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Unter Trajan, so berichtet Hegesipp (bei Euseb, KG III 32,3), erlitt Symeon im Alter von 120 Jahren den Märtyrertod. Er muss also in Palästina eine bekannte Gestalt gewesen sein. Das gleiche gilt für die Enkel des Judas, der ein Bruder Jesu war. Sie wurden Hegesipp zufolge (bei Euseb, KG III 20,1 – 6) vor Kaiser Domitian geführt, aber wegen ihrer Harmlosigkeit in Freiheit gesetzt. Am Schluss der Erzählung heißt es:
»Sie aber erhielten nach der Freilassung, da sie Bekenner und Verwandte des Herrn waren, führende Stellungen in der Kirche. Nachdem Frieden geworden war, lebten sie noch bis Trajan«. (20,6).
Und schließlich besitzen wir ein weiteres Zeugnis über das Ansehen der Verwandten Jesu in Palästina, wenn es bei Euseb, KG I 7,14 (im Exzerpt aus Julius Africanus) heißt: »Die Herrenverwandten breiteten sich von den jüdischen Dörfern Nazareth und Kokabe aus über das übrige Land …«10 Man kann es kaum für einen Zufall ansehen, dass die Heimat der Herrenverwandten, Kokabe, und der Ort, wo zahlreiche Judenchristen wohnten, denselben Namen haben.11 Vielmehr deutet das auf eine Vereinigung beider Gruppen hin, die ja ohnehin wahrscheinlich ist, da der Herrenbruder Jakobus die Leitung der (judenchristlichen) Gemeinde Jerusalems innehatte.
Von den anderen (Heiden-)Christen getrennt, waren die Ebioniten und Herrenverwandten auch von den jüdischen Brüdern separiert und gerieten sozusagen zwischen die Stühle der zunehmend heidenchristlich werdenden Kirche und des sich neu formierenden jüdischen Synagogenverbandes.
Durch die Zerstörung Jerusalems hatten auch die jungen heidenchristlichen Kirchen ihren durch Jesus und die Jerusalemer Gemeinde (!) gesetzen Mittelpunkt verloren; ein neuer etablierte sich mit der römischen Gemeinde, die unter Berufung auf Petrus und Paulus (1Clem 5) bald einen Führungsanspruch erhob und ihn innerhalb eines Jahrhunderts auch durchsetzte.
Erst in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s entdeckten einzelne Heidenchristen das Heilige Land wieder neu (Bischof Melito von Sardes besuchte um 160 n. Chr. Jerusalem [vgl. Euseb, KG IV 26,14])12, aber da war es für eine Rehabilitierung der Jerusalemer Christen schon zu spät; sie waren zu ebionitischen Ketzern geworden. Auch im Verhältnis zu ihren jüdischen Brüdern ging es ihnen nicht besser. Wenn sie beispielsweise am Synagogengottesdienst teilnehmen wollten, mussten sie fürchten, dass man bei der Rezitation des Achtzehnbittengebetes den Spruch gegen die Häretiker auf sie beziehen würde.13
Teil I: Das Jerusalemer Judenchristentum vor dem Jüdischen Krieg
Ich zeichne im Folgenden die dramatische Vorgeschichte des Jüdischen Kriegs nach.14 Das Auftreten Jesu hatte durch seine Kreuzigung ein Ende gefunden. Die Motive für die Hinrichtung durch den Römer Pilatus lagen darin, dass er Jesus für einen politischen Aufrührer hielt, den es kaltzustellen galt. Die Kreuzesinschrift »Der König der Juden«. (Mk 15,26) zeigt, wie Jesu Wirken als politisches verstanden werden konnte.
Und doch bedurfte es für die Überstellung Jesu durch die jüdische Behörde an die Römer eines besonderen Grundes. Dieser dürfte in Jesu Haltung zum Tempel zu finden sein.15 In den ntl. synoptischen Evangelien steht der Auftritt Jesu im Tempel (Mk 11,15 – 19 parr) in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner späteren Hinrichtung. Wohl ist nicht ohne weiteres klar, was Jesus mit der Aktion – ihre Historizität vorausgesetzt – bewirken wollte.
a) War sie als Tempelreinigung gedacht? Aber wer wird das Vertreiben der Händler und Verkäufer und das Umstoßen der Tische der Geldwechsler und Taubenhändler so auffassen können?
b) War sie als Tempelreform zu deuten? Aber dazu passt nicht, dass sie gar nicht den ganzen Tempel, sondern nur einen kleinen Bezirk betraf.
c) Jesu Aktion im Tempel dürfte eher eine symbolische Handlung sein, die auf etwas anderes hindeutet (vgl. die Zeichenhandlungen der atl. Propheten.16 Jesus versuchte, zeichenhaft den Tempelkult aufzuheben. »Diese Aufhebung aber geschah nicht, um den Tempelkult zu reformieren oder seine (weitere) Profanisierung zu stoppen, sondern um einem ganz neuen Tempel, dem eschatologischen und damit von Gott erwarteten, Platz zu machen.«17
Voraussetzung dieses Verständnisses ist zweierlei: 1) Jesus hat in wörtlichem Sinn das Umstürzen (Mk 11,15) verstanden, das auf den ganzen Tempel zielte; 2) er hat damit die Hoffnung auf einen neuen Tempel verbunden, wie sie sich im Judentum in verschiedenen Ausprägungen findet (Jes 60,13; Mi 4,1 – 2; Hag 2,6 – 9; Tob 14,7; 1Hen 90,28 f).
Ein weiterer Reflex der Tempelkritik Jesu findet sich im Bericht über seinen Prozess. Vgl. Mk 14,58: »Wir haben gehört, dass er gesagt hat: ›Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der nicht mit Händen gemacht ist‹.« Die jesuanische Herkunft dieses Tempellogions ist sehr wahrscheinlich, umso mehr, als Mk 14,57 es ausdrücklich als Falschzeugnis darstellt (vgl. Apg. 6,14, wohin es – zur Entschärfung? – vom Vf. der Apg transportiert worden ist) und damit der Radikalität der Verkündung Jesu an dieser Stelle die Spitze abbricht. Des weiteren war die jesuanische Erwartung des himmlischen Tempels auch insofern gut verstehbar, als die Jerusalemer Urgemeinde sich mit dem Tempel identifizierte. Ihre Mitglieder hielten sich stets zum jüdischen Heiligtum (Apg 2,46; 3,1 ff; 21,26) und erwarteten hier in Einklang mit Jesus das Ende der Zeiten.
Als Analogie zum Tempelwort Jesu und der Reaktion der jüdischen und römischen Behörden sei auf das Beispiel von Jesus, Sohn des Ananus verwiesen. Über ihn schreibt der jüdische Historiker Josephus in einem bisher nicht ausreichend gewürdigten Bericht18:
»Vier Jahre vor dem Krieg, als die Stadt noch im höchsten Maße Frieden und Wohlstand genoss, kam nämlich ein gewisser Jesus, Sohn des Ananias, ein ungebildeter Mann vom Lande zu dem Fest, bei dem es Sitte ist, dass alle Gott eine Hütte bauen, in das Heiligtum und begann unvermittelt zu rufen:
›Eine Stimme vom Aufgang,
eine Stimme vom Niedergang,
eine Stimme von den vier Winden,
eine Stimme über Jerusalem und den Tempel,
eine Stimme über Bräutigam und Braut,
eine Stimme über das ganze Volk!‹ (vgl. Jer 7,34; 16,9)
So ging er in allen Gassen umher und schrie Tag und Nacht. Einige angesehene Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, nahmen ihn fest und misshandelten ihn mit vielen Schlägen. Er aber gab keinen Laut von sich, weder zu seiner Verteidigung noch eigens gegen die, die ihn schlugen, sondern stieß beharrlich weiter dieselben Rufe aus wie zuvor. Da glaubten die Obersten, was ja auch zutraf, dass den Mann eine übermenschliche Macht treibe, und führten ihn zum Statthalter, den die Römer damals eingesetzt hatten. Dort wurde er bis auf die Knochen durch Peitschenhiebe zerfleischt, aber er flehte nicht und weinte auch nicht, sondern mit dem jammervollsten Ton, den er seiner Stimme geben konnte, antwortete er auf jeden Schlag: ›Wehe dir, Jerusalem!‹
Als aber Albinus – denn das war der Statthalter – fragte, wer er sei, woher er komme und weshalb er ein solches Geschrei vollführe, antwortete er darauf nicht das Geringste, sondern fuhr fort, über die Stadt zu klagen und ließ nicht ab, bis Albinus urteilte, dass er wahnsinnig sei, und ihn laufen ließ.
In der Zeit bis zum Kriege aber näherte er sich keinem der Bürger, noch sah man ihn mit jemandem sprechen, sondern Tag für Tag rief er, als ob er ein Gebet eingelernt hätte, seine Klage: ›Wehe, wehe dir, Jerusalem!‹
Er aber fluchte keinem von denen, die ihn schlugen, obwohl es täglich vorkam, noch segnete er die, die ihm Nahrung gaben, – eine einzige Antwort nur hatte er für alle, jenes unselige Rufen.
Am meisten aber schrie er an den Festtagen, und das tat er sieben Jahre und fünf Monate lang ohne Unterbrechung – seine Stimme stumpfte nicht ab, noch wurde er müde, bis er zur Zeit der Belagerung zur Ruhe kam, als er seinen Ruf zur Tat werden sah. Denn als er auf seinem Rundgang von der Mauer herab gellend rief: »und noch einmal wehe der Stadt und dem Volk und dem Tempel!‹, da setzte er zum Schluss hinzu: ›und wehe auch mir!‹, denn ein Stein schnellte aus der Wurfmaschine und traf ihn, so dass er auf der Stelle tot war und, noch jene Weherufe auf den Lippen, seinen Geist aufgab«. (Bell VI 300 – 309).19
Zurück zu Jesus von Nazareth: Seine männliche Jüngerschar, die von Galiläa mit ihm nach Jerusalem zum Passahfest gezogen war, hatte ihn vor bzw. bei der Festnahme fluchtartig verlassen, nach anfänglichem Zögern auch Simon Petrus, der unter den Jüngern Jesu eine Vorrangstellung innehatte. Freundinnen Jesu, die ebenfalls mit ihm von Galiläa nach Jerusalem zum Passahfest gereist waren, hielten dagegen länger bei ihrem Meister aus. Doch konnten auch sie sein Schicksal nicht wenden. Zu ihnen gehörte mit Sicherheit Maria aus dem galiläischen Fischerort Magdala, die von Jesus von einer schweren Krankheit geheilt worden war (Lk 8,2).
Endete der Karfreitag also wie ein großes Rätsel und war damit scheinbar alles zu Ende, so brach nicht lange nach dem Tod Jesu am Kreuz und der Flucht der Jünger nach Galiläa unverhofft ein neuer Frühling an. Wann genau sich das abgespielt hat, werden wir nie wissen. Aber nicht lange nach dem Todesfreitag sah Petrus in einer Vision Jesus lebendig, und dieses Geschehen führte zu einer Kettenreaktion.20 Hatte Petrus Jesus gesehen und gehört, so war damit der Inhalt der Visionen und Auditionen der anderen vorgegeben. Die Kunde verbreitete sich blitzartig, dass Gott Jesus nicht im Tod gelassen, ja, ihn zu sich erhöht hatte und dass dieser demnächst als Menschensohn auf den Wolken des Himmels wiederkommen werde.
Damit war eine neue Lage geschaffen, und die Jesusbewegung erlebte einen schwungvollen Neuanfang. Jetzt konnten Jesu Freunde noch einmal nach Jerusalem gehen und dort anknüpfen, wo ihr Meister das Werk unvollendet gelassen hatte, und das Volk sowie seine Oberen zur Umkehr rufen.
Vielleicht verstand man die Gegenwart als allerletzte Bußfrist, die Gott gegeben hatte. Der von Jesus selbst ins Leben gerufene Zwölferkreis (Mt 19,28)21 wurde von Petrus mitgerissen und sah ebenfalls Jesus (1Kor 15,5). Und wohl an dem Wochenfest (= Pfingsten), das auf das Todespassah folgte, ereignete sich jene Erscheinung auf einmal vor einer größeren Menge von Menschen, die man mit mehr als 500 angab (1Kor 15,6).
Auch Frauen waren jetzt unter denen, die Jesus sahen. Ja, auf gegnerische Einwände von jüdischer Seite und Fragen nach dem Verbleib des Leichnams Jesu hin wusste man alsbald zu berichten, dass Frauen das Grab leer gefunden hätten, und später, dass Jesus den Frauen am Grab sogar erschienen sei.22
Die Dynamik des Anfangs23 müssen wir uns hochexplosiv vorstellen, um so mehr, wenn eine ekstatische Disposition der von Jesus Zurückgelassenen mit zu berücksichtigen ist (C. Colpe). Am Anfang stand nicht, wie noch Ernst Haenchen in seinem einflussreichen Kommentar zur Apostelgeschichte gemeint hatte, ein pietistisch angehauchter Quietismus24, sondern eine umwerfende Erfahrung, die von Lukas25 eher noch domestiziert worden ist. Es blieb daher auch nicht aus, dass die leiblichen Brüder Jesu in den Strudel mit hineingerissen wurden, nach Jerusalem gingen und Jakobus sogar eine Einzelvision empfing (1Kor 15,7) – jener Jakobus, der zu Lebzeiten Jesu von seinem Bruder nicht viel gehalten hatte (Mk 3,20 f).
Für die genannten Vorgänge ist kaum mehr als ein Jahr anzusetzen. Vieles lief dabei nebeneinander her. Neben der Erfahrung des »Auferstandenen« in Visionen und Auditionen sind folgende Elemente der Entwicklung historisch fassbar:
1. Im Brotbrechen der versammelten Gemeinde wurde alsbald die Gemeinschaft mit dem hingerichteten, nun aber lebendigen Messias Jesus gegenwärtig.
2. Die Erinnerung an Jesu Wirken und sein Wort war unmittelbar gegenwärtig.
3. Die Naherwartung Jesu wurde ungebrochen übernommen, und an die Stelle des von Jesus vorausgesagten neuen Tempels trat die Gemeinde als Tempel, die von den Aposteln als Säulen getragen wurde.
4. Bestimmte Psalmen, wie z. B. Ps 110, wurden recht bald auf den erhöhten Messias-Menschensohn Jesus bezogen.
Ein neues Stadium erreichte die Bewegung, als sich ihr in Jerusalem griechischsprachige Juden anschlossen.26 Das mag bereits an jenem auf das Todespassah folgenden Wochenfest (= Pfingsten) gewesen sein, als sie aus aller Herren Länder in Jerusalem anwesend waren und von Jesus hörten. Auch auf sie wirkte das Tempelwort Jesu elektrisierend, nun aber so, dass daraus eine Gesetzeskritik floss (Apg 6,13). Aus Jerusalem hinausgedrängt, verbreiteten sie die Jesusbotschaft in den Gegenden außerhalb Jerusalems und lenkten die Aufmerksamkeit des Pharisäers Saulus auf sich. Dieser schritt zur Tat, unterdrückte die neue Predigt, bis er ebenfalls von Jesus überwunden wurde, ihn sah und hörte.
Mit diesem Ereignis scheint ein Schlusspunkt des ältesten Osterglaubens erreicht. Ja, für die Jerusalemer Urgemeinde lag die Erscheinung Jesu vor Paulus eigentlich bereits außerhalb der Zeit der Osterereignisse. Die Tradition in 1Kor 15,7 sagt ausdrücklich, Christus sei allen Aposteln erschienen. Wenn Paulus trotzdem eine Christuserscheinung empfangen zu haben behauptet, sich dann aber im Vergleich mit den Uraposteln als »Fehlgeburt«. (1Kor 15,8) bezeichnet, bekräftigt er diese Sicht der Urgemeinde.27
Ekstatische Erfahrungen im Rahmen einer Christusschau kamen in Jerusalem auch noch später vor und setzten sich bei Paulus fort. So berichtet Lukas in Apg 7,55 – 56 unter Benutzung einer sicher auf einen geschichtlichen Kern zurückgehende Tradition (V. 56) von Stephanus28:
»Voll von heiligem Geist blickte er zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und sprach: ›Siehe, ich sehe die Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen‹.«29
Und Paulus gibt in 2Kor 12,2 – 4 zum Thema »Schauungen und Offenbarungen«, provoziert durch gegnerische Anwürfe, den Eigenbericht einer Entrückung bzw. einer Himmelsreise:
(2) »Ich kenne einen Menschen in Christus vor 14 Jahren – entweder im Leib, ich weiß es nicht, oder außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht, Gott weiß es, dass dieser bis zum drittten Himmel entrückt wurde.
(3) Ich kenne diesen Menschen – entweder im Leib oder außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht, Gott weiß es, (4) dass er in das Paradies entrückt wurde.«
Indes gewannen diese Erlebnisse nicht die normative Bedeutung wie die zuvor genannten.
Die erste gemeinsame Erfahrung der Menge in Jerusalem, die mit der Erscheinung Jesu vor den mehr als 500 (1Kor 15,6) identisch sein dürfte, hatte ja eine Art initiatorischen Charakter und steht in ihrer Bedeutung mit der ersten Vision des Petrus in Galiläa auf einer Stufe. So wie nur in dieser die eigentliche Berufung des Petrus erfolgte, so war auch das Pfingstereignis konstitutiv für die Bildung einer neuen Gruppe innerhalb der Jerusalemer Juden. Es verlieh der Jesusgemeinde einen Kraftschub und veränderte ihre Lage gegenüber der vor der Hinrichtung Jesu grundlegend.
Erste Institutionalisierungen und Parteiungen30
Bereits auf die von Petrus in Galiläa betriebene Wiederherstellung des Zwölferkreises treffen die Merkmale einer Institutionalisierung zu, doch hatte diese offenbar einen eschatologisch-symbolischen Charakter und war ganz vom Enthusiasmus geprägt. Denn »sinnvoll war sie nur, wenn wie bei Jesus 12 Stämme Israels bei Anbruch der Gottesherrschaft voll repräsentiert sein sollten«31, was ja eine fast rauschhafte Naherwartung voraussetzte. Hingegen ergab sich nach dem Abflauen der Pfingsterfahrung die Notwendigkeit eines größeren Realitätsbezugs, das Leben ging weiter.
Die nun folgenden Institutionalisierungen waren an einem Weiterbestehen des gegenwärtigen Äons orientiert – nicht an seinem Ende –, wobei Einzelelemente der Lehre und Erwartung Jesu aufgenommen und produktiv weiterentwickelt wurden.32
Die erste und bedeutendste Institutionalisierung neuen Charakters bestand in der Einführung der Taufe33, die von Anfang an zur Vergebung der Sünden geschah und mit der die Verleihung des heiligen Geistes per Handauflegung verbunden war. Der eigentliche Grund für diese Handlung dürfte die schlichte Tatsache der Taufe Jesu durch Johannes (»zur Vergebung der Sünden«34) gewesen sein. Als dann Jesus zum Mittelpunkt des neuen Kultes geworden war, entstand wohl die Meinung, er habe auch selbst getauft (vgl. Joh 3,26 [»(Jesus) tauft und alle kommen zu ihm«]), die aber sofort korrigiert wird (vgl. Joh 4,2 [»Jesus taufte nicht selber, sondern seine Jünger«]).
Die zweite gleichermaßen bedeutende Institutionalisierung war die des »Herrentages«. (so wörtlich in Apk 1,10), an dem das Herrenmahl gefeiert wurde. Der »Herrentag« war der Tag nach dem Sabbat, an dem Jesus nach urchristlichem Glauben von den Toten auferweckt worden war (1Kor 15,4b). Wahrscheinlich hielt die junge Gemeinde zusammen mit den Juden auch den Sabbattag, doch streicht die ebenfalls allwöchentlich begangene Feier des Herrenmahls am Sonntag ihre Identität schon stark heraus.
Eine dritte Institutionalisierung wird zuweilen in der Apg 6,1 ff geschilderten Witwenversorgung als Diakonat bzw. als Tischdienst gesehen.35 Doch fällt eine Zustimmung zu dieser These schwer, weil Lukas in Apg 6 mit der Witwenversorgung offensichtlich einen anderen Konflikt überspielt.36. Gleichwohl dürften die Sieben (ebenso wie die Zwölf) eine institutionelle Aufgabe gehabt haben. Vielleicht sind die Sieben Kontrastbildung zu den Zwölf, den bisherigen Repräsentanten des Zwölf-Stämme-Volkes. Nur wissen wir damit noch nichts über ihre Funktion.37
In jedem Fall deuten die Sieben auf eine Parteiung hin. Denn die sieben Männer (Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas, Nikolaos) tragen alle griechische Namen. Sie waren offensichtlich Vertreter einer von den aramäisch sprechenden Jesusnachfolgern zu unterscheidenden griechischsprachigen Gemeinde in Jerusalem, die sich aus Juden der Diaspora rekrutierte und die, wie Apg 6 – 7 berichtete, in freierer Weise als die »Hebräer« unter Berufung auf Jesus (Apg 6,13 f) Gesetzeskritik übten.38
So bleibt festzuhalten, dass nahezu von Beginn an zwei unterschiedliche Arten von Christentum in der heiligen Stadt versammelt sind, die eine aramäischsprachig und an jüdischen Sitten festhaltend, die andere griechischsprachig mit latent antinomistischer Tendenz. Pluralität steht also am Anfang der Urgemeinde, die viele der später ausgebrochenen Gegensätze bereits in sich barg. Aber zunächst hielt man noch zusammen.
Die geschichtliche Entwicklung:
Von den Anfängen bis zum Apostelkonzil
Als erste Phase ist die eschatologische Sammlung unter der Leitung des Petrus anzusprechen. Während dieser Zeit wird die griechischsprachige Fraktion des Christentums, die Hellenisten, gewaltsam aus Jerusalem gedrängt und Stephanus, einer der Sieben, in einem Tumult zu Tode gebracht (Apg 7,58). Die Akteure hierbei waren im Gegensatz zum Prozess gegen Jesus, in dem die Römer einschritten, Jerusalemer Juden, die Stephanus steinigten. Die andere Fraktion des Christentums verblieb unbehelligt in der jüdischen Metropole. »Die eschatologische Institutionalisierung war das Werk des Petrus … Er leitete die Versammlung für Gott und war insofern dessen theokratischer Repräsentant. Als solcher konnte er nur ein einziger sein.«39 Es ist kein Zufall, dass Paulus ihn alsbald (drei Jahre) nach seiner Bekehrung aufgesucht hat, um ihn kennenzulernen (Gal 1,18).
In der Folgezeit bildeten zwei andere Männer, Jakobus und Johannes (die Söhne des Zebedäus), zusammen mit Petrus ein Leitungsgremium und erhielten den Ehrennamen »die Säulen«. Sie waren zusammen mit Petrus zu Jesu Lebzeiten dessen engste Vertraute gewesen.40 Als der Zebedaide Jakobus Opfer einer Verfolgung wurde (Apg 12,1 f), trat sein Namensvetter Jakobus, der Bruder Jesu, an seine Stelle, dies wohl nicht in erster Linie aufgrund seiner Jüngerschaft, sondern vor allem wegen Familienzugehörigkeit.41 Paulus hatte jedenfalls 14 Jahre danach bei seinem zweiten Besuch in Jerusalem (Gal 2,1) mit einem Leitungsgremium zu tun, das sich aus diesem zweiten Jakobus, dem Petrus sowie dem anderen Zebedaiden Johannes zusammensetzte (Gal 2,9).
Inzwischen waren die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten nicht untätig geblieben. Sie verbreiteten den neuen Glauben im Umkreis von Jerusalem und bis hin nach Damaskus, Antiochien und Phönizien (Apg 11,19 – 22). Ihre geisterfüllte Predigt (Apg 6,10) schloss nun auch Heiden nicht mehr aus, ja beide, Juden- wie Heidenchristen bildeten bald eine Gemeinschaft.
In Antiochien empfing die merkwürdige neue Sekte aus Juden und Nichtjuden von Außenstehenden den fortan geltenden Namen: Ihre Mitglieder wurden »Christianer« genannt (Apg 11,26). Dies geht nicht etwa auf das Programm der betreffenden Gruppe zurück, sondern ist eine Fremdbezeichnung durch politische Behörden, die etwas auf einen Begriff bringen, oder durch konkurrierende Gruppen, die sich damit abgrenzen.42 Dieser Name wurde von den Christen recht bald übernommen, weil er deren Anliegen treffend wiedergab. Bereits zwei Generationen später kann Bischof Ignatius aus demselben Antiochien, in dem diese Fremdbezeichnung aufgekommen war, wie selbstverständlich vom »Christianismos« sprechen und triumphierend ausrufen: »Das Christentum ist nicht zum Glauben an das Judentum gekommen, sondern das Judentum (zum Glauben) an das Christentum«. (IgnMagn 10,3 u.ö.).
Die Jerusalemer Gemeinde dürfte die Entwicklung in Antiochien mit großer Skepsis und Sorge beobachtet haben. Wohnte sie selbst am Vorort des Heils, Jerusalem, und sah sie sich selbst als die Gemeinde an, die auf den Säulen Petrus, Jakobus und Johannes ruhte und von der es allenfalls einige Ableger außerhalb Jerusalems geben durfte, so wurde man in Antiochien eines neuen Kirchentyps gewahr. Dieser war nicht auf Petrus und den anderen Säulen, sondern auf Christus selbst gegründet und baute in der Praxis die Schranken zwischen Juden und Heiden ausdrücklich ab. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Schilderung, die Paulus in Gal 2,12 vom gemeinsamen Essen von Juden- und Heidenchristen gibt (dazu weiter unten S. 74 f).
Ein anderes Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Kirchentypen betrifft den Aposteltitel. Ist er nach Jerusalemer Verständnis als Erscheinungsapostolat an Jerusalem gebunden und chronologisch begrenzt, so kann die antiochenische Gemeinde ihn für ihre Abgesandten gebrauchen und kennt offenbar keinerlei zeitliche Einschränkungen (vgl. Apg 14,4.14; Did 11,4). Hier ist er ein pneumatisch-charismatischer Wanderapostolat.
Idealtypisch geurteilt, liegen in Jerusalem und Antiochien also zwei verschiedene Kirchentypen vor43, allerdings nur idealtypisch, denn in der historischen Wirklichkeit realisieren sich Idealtypen nur bis zu einem gewissen Grad, und Paulus, aus dessen Schrifttum die obige Charakteristik weitgehend gewonnen wurde, ist im Hinblick auf das Kirchenverständnis nicht frei von widersprüchlichen Zügen. Er trieb die Unabhängigkeit seines Kirchenverständnisses nicht auf die Spitze und konnte gelegentlich auch so verstanden werden, dass Jerusalem in der Tat der Mittelpunkt der Christenheit sei.44 Eine ähnliche Kombination von Vorstellungen findet sich in dem Verständnis seines Apostelamtes. Behauptet er einmal, es entspreche dem Jerusalemer Erscheinungsapostolat (1Kor 15,8), so ist Paulus doch faktisch Wanderapostel.45
Konflikte waren angesichts der auseinanderdriftenden christlichen Gruppen der Frühzeit vorprogrammiert. Für die in Jerusalem verbleibende aramäisch-sprachige Gemeinde war die Thora nach wie vor gültig. Wer sich – ob Jude oder Heide – im Namen Jesu taufen ließ, hatte noch längst nicht den Freibrief, sich vom Gesetz zu dispensieren. Jesus war nämlich gekommen, das Gesetz zu erfüllen – nicht zu zerstören (Mt 5,17).
Ein Versuch, diese Krise zu meistern, ist das sog. Apostelkonzil, von dem Paulus in Gal 2 und Lukas in Apg 15 berichten. Wir halten uns an den Bericht des Paulus, der ja selbst maßgeblich am Krisenmanagement beteiligt war.46
Hier steht die Forderung zur Debatte, ob Heidenchristen beschnitten werden sollten, um Mitglieder der christlichen Gemeinde werden zu können (Gal 2,3). Sie richtet sich gegen die Praxis, Heiden ohne Beschneidung in die Gemeinde aufzunehmen, und wurde nicht erst zur Zeit des Konzils erhoben, sondern bereits vorher, und zwar in der Gemeinde Antiochiens, in die sich die von Paulus so titulierten »falschen Brüder« eingeschlichen hatten, um die Freiheit der dortigen Christen »auszukundschaften«.47