus dem Jahre 1907, »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Georg Lukács und die zweite Ausgabe von Ernst Blochs »Geist der Utopie« aus dem Jahre 1923. Ebensowenig kann es Zufall sein, wenn die Schriften, in denen die Wahlverwandtschaft am intensivsten und am tiefsten empfunden wird und sich Messianismus und libertäre Utopie am radikalsten und am explosivsten äußern, in den Jahren 1917 bis 1921 entstehen, in denen die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Zeitabschnitt zum Beispiel wurde »Der Heilige Weg« von Buber veröffentlicht, das Vorwort zur Neuauflage von »Aufruf zum Sozialismus« von Landauer, »Die Kritik der Gewalt« von Benjamin, »Der Geist der Utopie« von Bloch, »Der Bolschewismus als moralisches Problem« von Lukács und die beiden großartigen Theaterstücke von Ernst Toller, »Die Wandlung« und »Masse Mensch«. Das soll nicht heißen, daß diese Problematik nach 1923 nicht weiterbestand, wenn auch die äußere Form, ihr Charakter und ihre Intensität eine andere waren. In der Zeit der Katastrophe zwischen 1940 und 1945 kommt sie wieder zum Vorschein. In diesem Zeitraum entstehen Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, Martin Bubers »Utopie und Sozialismus« und wesentliche Teile von »Das Prinzip Hoffnung« von Ernst Bloch.
Bleibt noch zu klären, warum dieser »metaphysische Anarchismus« oder revolutionäre, romantisch inspirierte Messianismus fast ausschließlich auf Mitteleuropa beschränkt blieb.
Der Typ des revolutionären Juden ist in der politischen und kulturellen Szene Westeuropas praktisch nicht existent. Eine Ausnahme bilden hier die Juden, die, aus Osteuropa stammend, in England und auch in den Vereinigten Staaten zu ausgebeuteten Proletariern wurden. Aus dieser Gesellschaftsschicht kommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die militanten Anarchisten und Sozialisten. Die Juden aus altem westeuropäischem Stamm hingegen sind national und kulturell völlig assimiliert und soziale und politische Konformisten. Die Intellektuellen aus diesen Kreisen identifizieren sich gänzlich mit dem vorherrschenden bürgerlichen Liberalismus. Die Quellen für ihre Integration liegen in den bürgerlichen Revolutionen, die in Holland seit dem 16. Jahrhundert, in England seit dem 17. Jahrhundert und in Frankreich seit 1789 zur Emanzipation der Juden führten und deren wirtschaftliche, soziale und politische Integration in die kapitalistische Gesellschaft möglich machten. Wenn der revolutionäre Jude in Mittel- und Osteuropa auftaucht, so ist das vor allem zurückzuführen auf die Verzögerung oder das Scheitern der bürgerlichen Revolution in diesem Teil des Kontinents und auf die Verzögerung der kapitalistischen Entwicklung. Deren Resultat ist der begrenzte Charakter der jüdischen Emanzipation und Assimilation und die Paria-Situation der jüdischen Bevölkerung.
Der romantische, revolutionäre Messianismus hat die jüdische Intelligenz des Westens kalt gelassen. Die polemischen, rationalistisch-liberal geprägten Schriften, die heftig Stellung beziehen gegen diesen Typ von religiöser Utopie, stammen von jüdischen Intellektuellen englischer Muttersprache, zum Beispiel das Buch des 1915 in London geborenen Norman Cohn: The Pursuit of the Millenium. Revolutionary millenarians and mystical anarchists of the Middle Ages (London, Secker & Warburg, 1957) oder das eines ehemaligen Beamten des Foreign Office, Jakob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase (London, Secker & Warburg, 1960).
Den einzigen Riß im System von Assimilation und Integration im Westen bildet vor dem Zweiten Weltkrieg die Dreyfus-Affäre, aber dieses traumatische Ereignis vermochte den Glauben des französischen Judentums an die Werte des Bürgertums, der Republik und des Vaterlandes nicht zu erschüttern. Dennoch hat die Dreyfus-Affäre das Auftauchen einer revolutionären Figur ermöglicht, die den libertären Messianismus in außergewöhnlicher Weise markiert: Bernard Lazare. Er ist wahrscheinlich der einzige jüdische Denker im Westen, der mit Buber oder Landauer verglichen werden kann. Aber er war notwendigerweise dazu verurteilt, isoliert zu bleiben, verachtet und mißverstanden von der großen Mehrheit der französischen Juden.26
In Osteuropa sieht die Situation jedoch ganz anders aus, vor allem im russischen Reich, das vor 1918 auch Polen und die baltischen Staaten umfaßte. Die Teilnahme der Juden an den revolutionären Bewegungen ist hier viel massiver als in Mitteleuropa und im Gegensatz zu Deutschland blieb sie nicht auf die Intellektuellen beschränkt. Das ganze jüdische Proletariat organisiert sich im Bund oder hält es mit den beiden Fraktionen der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands): den Bolschewiki und den Menschewiki. Dies ist leicht zu erklären durch den höheren Grad an Unterdrückung, die andersartige soziale Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung, die zum größten Teil aus pauperisierten Arbeitern besteht, und die Gewalttätigkeit des überall dominierenden Antisemitismus. Mit einem Wort, die Paria-Situation der Juden im Zarenreich ist unvergleichlich brutaler als in Mitteleuropa. In allen revolutionären Bewegungen Osteuropas findet man eine Vielzahl jüdischer Intellektueller unterschiedlichster Couleur.
Als Sozialisten, Marxisten oder Anarchisten besetzen sie leitende Positionen und üben Einfluß als Organisatoren, Ideologen und Theoretiker aus. Nach Leopold H. Haimson stand die herausragende Rolle der russischen Juden innerhalb der revolutionären Intelligenz in keinem Verhältnis zu ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung.27
Die bekanntesten von ihnen bilden nur die sichtbare Spitze des Eisbergs: Leo D. Trotzki (Bronstein), Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julius Martow (Zederbaum), Raphael Abramowitsch, Leo Deutsch, Pawel Axelrod, Mark Liber (Goldman), Fjodor Dan (Gurwitsch), Leo Kamenew (Rosenfeld), Karl Radek (Sobelsohn), Gregori Sinowjew (Radomylski), Jakow Sverdlow, David Rjasanow (Goldendach), Maxim Litwinow (Wallach), Adolph Joffe, Michail Borodin (Grusenberg), Adolf Warsawski, Isaac Deutscher usw. Nicht zu sprechen von den sozialistischen jüdischen Organisationen wie dem Bund und den linken Zionisten sowie den Juden, die, aus dem Osten stammend, in der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland gewirkt haben. Außer Rosa Luxemburg und Leo Jogiches sind hier Parvus (Israel Helphand), Arkadi Maslow (Isaak Tschereminski), August Kleine (Samuel Haifiz) und andere zu verzeichnen, in England gehören Aron Lieberman und Lazar Goldenberg zu den aktiven Revolutionären, in den Vereinigten Staaten finden wir Emma Goldman, Alexander Berkman und S. Yanofsky.