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Darauf zieht Paulus mit Barnabas nach Jerusalem und nimmt in einem provokativen Akt auch den Heidenchristen Titus mit, um auf diese Weise grundsätzlich die Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner eigenen gesetzesfreien Praxis zu erlangen.
Aus dem paulinischen Bericht im Gal lassen sich zwei Verhandlungsgänge voneinander unterscheiden: Einer findet im Rahmen einer Gemeindeversammlung (Gal 2,2a), der andere mit den »Säulen« im kleinen Kreise statt (Gal 2,2b.6 ff). Das zeitliche Verhältnis der Unterredungen ist unklar.
Nach zähen Unterredungen und erregten Auseinandersetzungen, die spätestens in den Streitereien zum Zeitpunkt des Gal wieder aufgeflammt sind, kann Paulus den »Säulen« die Zustimmung abringen, dass die Heidenchristen nicht beschnitten werden müssen. Der Begleiter des Paulus, der Grieche Titus, wird jedenfalls nicht zur Beschneidung gezwungen (Gal 2,3; vgl. 2,14; 6,12).48 Gleichwohl war die Zustimmung hart umkämpft, ja, man wird sogar annehmen müssen: Die »falschen Brüder« hatten bei ihrer Forderung der Beschneidung des Titus wenigstens anfangs einen erheblichen Rückhalt in der Jerusalemer Gemeinde und weiterhin wohl auch die »Säulen« zumindest teilweise auf ihrer Seite.
Trotzdem – Paulus hatte die grundsätzliche Zustimmung der Jerusalemer Gemeinde zu seiner beschneidungsfreien49 Heidenmission erhalten. Der Grund für die mit einem feierlichen Handschlag besiegelte Einigung war offensichtlich ihr Erfolg, vor dem die Jerusalemer die Augen nicht verschließen konnten, und weiterhin die Bereitschaft der heidenchristlichen Gemeinden bzw. ihrer Vertreter, Paulus und Barnabas, die Einigung mit einer Geldgabe zu besiegeln.
Die Jerusalemer nahmen wohl eine zwiespältige Haltung gegenüber Paulus ein: Einerseits war sein Tun natürlich unzureichend, da die von ihm Bekehrten die Thora nicht hielten, und sogar gefährlich, da ihr Beispiel Juden andauernd zur Übertretung des Gesetzes anreizte. Andererseits war es besser als gar nichts, da Christus gepredigt und Zentren gegründet wurden, in denen die Arbeit durch Abgesandte aus Jerusalem fortgesetzt werden konnte. Die Richtigkeit solcher Betrachtungen vorausgesetzt, war die großzügige Geste des Paulus vielleicht der Punkt, der sie – zumindest für den Augenblick – für die seltsame Nachgeburt aus Tarsus einnahm, dies um so mehr, wenn sie aus der Spende gewisse Rechtsforderungen ableiten konnten. Zwar ist Paulus in seinem Bericht über die Konferenz in dieser Hinsicht zurückhaltend. Er versichert: »Mir haben die in Ansehen Stehenden nichts zusätzlich auferlegt«. (Gal 2,6). Dann aber folgt doch noch eine Zusatzklausel: »Nur sollten wir der Armen fürsorgend50 gedenken, was zu tun ich mich bemüht habe«. (Gal 2,10). »Deshalb ist die wichtigste Bestimmung des Konvents die unscheinbarste: die Sammlung für die jerusalemische Gemeinde; und die ferneren Bemühungen des Paulus für diese Kollekte gehören zum Wichtigsten seiner Tätigkeit.«51
Um das Verständnis der Kollekte ist in der Forschung lange gerätselt worden. Eine Richtung versteht sie in Analogie zur Tempelsteuer52, eine andere verweist darauf, dass mit ihr die Verheißung der Völkerwallfahrt in Erfüllung gehe.53 Schließlich wurde behauptet, die Kollekte sei in Jerusalem auferlegt und in den paulinischen Gemeinden gesammelt worden, damit diese »den traditionellen Status der Gruppe der ›Gottesfürchtigen‹ einnehmen können.«54 Da Primärquellen für die Sicht der Jerusalemer Gemeinde nicht vorhanden sind, bleiben das alles nur Vermutungen.
Eines scheint freilich sicher zu sein: Die Jerusalemer Verhandlungspartner und Paulus haben die Kollekte verschieden aufgefasst55, oder, vorsichtiger gesagt, die Vereinbarung erlaubte ihnen, die Kollekte unterschiedlich zu interpretieren. Dabei hat die Jerusalemer Gemeinde mit großer Wahrscheinlichkeit Rechtsforderungen aus der »Vereinbarung« abgeleitet56, Paulus aber den rechtlichen Charakter der ständigen Unterstützung z. T. verschleiert. Man vgl. Röm 15,25f: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen. Denn die in Makedonien und Achaia haben freiwillig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem.« Doch an anderen Stellen kommt zum Ausdruck, dass »Arme«57 ebenso wie »Auserwählte«. (Röm 8,33; Kol 3,12) und »Heilige« Ehrennamen der Jerusalemer Gemeinde waren.58. Es bleibt auffällig, wie viele verschiedene Ausdrücke Paulus für die Kollekte benutzt: logeia, charis, koinonia, eulogia. Dies zeigt die Dehnbarkeit der gemeinten Sache an.
Jedenfalls blieben zwischen Paulus und den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, denen er eine Einigung abringen konnte, auch während der Konferenz erhebliche Spannungen bestehen. Gleichzeitig gehörten die »falschen Brüder« trotz des Konkordats mit dem Heidenapostel natürlich weiterhin der Gemeinde in Jerusalem an und werden die Vereinbarung nach Kräften bekämpft haben. Ihre offene Feindschaft gegen Paulus ist jedenfalls als maßgeblicher Faktor auf dem Konzil und in der Folgezeit vorauszusetzen, in der die Jerusalemer Kirche unter der Führung des Jakobus aktiv in die paulinischen Gemeinden eingriff.
Falls diese Überlegungen von der historischen Wahrheit nicht allzu weit entfernt sind, sollte man auch annehmen dürfen, dass die »falschen Brüder« trotz der Niederlage in der Beschneidungsfrage von indirektem Einfluss auf die Einzelheiten des Verhandlungsergebnisses gewesen sind. Diese Annahme wird bestätigt durch eine genaue Betrachtung der einen rechtlichen Charakter aufweisenden Einigungsformel Gal 2,9: »Wir zu den Heiden, sie … zu den Juden.«
Das Missionsfeld wird aufgeteilt. Die Heidenmission ist fortan Aufgabe des Paulus und des Barnabas, die Judenmission die der Jerusalemer Jakobus, Kephas, Johannes. Die Wendungen »zu den Heiden« bzw. »zu den Juden« lassen vom Wortlaut her nur ein exklusives Verständnis der in ihnen ins Auge gefassten Bezugsgruppen zu. Daraus ist dann zu entnehmen, dass jeweils nur Heiden bzw. ausschließlich Juden Zielgruppen der Mission sind. Das hat dann aber auch zur Konsequenz: Der Einigungsvertrag der Apostel war zugleich ein Scheidungsvertrag der beiderseitigen Kirchen, der gesetzestreuen und der gesetzesfreien.
Die obige Einigungsformel sicherte zwar Paulus das uneingeschränkte Recht der Heidenmission zu. Aber gleichzeitig konnte sie auch dazu benutzt werden, um eine Mission an Heiden und Juden rückgängig zu machen. Die Regelung schloss daher nicht aus, dass in Zukunft Juden, die gesetzeslos in einer heidenchristlichen Gemeinde lebten, auf das Halten des jüdischen Gesetzes verpflichtet werden konnten. Wir beobachten hier den Vorgang, dass ein zu starker Wille zur Einigung, die fast um jeden Preis geschieht und daher eigentlich nichts taugt, die entgegengesetzten Kräfte, die den Konflikt erst ausgelöst haben, wieder neu belebt.
Dafür liefert ein weiterer Vorgang, von dem wir einen Augenzeugenbericht besitzen, reichhaltiges Anschauungsmaterial.59
In der neugegründeten Gemeinde Antiochiens hielten geborene Juden(christen) mit Heiden(christen) regelmäßig Tischgemeinschaft. Daran hatte Paulus, als er in Antiochien anwesend war, teilgenommen, und ebenso Petrus. Als »einige von Jakobus«, d. h. von ihm abgesandte Boten, in Antiochien ankamen, änderte sich das schlagartig. Petrus, Barnabas und die anderen anwesenden Juden(christen) ziehen sich aus Furcht vor den »Beschneidungsleuten« zurück und erregen damit den Zorn des Paulus, nach dessen Meinung Petrus damit die alleingelassenen Heiden(christen) zwinge, sich beschneiden zu lassen, um die Tischgemeinschaft zwischen Juden(christen) und Heiden(christen) wiederherzustellen. Ja, Paulus spitzt die Situation noch dadurch zu, dass er sagt, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14).
Wie »heidnisch« hatten die dort anwesenden Gemeindeglieder wirklich gelebt? War etwa Schweine-, Esel- oder Hasenbraten auf den Tisch gekommen?60 Trank man gar heidnischen Wein, der den Göttern geweiht worden war? Ging es um Speisen, für die man nicht den Zehnten abgeliefert hatte?61 Oder hatte man Fleisch gegessen, das ursprünglich den Göttern geopfert worden war? Diese Fragen stellen heißt einerseits, vor Augen zu führen, wie wenig wir über den Zwischenfall in Antiochien eigentlich wissen. Andererseits ist aus 1Kor 8 – 10 bekannt, wie Paulus sich zum Götzenopferfleisch verhielt. Im allgemeinen hatte er keine Bedenken, es zu essen (1Kor 10,25 – 27). Falls aber jemand auf die Herkunft des Fleisches hinweisen würde, gab er den Rat, auf dessen Verzehr zu verzichten – dies um der Gemeindeglieder willen, die schwach im Glauben waren (1Kor 10,28 f). Hatte also Paulus für seine eigene Person eine große Freiheit gegenüber Götzenopferfleisch, so traf das für Barnabas und die übrigen Judenchristen nicht zu, andernfalls hätten sie sich nicht so schnell in Antiochien zurückgezogen.
Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass die oben genannten extremen Möglichkeiten zutrafen. Vielmehr wird ein Mindestmaß an Thora eingehalten worden sein; nur Jakobus selbst drang auf eine strikte Einhaltung und hatte dafür gute Gründe, weil nämlich die Judenchristen in Jerusalem nicht noch mehr kompromittiert werden sollten. M. a. W., auch hier findet er eine Trennung besser – ebenso wie beim Jerusalemer Konzil.62
Paulus sah im Verhalten des Petrus ein falsches Verständnis der Gerechtigkeit vor Gott, in der er mit ihm doch einig gewesen war (Gal 2,15 - 16), übertreibt dann aber, wie erwähnt, mit seiner Bemerkung, Petrus habe vorher heidnisch gelebt (Gal 2,14). Indes stellte sich sofort die allgemeine Frage, wieviel Wert das Gesetz für die junge Kirche überhaupt noch haben sollte. Immerhin war der vorher und später erhobene Vorwurf gegen Paulus nicht von der Hand zu weisen, dass er mit solcher Schwarz-weiß-Malerei, die in einem Entweder-Oder gipfelte, dem jüdischen Gesetz den entscheidenden Stoß versetzt hatte, auch wenn er das Gegenteil behauptete.
Die geschichtliche Entwicklung (Fortsetzung):
Vom Apostelkonzil bis zur Ablehnung der paulinischen Kollekte und der Hinrichtung des Jakobus
In der Zeit zwischen dem Konzilsbesuch und der letzten Jerusalemreise des Paulus nahm die dortige Gemeinde unter der Führung des Jakobus zunehmend eine paulusfeindliche Haltung ein, ja, sie stilisierte Paulus förmlich zum Ketzer. Das findet eine Reaktion in der zunehmenden Bitterkeit des Paulus gegenüber Jerusalemer Sendlingen. Er hatte die Judaisten in Galatien konditional verflucht (Gal 1,6 ff) und sich ähnlich zu den Eindringlingen Jerusalemer Provenienz in Philippi geäußert (Phil 3,2 ff). (Im nächsten Kapitel werden wir die Geschichte dieser Paulusfeindschaft weiter verfolgen.) Der Bericht der Apostelgeschichte (Kap. 21) bestätigt die Paulusgegnerschaft der Jerusalemer Gemeinde weiter.
Paulus bemühte sich zwischen dem zweiten und dritten Jerusalembesuch, der Zusatzformel des Jerusalemer Konkordats zu genügen und in seinen Gemeinden eine Kollekte zugunsten der Armen in Jerusalem einzusammeln. Den ursprünglich gefassten Plan, Abgesandte mit dieser Kollekte nach Jerusalem zu schicken (vgl. 1Kor 16,3: »Wenn ich also [sc. zu euch nach Korinth] gekommen bin, will ich die, die ihr für bewährt haltet, mit Briefen senden, damit sie eure Gabe nach Jerusalem bringen«), ließ er fallen und plante, die Kollekte selbst nach Jerusalem zu bringen (Röm 15,25: »Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen«), – das hatte er freilich bereits vorher als Möglichkeit erwogen (1Kor 16,4: »Wenn es aber die Mühe lohnt, dass ich auch [nach Jerusalem] hinreise, sollen sie [sc. die Abgesandten der Gemeinde] mit mir reisen«). Diese Änderung in der (seit 2Kor 9,4 absehbaren) Strategie lässt sich wohl nur so erklären, dass Paulus der judenchristlichen Gegnerschaft vor Ort entgegentreten wollte.
Die Kollekte kristallisierte sich förmlich zu einem Symbol der Einheit der Kirche aus Heiden- und Judenchristen, an dessen Ausgang sich ihre Zukunft entscheiden würde. An der Gemeinschaft von Heidenchristen und Judenchristen war Paulus alles gelegen. Gerade deswegen musste er entsprechend dem vor wenigen Jahren geschlossenen Vertrag die vereinbarte Kollektengabe nach Jerusalem bringen und gleichzeitig den in seinen Gemeinden durch Jerusalemer Sendlinge verursachten Streit schlichten. Das sind keine »unhaltbaren Behauptungen«, wie der bedeutende dänische Neutestamentler Johannes Munck meinte63, sondern Aussagen, die an der komplexen und widersprüchlichen Situation paulinischer Gemeinden im 1. Jh. orientiert sind.
Zwar fehlt ein eigenes Zeugnis des Paulus über den letzten Jerusalemaufenthalt, doch enthält die Berichterstattung der Apg in Kap. 21 wertvolles, altes Textmaterial, auch wenn der Wir-Bericht nur eine Augenzeugenschaft fingieren soll.64
Paulus reist mit einigen Begleitern von Milet über Cäsarea nach Jerusalem. Er erhält in Cäsarea gastliche Aufnahme beim Hellenisten Philippus und in Jerusalem beim Hellenisten Mnason (Apg 21,16). In der Jerusalemer Gemeinde, die gesetzestreu lebt und der Jakobus vorsteht, ist seine Person höchst umstritten, denn Gerüchte kursieren: Paulus sei antinomistisch und wende sich gegen die Beschneidung von jüdischen Knaben. Jakobus sagt daher zu Paulus: (Viele Tausende von Gläubiggewordenen unter den Juden) »haben über dich erfahren, du lehrtest alle Juden, die unter den Heiden sind, den Abfall von Moses, indem du sagtest, sie sollten ihre Kinder nicht beschneiden und nicht nach (jüdischen) Bräuchen leben«. (Apg 21,21). Paulus tritt dem durch die Übernahme der Auslösung von vier Nasiräern entgegen (Apg 21,26). Ein solcher Akt, der im Judentum als frommes Werk galt, bestand aus einer Geldspende an den Tempel, womit das Ende des Gelübdes der Nasiräer bezeichnet wird. Er selbst geht daher in den Tempel, um sich als einer, der unter Heiden gewesen ist, entsühnen zu lassen.
Man hat gefragt, ob der auf der Grundlage der Tradition der Apg gewonnene Erzählablauf überhaupt Anspruch auf historische Wahrscheinlichkeit haben kann. Das ist nachdrücklich zu bejahen, da andere Quellen die Bestandteile der herausgeschälten Tradition bestätigen:
a) Durch andere Quellen65 wird die Führungsstellung des Jakobus und der nomistische Charakter der Gemeinde in den fünfziger Jahren des 1. Jh.s bekräftigt.
b) Die Beteiligung des Apostels an einem Kultakt ist wegen des Freiheitsverständnisses des Paulus gut denkbar. So schreibt er verallgemeinernd 1Kor 9,19 – 21:
(19) »Denn obwohl ich allen gegenüber frei bin, habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, damit ich immer mehr gewänne. (20) Und ich bin den Juden wie ein Jude geworden, damit ich Juden gewänne; denen, die unter dem Gesetz stehen, als ob ich unter dem Gesetz stände …; (21) denen, die ohne Gesetz sind, als ob ich ohne Gesetz wäre …«
c) Dass der Apostel bei einem Hellenisten Unterkunft fand, ist wegen der früheren engen Beziehung des Paulus zu den Hellenistenkreisen wahrscheinlich. Er ist ja von diesen Gruppen, die er einst verfolgte, im Christentum unterwiesen worden.
d) Schließlich dürfte, wie bereits erwähnt, der Apg 21,21 ausgesprochene Vorwurf gegen den Apostel historisch sein und zutreffend die Vorbehalte Jerusalemer Christen gegen Paulus wiedergeben. Er lautet: Paulus »lehrt alle Juden, die unter den Heiden wohnen, den Abfall von Mose« und sage, »sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden und auch nicht nach den (jüdischen) Bräuchen leben«.
Ein solcher Vorwurf kommt im Verhältnis zu dem, was in der Apg von Paulus berichtet wird, überraschend. Lukas hatte Paulus als praktizierenden Juden beschrieben, der z. B. Timotheus beschnitt (Apg 16,2 f) und sich später als gesetzestreuen Pharisäer hinstellte (Apg 23,1 – 9). Deswegen geht der genannte Vorwurf sicherlich auf eine vorlukanische Überlieferung zurück.
Historisch hatte er einen Anhalt in dem, was in paulinischen Gemeinden wirklich vor sich ging. Zwar predigte Paulus in Übereinstimmung mit den Absprachen auf dem Konzil und entsprechend seiner Berufung vornehmlich den Heiden das Evangelium. Auch findet sich in keinem seiner erhaltenen Briefe eine Aussage, wie sie ihm Apg 21,21 unterstellt wird. Doch erwartete der Apostel von geborenen Juden im Umgang mit Heidenchristen zumindest teilweise die Nichtbeachtung von Speisegesetzen (vgl. Gal 2,11 ff) und schärfte in seinen Briefen mehrfach die Gleichgültigkeit des Gesetzes gegenüber der neuen Schöpfung in Christus ein. Ein Lehrsatz, der schnell zu einer Kampfesformel werden konnte, lautete z. B.:
»Beschnittensein ist nichts, und Unbeschnittensein ist nichts,
sondern Gottes Gebote halten (sc. darauf kommt es an)«. (1Kor 7,19).
Ein anderer Spruch hatte folgenden Inhalt:
»(In) Christus gilt weder Beschneidung etwas
noch Unbeschnittenheit etwas,
sondern eine neue Kreatur«. (Gal 6,15).66
Konnte es da ausbleiben, dass geborene Juden infolge einer solchen Praxis sich vom Gesetz entfremdeten und ihre Kinder nicht mehr beschnitten?
Apg 21,21 gibt daher eine historisch zuverlässige Information über die Folgen der Predigt des Paulus sowie seiner Praxis unter Juden und über die starken Vorbehalte, um nicht zu sagen: die Feindschaft der Jerusalemer Gemeinde ihm gegenüber wieder. Zwar litt Paulus in Jerusalem für eine Sache, die nicht die seine war, nämlich die totale Loslösung des Christentums vom Judentum. Aber die Judenchristen hatten frei nach Adolf von Harnack recht: Letztlich zerstörte Paulus’ Werk die jüdischen Sitten und bereitete dem Gesetz des Moses ein Ende.
Wenn nun feststeht, dass die letzte Jerusalemreise des Apostels den alleinigen Zweck hatte, die Kollekte abzuliefern, warum steht darüber nichts in Apg 21? Dieser Befund ist um so erstaunlicher, als Apg 21 im wesentlichen historische Elemente enthält. Gerade deswegen erscheint es ausgeschlossen, dass die in Apg 21 benutzte Quelle keinen Hinweis auf die Sammlung enthielt, was die Frage provoziert: Warum tilgt Lukas jeglichen Hinweis auf die Kollekte in jenem Kapitel?
Die Dringlichkeit der Beantwortung der Frage wird erhöht, wenn sich in Apg 24,17 (Paulus in Jerusalem: »Nach vielen Jahren bin ich hergekommen, um für mein Volk Liebesgaben zu bringen und zu opfern«) eine versprengte Notiz über den Sinn der letzten Jerusalemreise des Paulus verbirgt.67 Die einzige mögliche Antwort auf die gestellte Frage kann daher nur lauten: Lukas meidet Apg 21 absichtlich das Kollektenthema, weil die von ihm benutzte Quelle von einem Scheitern ihrer Übergabe bzw. von ihrer Ablehnung berichtete. Hätte nämlich die Quelle ihre Annahme erzählt, würde Lukas diese Nachricht aufgenommen haben (an dieser Stelle!), kommt es ihm doch gerade darauf an, das gute Verhältnis zwischen Paulus und der Jerusalemer Gemeinde aufzuzeigen. Statt dessen vorverlegt er das in Kap. 21 vermiedene Kollektenthema und bringt es Apg 11,27 ff, wo er unter Verarbeitung von Einzeltraditionen eine »Modellreise« konstruiert68 und Barnabas und Paulus eine Kollekte nach Jerusalem bringen lässt. (Freilich wird selbst dort nicht explizit von einer Annahme der Sammlung berichtet!)
Nun kann man natürlich historisch versuchen, die Auslösung von vier Nasiräern mit der Kollekte in Verbindung zu bringen, und überlegen, ob nicht Paulus einen Teil des Kollektengeldes dafür verwendet haben mag.69 Aber auch in diesem Fall bleibt das Fehlen einer Erwähnung der Kollekte erklärungsbedürftig, und die These, die Kollekte sei »anscheinend gleichsam nur im Nebenzimmer und sozusagen nur flüsternd übergeben und empfangen« worden70, ist eine Verlegenheitsauskunft. Sie geht nämlich von der nicht mehr hinterfragten Voraussetzung aus, die Jerusalemer Gemeinde habe auf jeden Fall einen Bruch mit Paulus vermeiden wollen. Das aber ist doch die Frage, um so mehr, als Paulus wenige Jahre zuvor in Jerusalem nur mühsam das Blatt zu seinen Gunsten hatte wenden können.
Dieser Rückschluss auf eine Ablehnung der Kollekte71 wurde in der Forschung oftmals so nicht gezogen. Jürgen Becker schreibt: Es »muß … unter den Judenchristen in Jerusalem Leute gegeben haben, die für eine Verweigerung der Kollekte eintraten.« Er fährt sogleich einschränkend fort: »Zu diesen wird mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit nicht Jakobus gezählt haben.«72 Die Hauptbegründung dafür leuchtet jedoch nicht ein, denn in einer Konfliktsituation war es auf jeden Fall denkbar, »daß Jakobus seine Anerkennung des Heidenchristentums auf dem Apostelkonvent … durch die offizielle Verweigerung der heidenchristlichen Kollekte praktisch in Gestalt eines öffentlichen Eklats rückgängig machen konnte.«73
Aber wieso soll den Jerusalemer Judenchristen eine Kollekte nicht mehr willkommen gewesen sein, die sie einige Jahre zuvor noch akzeptiert hatten? Mehrere Gründe legen sich als Antworten nahe.
Zum einen war die Spannung zwischen Paulus und den Jerusalemern gestiegen. Der Apostel hatte Worte gegen das Gesetz geschrieben, die den Jerusalemern zu Ohren gekommen waren. Aus ihrer Mitte waren Spione in die paulinischen Gemeinden entsandt worden. Sie hatten dort Gräueltaten gegen das Gesetz beobachtet, die geborene Juden betrafen: Judenchristen beschnitten ihre Kinder nicht mehr und aßen zusammen mit Heidenchristen.
Zum anderen war die Lage in Jerusalem für die dortige Gemeinde schwieriger geworden, weil sich einflussreiche Gruppen in Jerusalem im Vorfeld des jüdischen Krieges radikalisiert hatten. Und vielleicht ist die Kollekte auf der Konferenz zunächst gar nicht gefordert, sondern erst von Paulus ins Spiel gebracht worden, um einen Verhandlungserfolg zu erzielen.
Unter den 18 Halachot (vgl. MSchab 1,4 – 9), die einige Juden vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 beschlossen hatten, befand sich auch das Verbot, von Heiden Geschenke anzunehmen.74 Man kann darin eine Entsprechung zum Verhalten der Jerusalemer Gemeinde gegenüber der Gabe der heidenchristlichen Kirchen sehen und schlussfolgern: Was einst akzeptabel war, war jetzt, mitbedingt durch Entwicklungen in Jerusalem und im paulinischen Missionsgebiet, für die Jerusalemer Gemeinde unerträglich, ja geradezu »ein vergiftetes Geschäft«75 geworden.
Paulus ahnte offenbar Böses, denn er bittet kurz vor der Reise nach Jerusalem die Römer um Beistand im Gebet, »dass ich errettet werde vor den Ungehorsamen (= Juden) in Judäa und mein Dienst (= die Kollekte) den Heiligen (= der Jerusalemer Gemeinde) willkommen sei«. (Röm 15,31). M. a. W., er kennt die Entrüstung der (ungläubigen) Juden in Jerusalem, aber auch die Verschlossenheit der dortigen Gemeinde gegenüber seiner Person und der Kollekte.
Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus über die Hinrichtung des Jakobus
Josephus, Ant XX 199 – 203:
»Der jüngere Hannas jedoch, dessen Ernennung zum Hohepriester ich soeben erwähnt habe, war von heftiger und verwegener Gemütsart und gehörte zur Partei der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt, im Gerichte härter und liebloser sind als alle anderen Juden. Streng und hart, wie er war, glaubte Hannas auch jetzt, da Festus gestorben, Albinus aber noch nicht angekommen war, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben. Er versammelte daher den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor dasselbe den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, mit Namen Jakobus, sowie noch einige andere, die er der vermeintlichen Gesetzesübertretung anklagte und zur Steinigung führen ließ. Das aber erbitterte auch die eifrigsten Beobachter des Gesetzes, und sie schickten deshalb insgeheim Abgeordnete an den König (sc. Agrippa) mit der Bitte, den Hannas schriftlich aufzufordern, daß er dergleichen nicht mehr tue. Denn es war nicht das erste Mal, daß er nicht recht gehandelt hätte.«76
Die Erzählung des jüdischen Historikers Flavius Josephus »ist ein echter Bericht des Jerusalemer Priesters und Augenzeugen und ist sicher zuverlässig, nicht eine christliche Interpolation.«77 Zum Zeitpunkt der Hinrichtung des Jakobus ca. 62 n. Chr. war Josephus Priester in Jerusalem und etwa 25 Jahre alt (Vita 12 f). Das Interesse der Erzählung betrifft den sadduzäischen Hohenpriester Hannas, der sich eine unrechtmäßige Hinrichtung zu Schulde hat kommen lassen, nicht etwa Jakobus. Auch deswegen scheidet die These einer späteren Hinzufügung durch einen Christen aus.
Josephus blickt aus Gründen des Kontrasts, indem er die Grausamkeit des Sadduzäers Hannas herausstreicht, offenbar auf einen Vorfall unter Johannes Hyrkanus zurück (Ant XIII 293 – 296), der von der Milde der Pharisäer vor Gericht Zeugnis ablegte.
Der oben zitierte Josephus-Text lässt folgende Schlüsse zu78:
1. Jakobus wurde auf Betreiben des Hohenpriesters Hannas vor dem Hohen Rat zusammen mit einigen anderen, die wohl als Judenchristen zu identifizieren sind, wegen Gesetzesübertretung zum Tod durch Steinigung verurteilt. Dies geschah zwischen dem Tod des Prokurators Festus und vor der Ankunft des neuen Prokurators, des Albinus, ungefähr im Jahr 62.