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Mk 4,30-34: Das Gleichnis vom Senfkorn. Abschluß der Gleichnisrede
(30) Und er sagte: »Wie sollen wir das Reich Gottes vergleichen oder in welchem Gleichnis sollen wir es darstellen? (31) Wie mit einem Senfkorn, das, wenn es auf die Erde gesät wird, am kleinsten unter allen Samen auf der Erde ist, (32) und wenn es gesät ist, wächst es empor und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, so daß unter seinem Schatten die Vögel des Himmels Wohnung nehmen können.«
(33) Und in vielen solchen Gleichnissen sagte er ihnen das Wort, wie sie es hören konnten. (34) Ohne Gleichnis aber sagte er ihnen nichts, für sich allein aber löste er den eigenen Jüngern alles auf.
Redaktion und Tradition
V. 30-32 hat Mk an das Gleichnis von der von selbst wachsenden Saat angefügt oder – was wahrscheinlicher ist – zusammen mit diesem Gleichnis in einer Sammlung vorgefunden. Redaktionelle Eingriffe liegen nicht vor. Erwähnenswert ist, daß Mk zufolge an die Stelle der im Gleichnis vorausgesetzten Völkerwallfahrt zum Zion (s. unten) die aktive Heidenmission treten wird (13,10). Trotzdem läßt er an dieser Stelle die Worte Jesu unverändert.
Die Einleitung des Gleichnisses (»und er sagte«) entspricht der Einleitung des vorigen Gleichnisses (V. 26). Manchmal wird gesagt, der Samen sei nicht mehr das (plötzlich hereinbrechende) Reich Gottes, sondern schon die Kirche, die sich aus winzigen Anfängen auf Erden entwickelt. In diesem Falle würde es sich um ein nachösterliches Gleichnis handeln. Doch spricht das Gleichnis vom Senfkorn davon, daß die Ankunft des Reiches Gottes gewiss und seine Macht schon vorab wahrnehmbar sei. In V. 32 braucht man nicht die Entwicklung der Kirche auf Erden zu sehen, sondern kann hier an das messianische Reich denken. Dann steht am Ende das vollendete Reich Gottes bzw. der Tempel als Ziel der Völkerwallfahrt (vgl. Mt 8,11/Lk 13,29 und Ez 17,23; 31,6; Dan 4,9.18).
V. 33 schließt die vormarkinische Sammlung von Gleichnissen ab.
V. 34 stammt sicher von Mk und entspricht der in V. 11-12 ausgedrückten Theorie zur Gleichnisrede: Gleichnisse werden den Jüngern erklärt, an die draußen ergehen sie zur Verstockung.
Ertrag: Das Gleichnis V. 30-32 betont den Kontrast zwischen Anfang und Ende. Sein Sprecher ist der Überzeugung, daß Gott aus den kümmerlichsten Anfängen sein Reich herbeiführen wird, und dies in der unmittelbaren Zukunft.
Historisches
V. 30-32: Das Gleichnis, das parallel in Q (Mt 13,31-32/Lk 13,18-19) und Th 20 überliefert wird, enthält die gleiche Botschaft wie das Gleichnis von der von selbst wachsenden Saat (4,26-29) und ist echt (Differenz- und Kohärenzkriterium). Es sei nochmals betont, daß der Ausblick auf die Zukunft ursprünglicher Bestandteil der Botschaft Jesu ist.
Mk 4,35-41: Die Sturmbeschwörung
(35) Und er sagt ihnen an jenem Tag, als es Abend geworden war: »Wir wollen hinüberfahren an das andere Ufer.« (36) Und sie entließen die Volksmenge und nehmen ihn mit, wie er im Boot war. Und andere Boote waren mit ihm.
(37) Und es erhebt sich ein großer Sturm. Und die Wellen schlugen in das Boot, so daß sich das Boot schon füllte. (38) Und er selbst schlief im hinteren Teil auf dem Kopfkissen. Und sie wecken ihn und sagen ihm: »Lehrer, kümmert es dich nicht, daß wir zugrunde gehen?«
(39) Und wach geworden, bedrohte er den Wind und sagte zum Meer: »Schweige, verstumme!«
Und der Wind legte sich, und es geschah eine große Stille. (40) Und er sagte ihnen: »Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr keinen Glauben?«
(41) Und sie empfanden große Furcht, und sie sagten zueinander: »Wer ist denn dieser, daß auch der Wind und das Meer ihm gehorchen?«
Redaktion und Tradition
Jesus bringt hier mit seinem Wort die Naturgewalten zur Ruhe. Auf die Gegenwart des Reiches Gottes im Wort bzw. in der Lehre Jesu hatte Mk bereits 1,14-15; 4,1-34 abgehoben.
V. 35-36 stellen einen Zusammenhang mit V. 1 her.
V. 37 erinnert an Jona 1,4 (»Es erhob sich ein großes Ungewitter auf dem Meer«).
V. 38: Jesus schläft wie Jona (1,5); zur Frage der Jünger in V. 38c vgl. Jona 1,6.
V. 40 ist vom mk Motiv des Jüngerunverständnisses geprägt. Die Gegenwart Jesu – so will Mk zusätzlich sagen – wird durch den Glauben erfaßt, obgleich die Jünger die Präsenz des Reiches Gottes in Jesu Wort nicht recht begreifen.
Als Tradition liegt eine Naturwundergeschichte vor, welche die typischen Merkmale der Bedrohung durch das Wort (V. 39; vgl. 1,25; 9,25) und der Schilderung des Eindrucks (V. 41) aufweist (vgl. Bultmann, 230). Die Dramatik wird dadurch gesteigert, daß nicht nur eine große Gefahr durch den Sturm besteht, sondern daß ausgerechnet Jesus schläft und nichts tut, obwohl er allein helfen könnte.
Wahrscheinlich wurde eine ursprünglich fremde Wundergeschichte auf Jesus übertragen und zusätzlich mit Verweisen auf die alttestamentliche Jonageschichte ausgestattet. Jedenfalls ist dieser Bezug nicht ursprünglich, da anders als in der Jona-Erzählung die Sturmstillung als Dämonenbannung vollzogen wird. V. 39 setzt nämlich voraus, daß Engel oder Dämonen den Wind steuern (vgl. Jub 2,2: »Engel des Geistes des Windes«; 1Hen 69,22: »Geister des Windes«). Das Ziel der Erzähler dieses Naturwunders ist, Jesu Ebenbürtigkeit mit griechischen Magiern und Schamanen aufzuweisen und – in einem sekundären Stadium – ihn als Erfüller alttestamentlicher Vorbilder plausibel zu machen.
Historisches
Der historische Ertrag ist gleich Null, da die Tradition aus der Gemeinde ableitbar ist und da Naturgesetze auch durch einen Magier nicht aufgehoben werden können. Allerdings macht die exorzistische Seite des historischen Jesus verständlich, warum ihm ein dem Dämonenbann verpflichtetes Naturwunder zugeschrieben werden konnte.
Mk 5,1-20: Der Dämonische von Gerasa
(1) Und sie kamen an das andere Ufer des Meeres in die Landschaft der Gerasener.
(2) Und als er aus dem Boot ausstieg, kam ihm sofort aus den Grabhöhlen ein Mensch mit einem unreinen Geist entgegen, (3) der seine Wohnung in den Höhlen hatte, und keiner konnte ihn mit einer Fessel binden. (4) Denn schon oft war er mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden, und die Ketten waren von ihm zerrissen und die Fußfesseln zerrieben worden. Und keiner konnte ihn bändigen. (5) Und ständig, Tag und Nacht in den Grabhöhlen und auf den Bergen schrie er und schlug sich mit Steinen.
(6) Und als er Jesus von weitem sah, lief er und warf sich vor ihm nieder (7) und schrie mit lauter Stimme: »Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht!« (8) Denn er hatte zu ihm gesagt: »Fahre, unreiner Geist, aus dem Menschen!«
(9) Und er fragte ihn: »Was ist dein Name?« Und er sagt ihm: »Legion ist mein Name, denn wir sind viele.« (10) Und er bat ihn inständig, daß er sie nicht aus der Gegend schicke.
(11) Es war dort aber am Berge eine große Herde von Schweinen, die weidete. (12) Und sie baten ihn: »Schicke uns in die Schweine, daß wir in sie einziehen!«
(13) Und er gestattete es ihnen, und die unreinen Geister fuhren aus und zogen in die Schweine ein, und die Herde stürmte den Abhang hinab in das Meer, wohl zweitausend, und sie ertranken im Meer.
(14) Und ihre Hirten flohen und erzählten (davon) in der Stadt und in den Gehöften. Und sie kamen, das Geschehene zu sehen, (15) und gehen zu Jesus und sehen den Dämonischen dasitzen, bekleidet und vernünftig, ihn, der die Legion gehabt hat, und sie fürchteten sich.
(16) Und die Augenzeugen erzählten ihnen, wie dem Besessenen geschehen war und über die Schweine. (17) Und sie begannen ihn zu bitten, aus ihrer Gegend wegzuziehen.
(18) Und als er das Boot betrat, bat ihn der Mann, der besessen gewesen war, er möchte mit ihm sein. (19) Und er ließ ihn nicht, sondern sagt ihm: »Geh in dein Haus zu den Deinigen und erzähle ihnen, was der Herr dir getan hat und (wie er) sich deiner erbarmt hat!«
(20) Und er ging und begann in den zehn Städten laut zu verkünden, was Jesus ihm getan hat, und alle verwunderten sich.
Redaktion
V. 1 geht auf Mk zurück. Die Ankunft am jenseitigen Ufer ist die Verwirklichung des Plans aus 4,35. Der Plural »sie kamen« ist ebenfalls redaktionell, denn die Jünger spielen im Folgenden keine Rolle mehr.
V. 2a: Das Bootsmotiv ist redaktionell (vgl. 4,36; 5,18).
V. 7: Zur Begegnung mit dem Exorzisten vgl. 1,23-24 und 1Kön 17,18 als gemeinsamen Hintergrund.
V. 8 ist wohl redaktionell. Mk liebt Begründungssätze, die eine Nachinformation liefern: 1,38; 2,15; 3,10; 4,22.25; 5,28. Vgl. auch die ähnlichen Nachträge in 3,30; 6,17-29; 15,7.10.
V. 18b: Das Nachfolgemotiv ist redaktionell (vgl. 3,14: »mit ihm sein«).
V. 20: Mk gestaltet den Wunderbericht so, daß die Heilung des Besessenen die Kunde von Jesus erstmalig in die zehn Städte (»Dekapolis«) bringt. Dekapolis ist der Name eines ursprünglich aus zehn Städten bestehenden Bundes mit einem Gebiet östlich des Jordans (ohne Skythopolis). Im Norden war Damaskus, im Süden Philadelphia die Grenze.
Tradition
Die zugrundeliegende Wundergeschichte ist die am ausführlichsten erzählte in den neutestamentlichen Evangelien. Sie entspricht an zahlreichen Stellen der Wundererzählung Mk 1,23-27 und ist ebenfalls als Exorzismus zu bezeichnen.
Die Geschichte zeugt von einer großen Erzählfreude. Diese wird sichtbar in den Verdoppelungen: jeweils zweimal werden der Aufenthalt des Besessenen in den Gräbern (V. 3.5), die Bitte um Schonung (V. 10.12) und die Berichterstattung (V. 14.16) erzählt. Es ist gleichzeitig zu beachten, daß das Motiv vom betrogenen Teufel zugrunde liegt, das nicht ohne Komik ist.
»Wider Erwarten sehen sich die Dämonen nun doch, trotz der Erfüllung ihres Wunsches und gerade dadurch, um das Logis geprellt, und können sehen, wo sie bleiben (Lc 11,24). Das wird mit Behagen erzählt. Ebenso ist den unreinen Tieren das Versaufen gegönnt und ihren heidnischen Besitzern der Verlust: 2000 Stück! Es nimmt Wunder, wie dieser Schwank hat auf Jesus übertragen werden können« (Wellhausen, 359).
Historisches
Der historische Wert der Erzählung ist gleich Null. Sie ist nämlich erst später auf Jesus übertragen worden und spiegelt ein spätes traditionsgeschichtliches Stadium wider. Gleichzeitig bleibt zu beachten, daß auf Jesus eine solche Geschichte problemlos übertragen werden konnte. Das war nur möglich, weil er in der Tat Exorzismen vorgenommen hat (vgl. oben zu Mk 1,23-27 u.ö.).
Mk 5,21-6,1a: Die Heilung der blutflüssigen Frau und die Auferweckung der Tochter des Jairus
(21) Und als Jesus im Boot wiederum zum jenseitigen Ufer hinübergefahren war, versammelte sich bei ihm eine große Volksmenge, und er war am Meer.
(22) Und es kommt zu ihm einer der Synagogenvorsteher, namens Jairus, und als er ihn sieht, fällt er zu seinen Füßen nieder (23) und bittet ihn inständig: »Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg deine Hände auf sie, damit sie gerettet wird und lebt!«
(24) Und er ging mit ihm, und ihm folgte eine große Volksmenge, und sie drängten sich um ihn.
(25) Und da war eine Frau, die zwölf Jahre an Blutfluß litt (26) und viel von vielen Ärzten gelitten hatte und ihr ganzes Vermögen aufgewendet hatte, aber es hatte nichts genützt, sondern es war nur noch schlimmer mit ihr geworden. (27) Als sie von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten und berührte sein Gewand. (28) Sie sagte nämlich: »Wenn ich auch nur seine Gewänder berühre, werde ich gerettet werden.«
(29) Und sofort versiegte ihr Blutfluß, und sie spürte am ganzen Körper, daß sie von der Plage geheilt war.
(30) Und sogleich erkannte Jesus in sich die von ihm ausfließende Kraft, drehte sich in der Menge um und sagte: »Wer hat meine Gewänder berührt?« (31) Und seine Jünger sagten ihm: »Du siehst, daß das Volk dich bedrängt, und sagst: Wer hat mich berührt?« (32) Und er blickte herum, diejenige zu sehen, die das getan hatte.
(33) Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, wissend, was ihr geschehen war, und kam und warf sich vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.
(34) Er aber sagte ihr: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage!«
(35) Als er noch spricht, kommen sie vom Synagogenvorsteher und sagen: »Deine Tochter ist gestorben; warum belästigst du den Lehrer noch?« (36) Als aber Jesus das gesprochene Wort hörte, sagt er dem Synagogenvorsteher: »Fürchte dich nicht, glaube nur!« (37) Und er erlaubte niemandem, ihm zu folgen (= ihn zu begleiten) außer Petrus, Jakobus und Johannes, dem Bruder des Jakobus.
(38) Und sie kommen in das Haus des Synagogenvorstehers, und er sieht ein Gewimmel, Weinende und laut Wehklagende. (39) Und als er hineingeht, sagt er ihnen: »Was macht ihr Lärm und weint? Das Kindlein ist nicht gestorben, sondern schläft.«
(40) Und sie lachten ihn aus. Er aber trieb alle fort und nimmt den Vater des Kindes und die Mutter und die Seinigen und geht hinein, wo das Kind war. (41) Und die Hand des Kindes ergreifend, sagt er ihr: »Talitha kum!«, was übersetzt heißt: »Mädchen, dir sage ich, stehe auf!«
(42) Und sogleich stand das Mädchen auf und ging herum. Sie war nämlich zwölf Jahre. Und sie gerieten außer sich in großem Entsetzen.
(43) Und er befahl ihnen streng, daß keiner dies erfahren sollte.
Und er sagte, ihr zu essen zu geben.
(6,1a) Und er ging von dort weg.
Redaktion
Mk hat zwei Geschichten miteinander verschachtelt (zu dieser Technik vgl. zu 3,20-35). Dabei fällt auf, daß Jesus an zwei Frauen Heilungen vollzieht. Man vgl. die Bezeichnung beider Frauen als »Tochter« (V. 34/35).
V. 24 verbindet redaktionell die beiden Geschichten miteinander.
V. 28: Die »Rückblende« geht möglicherweise auf Mk zurück.
V. 31: Das Jüngerunverständnis zieht sich wie ein roter Faden durch das MkEv (vgl. 4,13; 4,40-41; 6,52; 7,18; 8,17-21 u.ö.).
V. 34: Zum Glaubensmotiv vgl. V. 36 und 4,40. Zum Glaubensbegriff in der Verkündigung Jesu vgl. weiter 11,22-23.
V. 35: »Als er noch spricht« ist Verknüpfung (zur Konstruktion vgl. 14,43).
V. 37: Die Dreiergruppe stammt aus 3,16f. Diese Trias bevorzugt Mk auch sonst, vgl. 9,2.
V. 43a: Das Verbot der Weitererzählung fügt Mk auch an anderen Stellen ein (vgl. 7,36; 9,9).
6,1a verknüpft die beiden Wundergeschichten mit dem Folgenden.
Tradition
a) Die Jairusgeschichte (V. 22-23.35-43). Vorbild ist die Elia-Elisa-Erzählung (1Kön 17,17-24; 2Kön 4,25-37). Der Aufbau der Geschichte, die eine Totenerweckung schildert, ist stilgemäß.
»Typisch ist weiter die Entfernung des Publikums V. 40, die Geste und das Zauberwort V. 41, die Plötzlichkeit des Wunders V. 42 und die Altersangabe, die hier an wirksamer Stelle V. 42 nachgebracht wird zugleich mit dem Bericht des Eindrucks des Wunders. Typisch ist endlich die Aufforderung, der Erweckten zu essen zu geben V. 43, die nämlich hier das Motiv der Demonstration bildet« (Bultmann, 229).
b) Die blutflüssige Frau (V. 25-34). Diese Wundergeschichte hebt den Kontrast von vergeblicher Suche nach Heilung und plötzlicher, wunderbarer Heilung durch Jesus hervor. Sie betont den Wunderglauben der Frau gegenüber Jesus, dem Magier (vgl. bes. V. 30), dessen Fähigkeit der unzähliger Ärzte überlegen ist (vgl. V. 26). Der Aufbau ist stilgemäß:
»Typisch ist die Angabe der Krankheitsdauer V. 25 und die Betonung der vergeblichen Bemühungen der Ärzte V. 26, die die Schwere des Leidens und damit die Größe des Wunders hervorheben soll. Typisch ist das hier besonders ausgestaltete Motiv der Berührung V. 27-32, typisch auch die Plötzlichkeit der Heilung V. 29« (Bultmann, 229).
Beide Erzählungen gehen auf missionarisch-werbende Interessen zurück: Jesus ist anderen Heilern überlegen und verdient daher das Vertrauen der Menschen.
Historisches
V. 22-23.35-43: Selbst historische Erinnerungen an eine ähnliche Wundertat Jesu sind unwahrscheinlich, denn sowohl in traditionsgeschichtlicher als auch in medizinischer Hinsicht ergeben sich grundsätzliche Bedenken gegen die Geschichtlichkeit der Totenerweckung.
V. 25-34: Die Geschichte hat keinerlei historischen Wert bezüglich der Frage, ob Jesus die blutflüssige Frau geheilt hat. Zum Thema »Jesus und die Frauen« vgl. zu Lk 7,36-50; 8,1-3.
Mk 6,1b-6: Die Ablehnung Jesu, des Sohnes der Maria, in seiner Vaterstadt
(1b) Und er kommt in seine Vaterstadt, und seine Jünger folgen ihm nach. (2) Und als es Sabbat wurde, begann er in der Synagoge zu lehren, und die vielen, die (zu)hörten, staunten und sagten: »Woher hat dieser das? Und was ist das für eine Weisheit, die diesem gegeben wurde, und derartige Wunder, die durch seine Hände geschehen? (3) Ist dieser nicht der Handwerker, der Sohn der Maria und Bruder von Jakobus und Joses und Judas und Simon? Und sind das nicht hier seine Schwestern bei uns?« Und sie nahmen an ihm Anstoß.
(4) Und Jesus sagte ihnen: »Nirgends gilt der Prophet als ehrlos außer in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seinem Haus.«
(5) Und er konnte dort kein Wunder tun, außer daß er wenigen Schwachen die Hände auflegte und (sie) heilte.
(6) Und er wunderte sich wegen ihres Unglaubens.
Und er ging rings umher in die Dörfer und lehrte.
Redaktion
V. 1b: Die Erwähnung der Jünger, die im Folgenden keine Rolle spielen, geht auf Mk zurück.
V. 2a: Die Lehre Jesu – ein typisches Motiv der Jesusdarstellung des Mk (vgl. bereits 1,21-28) – versetzt die Synagogenbesucher in Erstaunen.
V. 2b: Die Frage nach Jesu Wundern dürfte wegen der Wundertaten im Kontext (der Abschnitt 4,35-5,43 enthält allein vier massive Wunder) ebenfalls redaktionell sein.
V. 3: Die Frage der Zuhörer streicht heraus, daß es mit Jesus nichts Außergewöhnliches auf sich hat: Er ist doch der Handwerker, den sie alle kennen. Und ebenso sind ja seine Brüder und Schwestern bekannt. Daher nimmt man Anstoß an dem besonderen Anspruch Jesu. Zur ungewöhnlichen Wendung »Sohn der Maria« statt »Sohn des Joseph« vgl. unter Tradition.
V. 4: Die zweite Hälfte geht auf die redaktionelle Verknüpfung von Weisheitssatz und V. 3 zurück.
V. 5: Das Wundermotiv ist redaktionell (s. oben zu V. 2).
V. 6: Mit der Schlußbemerkung V. 6a erscheint die Wortgruppe Glaube/Unglaube zum vierten Mal innerhalb des Großabschnittes 4,35-6,6a.
Das V. 6b erwähnte Lehren Jesu zieht sich wie ein roter Faden durch das MkEv (vgl. 1,21f; 2,13; 4,1) und knüpft an V. 2 an.
Tradition
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Entstehungsgeschichte der überlieferten Szene zu rekonstruieren: a) In Mk 6,1-4 liegt ein Musterbeispiel dafür vor, wie aus einem allgemein-weisheitlichen Satz (V. 4a) heraus eine Erzählung gestaltet worden ist. Das für die Komposition der Geschichte ausschlaggebende Stichwort ist »Vaterstadt« (V. 1/V. 4). b) V. 4a, der allgemein-weisheitliche Satz, ist von Mk in eine Geschichte von dem erfolglosen Auftreten Jesu in seinem Heimatort (Nazareth) eingefügt worden. Mk hat sich vom Stichwort »Vaterstadt« anregen lassen, den weisheitlichen Satz anzufügen.
Die zuletzt genannte Möglichkeit dürfte wahrscheinlicher sein, denn die Nachrichten über Jesu Auftreten in seiner Vaterstadt sind sehr konkret. Die Form der überlieferten Erzählung vom erfolglosen Auftreten Jesu in seinem Heimatort ist aber nicht mehr zu bestimmen. Es empfiehlt sich die Annahme, Mk habe aus allgemeinem Wissen geschöpft, aus welcher Quelle oder Erzählung auch immer, und es zur Komposition dieser Szene benutzt. Ich bezeichne dieses Stück als Tradition 1. Gleichzeitig dürfte die separat überlieferte Sentenz V. 4a versuchen, die für die christliche Gemeinde schwer verständliche und anstößige Tatsache einer Erfolglosigkeit Jesu zu verarbeiten. Ich bezeichne sie im folgenden als Tradition 2.
Innerhalb von Tradition 1 sticht als Argument gegen Jesus die Bemerkung heraus, er sei der Sohn der Maria. Dieses Argument entschärft Mk offenbar durch einen neutralen Familienkatalog, der wegen der dort gegebenen Namen auf Überlieferung zurückgehen dürfte. Doch bleibt der Satz »Sohn der Maria« um so ungewöhnlicher, als ein jüdischer Mann normalerweise mit dem Namen seines Vaters verbunden wurde, selbst dann, wenn der Vater schon gestorben war.
Die Wendung »Sohn der Maria« dürfte einer Überlieferung entstammen, die in der allerersten, bald von der Kontroverse um die Vollmacht Jesu geprägten Zeit geläufig war. Einen wesentlichen Grund für die Annahme, »Sohn der Maria« sei polemisch gemeint, liefern nämlich die beiden Seitenreferenten, Mt und Lk, die »Sohn der Maria« in »Sohn des Handwerkers« bzw. »Sohn des Joseph« ändern. Außerdem sei auf die Textüberlieferung des MkEv hingewiesen: Ein (an dieser Stelle leicht beschädigter) Evangelienpapyrus aus dem 3. Jahrhundert bringt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Mk 6,3 folgende Textkorrektur: »Ist dieser nicht der Sohn des Handwerkers und der Maria?« (Papyrus 45).
Die drei wichtigsten Gründe für die Annahme, der Ausdruck »Sohn der Maria« nehme die fehlende Legitimität Jesu aufs Korn, sind folgende:
1. Die Wendung wird in Jesu Heimatstadt (Nazareth oder Kapernaum) ausgesprochen.
2. Sie erscheint auf den Lippen derjenigen, die Jesus nicht völlig verstanden haben bzw. ihm gegenüber feindlich sind.
3. Mk wiederholt den Satz von Mk 6,3 nicht. Er beantwortet den Vorwurf nicht dadurch, daß er ihn zurückweist, sondern indem er in V. 4b die Verwandten für unwichtig erklärt.
Abschließend sei aufgewiesen, wie Tradition 1 und Tradition 2 zusammengewachsen sein mögen. Es besteht die Möglichkeit, der Vorwurf der Unehrenhaftigkeit in Tradition 2 (Mk 6,4) hänge direkt mit dem Hohnwort »Sohn der Maria« aus Tradition 1 zusammen. Man vgl. Weish 3,16f: (16) »Aber die Kinder der Ehebrecher geraten nicht, und die Nachkommen aus gesetzeswidrigen Ehen werden vertilgt. (17) Denn wenn sie auch lange leben, werden sie doch nichts gelten, und ihr Alter wird zuletzt doch ohne Ehre sein …« Das hieße dann, Jesus sei unehrenhaft, weil er von illegitimer Herkunft ist.
Historisches
Tradition 2: Der Mk 6,4 zugrundeliegende Spruch geht vielleicht auf Jesus zurück. Er könnte Jesus aber auch später in den Mund gelegt worden sein.
Tradition 1: Jesu Erfolg in seiner Heimatstadt war gering. Als historisch ist zu erschließen, daß die Bezeichnung Jesu als »Sohn der Maria« bereits in seinem Heimatort gegen ihn geäußert wurde. Die Wendung ist dann als Hohnwort zu bezeichnen, das den Finger auf einen wunden Punkt der Abstammung Jesu legt. Wenn die aufgebrachten Leute seines Heimatortes ihren Landsmann Jesus als »Sohn der Maria« bezeichnen, so ist das ein arges Schimpfwort. Der Schlüssel für sein Verständnis ist, daß Jesus verächtlich nach seiner Mutter und nicht nach seinem Vater, wie es üblich war, benannt wird. Der Vorwurf bringt also zum Ausdruck: Dieser Bursche, der uns da Predigten halten will, hat keinen richtigen Vater; er ist ein Bastard (vgl. Stauffer, 22-24).