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Ich klingelte energisch. Einmal und noch ein Mal. Die kalte Luft machte mich ungeduldig. Meine dicke Jacke hatte ich leichtfertig im Auto liegenlassen. Nichts regte sich. Ich fror. Es zog mich mit aller Kraft ins Warme. Wo blieb Großmutter? Warum ließ sie mich nicht ein? Die Arme um mich schlingend, um den Körper gegen die Eisluft zu schützen, rannte ich zur Rückseite des Hauses und klopfte an Großmutters Tür. Mir schien, als vernähme ich von drinnen Laute, die ich allerdings nicht zu deuten verstand. Ich klopfte noch energischer als beim ersten Versuch; indes auch jetzt öffnete niemand. Verzweifelt und frierend drückte ich die Klinke herunter, die Tür sprang auf. Rasch schlüpfte ich in den kleinen fensterlosen Flur und lauschte angespannt. Wieder hörte ich etwas, diesmal lauter. Es klang wie ein Wimmern und in mir keimte Furcht auf.
Vor einem Jahr war Großmutter mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Nach der Operation erlernte sie in einer Rehabilitationskur das Laufen neu. Seither benutzte sie im Haus eine Gehhilfe. Musste sie längere Strecken bewältigen, bediente sie sich dazu eines leichten Rollstuhls, den sie mit ihrer eigenen Armkraft und ihrem eisernen Willen fortbewegte.
Das Wimmern hinter der Tür schürte in mir die Sorge, Großmutter könne erneut gestürzt sein und sich etwas gebrochen haben. Einen Augenblick erwog ich, unbemerkt davon zu schleichen, zu tun, als wisse ich von nichts. Ich verbot mir diese Regung. Zaghaft klopfte ich an die Wohnzimmertür und trat schließlich, ohne die Aufforderung, einzutreten, abzuwarten, ein.
Großmutter hockte in ihrem geliebten Ohrensessel. Sie krümmte sich zusammen und stöhnte laut auf, als plagten sie starke Schmerzen. Ihr Gesicht war vom Weinen aufgedunsen, ihre Augen gerötet. Meine Großmutter, die ich nur nüchtern-kühl und beinahe fühllos kannte, heulte herzzerreißend. Aus der Nase leuchteten gelbe Rotzblasen, aus ihrem Mund rannen Speichelfäden. Großmutter, die für mich bis dahin die Beherrschung in Person verkörperte, hatte sich völlig ihrem Schmerz ergeben, als wünsche sie, in diesem Schmerz aufzugehen. Sie schimpfte unflätig und ohnmächtig in einem, mit ungewohnt ordinären Kraftausdrücken in sich hinein. Meine Anwesenheit hatte sie, trotz mehrerer Versuche, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, noch immer nicht wahrgenommen.
Noch konnte ich das Zimmer auf leisen Sohlen rückwärts verlassen, so tun, als sei ich nicht hier gewesen. Es war eine immense Versuchung, die ich verspürte, denn diese ganz und gar elende Großmutter ängstigte mich weitaus mehr als die gefühllose und beherrschte, die ich bislang kannte. Mit pochendem Herzen näherte ich mich zaghaft und unsicher der alten Frau. Mit weit ausgestrecktem Arm berührte ich sachte ihre Schulter.
„Großmutter, was ist mit dir?“, erkundigte ich mich mitfühlend. Sie reagierte erst, als ich, ihre Schulter schüttelnd, die Berührung verstärkte und meine Frage laut schreiend wiederholte. Ungläubig starrte sie mich aus ihren roten Augen an. Sie hielt in ihrem Klagen inne, als habe ich einen Film angehalten und begann im nächsten Moment wie gehetzt auf mich einzureden. Ihre Worte spiegelten Aufregung, Empörung und Wut. Ich merkte es daran, dass sie in das ihr verhasste Plattdeutsch verfiel. Indes es lag nicht am Platt, dass ich kein Wort verstand. Um mich herum, in Krambzow, wurde von den Alten allenthalben Platt gesprochen. Meine Mutter pflegte und bewahrte das Platt als ein Kulturgut der Region. Sie leitete seit Jahren eine Arbeitsgemeinschaft an der Schule, in welcher sie Kindern die Alltagssprache ihrer Großeltern nahe brachte, um deren Aussterben zu verhindern. Ich verstand nicht nur Platt, ich sprach es auch recht gewandt. Dennoch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, was Großmutter von mir wollte. Die Worte vermischten sich in meinen Ohren zu einem ununterscheidbaren Wortbrei. Mein Unverständnis erwuchs aus Großmutters hart prasselndem Redefluss. Beruhigend redete ich auf Großmutter ein, versuchte ich, ihren Redefluss zu bremsen, derweil sie gebetsmühlenartig ihren Redeschwall erneut über mich ergoss. Schließlich gab ich hilflos auf und verstummte. Jetzt erst hielt auch Großmutter inne, als habe sie endlich mein Unvermögen, ihr zu folgen, registriert. Sie schnappte hektisch nach Luft wie ein Fisch, der die Wasseroberfläche durchstoßen hat.
„Kind“, fuhr sie mich herrisch an, „ick möt nach Zingst, ick möt! Bring mi sofort dor hin!“
„Aber Großmutter“, versuchte abzuwiegeln, „was willst du denn da? Du kannst doch gar nicht so weit laufen.“
„Ick möt! Begribst du denn gar nichts, du dummes Gör, ick möt!“
Sie zerrte ungeduldig an meinem Pullover, sie brüllte mich an, so dass ich erschrocken zurückwich. Der Schreck muss sich förmlich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben. Sie ließ den Pullover los. Urplötzlich verlegte sie sich vom aggressiven Fordern aufs eindringliche Betteln und Beschwören.
„Kind, ich bitte dich, bring mich hin. Ich habe mein ganzes Leben ohne Klage alles getragen, was mir zugedacht war. Ich habe nichts verlangt, nur gewartet. Wenn es für mich noch irgendetwas von Belang gibt, dann ist das Friedhelms Beerdigung. Ich muss Abschied von ihm nehmen. Alles, alles was du verlangst, ich gebe es dir. Mein Sparbuch, das deiner Mutter nach meinem Tode zugedacht ist, du sollst es haben. Ich bitte dich, bitte dich voller Demut, bitte …“
Ich spürte ganz deutlich, dass Großmutter die Worte nicht einfach so dahin sprach, um mich zu erweichen, sondern dass es ihr bitterernst damit war, dass sie das gegebene Versprechen einzulösen gedachte. Das Anliegen war ihr wichtig.
Und ein Zweites begriff ich nach und nach, etwas, das in den vielen Worten verborgen lag, etwas, das sich mir erst ganz allmählich, tröpfchenartig offenbarte: Onkel Friedhelm war tot.
Mama hatte mir bei unserem letzten Treffen berichtet, dass sie bei jedem Anruf ihrer Cousine Sabine mit dem Schlimmsten rechne, so sehr habe sich der Zustand des Onkels verschlechtert. Nun war er tot. Warum hatte Mama mir nichts davon gesagt? Wollte sie mich schonen? Innerlich empörte mich das: Was sollte diese Rücksichtnahme, um die ich nicht gebeten hatte?! Schließlich war ich kein Kind mehr!
Ehe ich noch ernsthaft darüber nachzudenken vermochte, warum meine Mutter mir den Tod meines lieben Onkels verheimlichte, setzte Großmutters eindringliches Bitten wieder ein.
Was sollte ich tun? Großmutter war eine alte Frau. Sie konnte nicht mehr gehen. Der eisige Wind würde ihr schaden, sie, eine dünne, auf unsicheren Beinen stehende Frau, mit seiner Macht womöglich umwerfen.
„Du wirst dich in der eisigen Luft erkälten“, versuchte ich sie umzustimmen.
„Na und! An irgendwas muss ich doch wohl sterben! Jetzt hat ohnehin nichts mehr Sinn. Bring mich hin, bitte. Ich biete dir das Kostbarste, das ich besitze. Ich biete dir mein Lebensgeheimnis. Ich werde es dir erzählen, nur dir und ohne Ausflüchte. Bitte, mein Kind, bring mich hin und du bekommst das Geheimnis. Ich schwöre es.“
Mit feierlicher Geste hob sie die knochige rechte Hand zum Schwur.
Großmutters Geheimnis, was mochte es bergen? Ich hatte den Köder bereits geschluckt. Meine Neugier machte mich der Bitte gegenüber gewogen. Ich brannte darauf, das Geheimnis dieser alten, unnahbaren Frau zu lüften und doch bremste mich etwas. Konnte ich die alte Frau diesem Wetter und solch einer Aufregung aussetzen? Was war, wenn sie mir in Zingst zusammenbrach?
Eine Entscheidung zu fällen, überforderte mich. Wen konnte ich um Rat bitten?
Noch ehe ich rational die Antwort fand, kramten meine Hände automatisch das Handy aus der Tasche. Ich klingelte Mama an und erwischte sie in Barth, mitten im Einkauf für unser Osterwochenende in der Ferienwohnung. Aus der Begrüßungsformel schwang ungetrübte Vorfreude zu mir herüber, Vorfreude, die mir seltsam deplatziert erschien.
So gut ich vermochte, schilderte ich meiner Mutter mit knappen Worten Großmutters Bitte. Nach wenigen Sätzen bereits merkte ich, dass etwas nicht stimmte, Mamas Art zu schweigen signalisierte mir das sehr eindringlich. Ich wusste sogleich, was nicht passte: meine Mutter kaufte ein, derweil Onkel Friedhelm beerdigt wurde.
Onkel Friedhelm war nach dem Tod von Opa Max für Mama eine Art Vaterersatz gewesen. Sein Tod bedeutete einen herben Verlust für sie. Dafür, dass Mama sorglos einkaufte, gab es nur eine einzige Erklärung: Meine Mutter wusste es ebenso wenig wie ich selbst.
Seit ein paar Wochen hatten Mama und Sabine sich darauf verständigt, dass Mama nicht mehr täglich, sondern nur noch einmal in der Woche anrufen solle, weil die Gespräche Sabines Kraft überstiegen. Sie arbeitete als OP-Schwester im Krankenhaus. Nach Feierabend pflegte sie zusammen mit ihrer Mutter den kranken Vater. Sie hatte ihm versprochen, ihn nicht wieder ins Krankenhaus zu bringen. Friedhelm wollte die letzten Tage und Wochen seines Lebens zu Hause, bei seiner Liese verbringen.
Wann mochte meine Mutter zuletzt mit Sabine geredet haben? Vor vier Tagen, bevor sie mit der Theatergruppe nach England flog?
Es muss bitter für Mama gewesen sein, die Nachricht von Friedhelms Tod auf diese Art und Weise von mir gehört zu haben. Ich merkte es an Mamas verbissener Wortkargheit.
„Mama, bist du mir böse“, fragte ich vorsichtig an.
„Nein, meine Schöne, auf dich nicht.“
Mama wartete am Friedhofstor. Weinend umarmten wir beide uns lange und fest. Erst jetzt stieg der Schmerz in mir auf, fasste mein Kopf endlich, was geschah. Ich musste mich an meiner Mutter festhalten, so weh tat mir Onkel Friedhelms Tod plötzlich. Mamas gerötete Augen verrieten mir, dass sie schon geweint hatte. Auch ihr rollten erneut Tränen über das Gesicht. Wir standen geraume Zeit, uns aneinander festhaltend und einträchtig miteinander weinend, so, als seien wir ganz allein auf der Welt.
Die Beerdigung war längst vorüber, der Friedhof lag verlassen im Dämmerlicht. Das Licht erzeugte in mir Ruhe und Melancholie, Verlassenheit und Schwermut in einem und verstärkte die Trauer um Onkel Friedhelm auf eigentümliche Weise. Die Welt um mich herum entrückte. Mir schien, als gebe es hier nur noch uns zwei, meine Mutter und mich. Großmutter hatte ich in diesem Moment ganz und gar vergessen. Stumm und geduldig wartete sie in ihrem dicken Biberpelzmantel, einen Wollschal um den Hals geschlungen, die Mütze auf dem Kopf, auf dem Beifahrersitz, bis ich mich ihrer erinnerte.
Von dem Moment ab, da sie wusste, ich würde sie nach Zingst bringen, war sie in undurchdringliches Schweigen versunken. Ihre Tränen waren versiegt, als habe sie diese nur geweint, um mich zu erweichen. Die ganze Autofahrt über hatte sie nicht ein Wort gesprochen, nur abwesend ins Weite gestarrt. Auch jetzt drängelte sie nicht, sie agierte ohne Hast, als habe sich ihr Ansinnen bereits erledigt. Sie wirkte angeschlagen und entrückt, schickte sich jedoch bereitwillig in Mamas Anordnungen. Vom Wasser her fegte der eisige Wind noch immer über das Land. Die hohen Wipfel der alten Friedhofsbäume bogen sich geschmeidig wie Tänzerinnen im Winde hin und her, obwohl sein wütende Fauchen schaurig klang. Trotz des kalten Windes fühlte ich mich an diesem Ort, in der Nähe meiner Mutter, auf wundersame Weise geborgen. Der Ort und das Licht passten zu meiner Trauer. Wir waren ganz allein auf dem Friedhof. Wir, drei Frauen einer Familie, die drei aufeinander folgenden Generationen angehörten und die wir, jede auf ihre Weise, durch Friedhelms Tod einen herben Verlust erlitten hatten. Es mag seltsam anmuten, aber irgendwie einte uns der Verlust in diesem Moment in einem Maße, wie es das Leben zuvor nicht vermocht hatte.
Mama schob Großmutter in ihrem Rollstuhl zwischen Gräberreihen hindurch zielstrebig zu einem frischen Grabhügel, den Blumen und Kränze bedeckten. Auf einem schlichten Holzkreuz prangte der Name: Friedhelm Mertens.
Großmutter beäugte das Kreuz ungläubig, als müsse ein Irrtum vorliegen. Mama und ich verharrten reglos. Wir hielten uns bei den Händen und weinten erneut stumm in uns hinein. Niemand von uns verspürte das Bedürfnis, zu reden, dem Anderen etwas mitzuteilen. Das Schweigen, welches zwischen uns herrschte, war einträchtig, bis Großmutter es durchbrach. Sie hatte auch hier, am Grabe, nicht mehr geweint. Dennoch wirkte ihre Stimme brüchig und belegt: „Lasst mich allein! Ich möchte Abschied nehmen“, verlangte sie barsch.
Der Ton ihrer Forderung missfiel mir. Darin manifestierte sich etwas Besitzergreifendes, das Großmutter in meinen Augen nicht zustand. Mir schien es beinahe so, als spräche sie mit dieser Forderung uns beiden, Mama und mir, das Recht ab, hier zu stehen und zu trauern. Auch Mama zog, ein untrügliches Zeichen ihres Unbehagens, die linke Augenbraue hoch. Sie ließ sich jedoch heute auf keine Diskussion mit ihrer Mutter ein.
„Gut, Mutter, in einer halben Stunde hole ich dich ab.“
Mama und ich zogen uns derweil in den Windschatten der Friedhofskapelle zurück, wo wir uns erneut umarmten. Mamas ganzer Körper kündete von Trauer und verhaltener Wut.
„Du bist böse, nicht wahr?“
„Ja, aber nicht auf dich.“
Sie wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte behutsam meinen Rücken und ich wusste, dass ihr Unmut wirklich nicht gegen mich gerichtet war.
Nach einer halben Stunde war Großmutter trotz des dicken Mantels völlig durchgefroren. Sie sprach kein Wort mehr. Wir brachten sie vom Friedhof aus zurück in ihre Wohnung. Auch jetzt blieb sie stumm und reglos. Widerstandslos ließ sie sich aus den Sachen schälen und legte sich wie ein erschöpftes Kind sogleich ins Bett. Starr, wie eine Puppe, lag sie auf dem weißen Kissen. Erst als ich die Schlafzimmertür hinter mir schließen wollte, rief sie mir nach: „Danke vielmals. Das werde ich dir nie vergessen.“
Ob sie Mama oder mich meinte, blieb offen; vielleicht verschmolzen wir beide in diesem Moment für sie zu einer einzigen Person.
2
Tante Annelies erwartete uns bereits unruhig. Ihr phänomenales Gedächtnis hatte trotz allen Kummers und trotz aller Aufregungen sicher gespeichert, dass wir über Ostern bei Frau Krawuttke Quartier bestellt hatten. Die Begrüßung durch die Tante fiel herzlich wie immer aus. Mich umarmte sie warm und anheimelnd; ein vertrautes Gefühl von Sicherheit und Gewogenheit stellte sich augenblicklich ein.
Tante Annelies hatte aus unserem Fehlen auf Friedhelms Beerdigung eigene Schlüsse gezogen, sie wähnte uns ahnungslos, was Onkel Friedhelms Tod betraf. Mama schilderte der Tante mit knappen Worten die Geschehnisse des Nachmittags und machte aus ihrem Unmut keinen Hehl.
„Ick hev mi dacht, dat du nich Bescheid weeßt“, resümierte die Tante ihren Eindruck vom Zusammensein der Verwandten auf dem Leichenschmaus. „Ich hevt nich wusst, ob du von England weder dor bist. Dine Moder und Grisi wollten di Nachricht geben, dat het Grisi Sabine versproken. To mi het Grisi secht, dat du noch in England bist. God, hev ich dacht, denn kummt se in de Nacht. Du wärst nich wech bleben, wenn du schon weder da wärst, du hest tu sihr an Friedhelm hangen. Na und to Hanna secht se, dat se di nicht kunnt erreichen. Ick weeß nich, ob se nich me wusst het, wat se to mi hes secht or ob se im Kopp tüdelig west ist von de ganze Schwindelei.“
Immer, wenn die Tante sehr bewegt war, verfiel sie automatisch ins Plattdeutsche, gerade so, als schlüpfe sie in einen Schutzmantel. Im Platt schien sie sich dann sicherer zu fühlen.
An diesem Abend sprachen Mama und die Tante nur Platt miteinander. Auf diese Art und Weise schien es der Tante einfacher, all das auszusprechen, was sie im Innersten bewegte. Ich saß dabei und beschränkte mich, sprachlos vor Kummer, auf das Zuhören.
Zuerst schilderte uns die Tante Onkel Friedhelms letzte Tage, die von unsäglichen Schmerzen geprägt waren, so dass sein Tod für ihn eine Erlösung bedeutet haben muss. Diese Deutung stellte für die Tante einen Trost dar, den sie benötigte, um nicht selbst ins Bodenlose zu fallen. Tante Annelies hatte ihren Mann viele Monate lang gepflegt, ohne sich selbst zu schonen. Über die Mühsal klagte sie nicht. Bei unserem letzten Besuch, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte sie Mama versichert, dass sie die Pflege gerne leiste, weil sie Friedhelm viel mehr als sie je geben könne, schulde. Ich hatte den Sinn dieser Worte, ehrlich gesagt, nicht begriffen, mich jedoch gescheut, Mama um eine Erklärung zu bitten.
Nach Monaten, in denen der Tante kaum eine Minute des Tages für sich selbst verblieb, in denen sie gehetzt von Pflichten, den Tag zu verlängern wünschte, musste ihr die Unmenge an Zeit, die ihr nunmehr gehörte, schwer anhängen. Trotzdem war nach der Beerdigung keine der beiden Töchter bei der Mutter geblieben. Das verwunderte mich.
„Ick hev de heimschickt, to ihre Familien. Ick hev doch wußt, dat ju kummt“, lautete ihre einfache und pragmatische Erklärung.
Später begriff ich, dass die Tante Hanna und Sabine nicht allein deshalb nach Hause geschickt hatte, weil sie über Wochen tagtäglich gekommen waren, um die Mutter in der Pflege ihres todkranken Vaters zu unterstützen. Sie muss sich schon länger mit dem Gedanken getragen haben, irgendwem ihre und Friedhelms Geschichte zu erzählen. Ihre Wahl war auf die Nichte gefallen.
Warum sie Mama für diese Beichte auswählte, darüber kann ich nur spekulieren. Zum einen glaube ich, sah sie in ihr zeitlebens nicht nur Arabella, ihre Nichte, sondern auch das geliebte Kind ihres Bruders. Alle, die meinen Großvater kannten, beteuerten zuweilen, Arabella sei ihm sehr ähnlich. Nicht nur der hohe Wuchs war ihnen gemeinsam, sondern auch die Lebensanschauungen von Vater und Tochter waren wesensverwandt. Sowohl zu ihrem Bruder wie auch zu dessen jüngster Tochter besaß Annelies ein enges und inniges Verhältnis. Zum anderen befürchtete die Tante vielleicht, ihre Töchter könnten, wenn sie alles wüssten, was die Mutter so lange in sich verschlossen hatte, mit Verachtung auf die eigene Mutter schauen: Sie standen der Tante zu nahe. Um all die Dinge ungeniert aussprechen zu können, die der Tante auf der Seele brannten, bedurfte es eines gewissen Abstands. Außerdem wusste die Tante ihre Worte bei Mama wohl verwahrt. Arabella würde das Gehörte nicht breit treten, sie verstand, ein Geheimnis zu hüten. Wenn es dazu noch so etwas wie einen letzten Grund gab, Arabella zu wählen, dann den, dass ihr, genau wie Max, nichts Menschliches fremd war. Sie verurteilte niemanden vorschnell, sondern bezeigte Verständnis und Nachsicht gegenüber allen menschlichen Schwächen. Arabella, dessen muss sich Tante Annelies gewiss gewesen sein, würde sie auch nach ihrer Beichte gern haben, sie würde ihr, einer alten Frau, ihre Zuneigung nicht entziehen.
Zunächst aßen wir Abendbrot, ein Abendbrot, das nicht recht schmecken wollte angesichts von Friedhelms verwaisten Platz am Küchentisch. Nach dem Essen öffnete Mama eine Flasche schweren roten Weins und wir tranken den ersten Schluck im Gedenken an den Onkel. Mama nippte nur an ihrem Glas, dann begann sie unvermittelt davon zu sprechen, was Friedhelm ihr bedeutet hatte.
Bereits als kleines Kind litt meine Mutter darunter, dass ihre Mutter, meine Großmutter, sie unmissverständlich ablehnte. So sehr sie sich mühte, den Wünschen ihrer Mutter zu genügen, nichts konnte sie ihr recht machen; Großmutter blieb dem Kind Arabella gegenüber kühl reserviert, während sie Grisi – sofern sie das überhaupt vermochte – verhätschelte. Opa Max, Mamas Vater, mühte sich, die Abweisung seiner Frau zu kompensieren. Er versuchte, seinen Lebenshunger auf seine Töchter zu übertragen, er verschenkte seine überquellende Freude und Zärtlichkeit an beide. Arabella nahm diese Gabe voller Zutrauen an, während Grisi ihrem Vater stets nur halbherzig zugetan war. Mit einem Auge schielte sie immer zur Mutter hin, allzeit darauf bedacht, sich zuerst deren Billigung zu sichern. Verzog Großmutter das Gesicht angewidert, wenn Max wieder einmal übermütig mit seinen Töchtern tollte, dann entwand sich Grisi Großvaters Armen und heftete sich augenblicklich an Großmutters Rock. Arabella indes fand bei ihrem Vater die Zuwendung, nach der sie gierte und genoss sie in vollen Zügen. Das Buhlen um die Gunst ihrer Mutter, um ein paar Streicheleinheiten, hatte sie irgendwann aufgegeben. Sie entwickelte ein gesundes Selbstbewusstsein, das aus der vorbehaltlosen Liebe ihres Vaters gespeist wurde. Solange ihr Vater lebte, besaß meine Mutter in ihm einen starken und verlässlichen Rückhalt in der Familie, aus dem sie Kraft und Sicherheit bezog. Opa Max liebte Arabella so wie sie war: wild, risikofreudig, zutraulich, lebensfroh und voller Energie. Arabella, das war sein Kind. In ihr fand er das gleiche Naturell wieder, das auch ihm eigen war. Er und die Kleine besaßen verwandte Seelen. Das sichere Hinterland meiner Mutter brach weg, als Opa Max ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb. Die Anzeichen für seine Krankheit hatte er über Jahre hinweg beharrlich ignoriert. Er konnte nicht anders denn aus dem Vollen leben. Ein halbes Leben gab es für ihn nicht.
„Leben ist immer lebensgefährlich!“, so lautete einer seiner Lieblingssprüche.
Auf etwas zu verzichten, was das Leben in seinen Augen lebenswert machte, bloß um ein wenig Zeit herauszuschinden, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Das Leben war allzeit jedes Risiko wert.
Er starb mit einundsechzig Jahren. Mit seinem Tod brach für meine Mutter der Halt in der Familie weg, sie stand von einem Tag auf den anderen allein da. Nicht ein Mal kam Großmutter nach Max’ Tod nach Krambzow, gerade so, als sei mit ihrem Mann auch endlich die ungeliebte Tochter gestorben. Meine Großmutter hatte das Leben dieser Tochter nie gutgeheißen, im Beruflichen ebenso wenig wie im Privaten. Vielleicht hätte sich meine Großmutter eines Tages mit ihrer jüngeren Tochter arrangiert, hätte Arabella sich Großmutters gebietendem Wunsch gefügt, Medizin zu studieren und Gertruds Nachfolge als Ärztin in Geestade anzutreten. Jedoch was kümmerten Arabella die Wünsche ihrer Mutter. Es war ihr Leben und sie dachte nicht daran, sich dieses aus der Hand nehmen zu lassen.
Vor allem die Liebe zwischen meiner Mutter und meinem Vater, Fernando Gomez, billigte Großmutter niemals. Nur ein einziges Mal brachte Mama ihn mit nach Hause. Damals lebte ihr Vater noch. Opa Max war dem Paar wohl gesonnen, aber Großmutter artikulierte ihre kalte Abweisung offen. So blieb es bei diesem einen Besuch, obwohl meine Mutter und mein Vater elf Jahre lang miteinander lebten – allerdings ohne Trauschein. Mein Vater war bereits verheiratet und er hatte eine Tochter, als er ins Land kam. Er war vor der Pinochet-Diktaturaus Chile geflohen. Frau und Tochter musste er im Ungewissen über ihr Schicksal zurücklassen. Großmutter indes interessierte sich nicht für die außergewöhnlichen Lebensumstände von Fernando Gomez. Sie lehnte ihn ab und wünschte gar nicht erst, ihn näher kennen zu lernen. Opa Max indes mochte Fernando, obwohl er wusste, dass dieser Mann seiner Tochter irgendwann einen bitteren Schmerz zufügen würde. Fernando Gomez machte nämlich zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus, dass er, sobald als möglich, nach Chile, in seine Heimat, zurückkehren wolle. Das wusste auch Arabella. Trotzdem war es ausgerechnet dieser Mann, an den sie ihr Herz gehängt hatte. Irgendwann – dieser Zeitpunkt war weit weg – würde Fernando fortgehen. Was kümmerte sie jetzt schon das Irgendwann?
Irgendwann, der hartnäckig verdrängte Zeitpunkt, trat ein, kurz nachdem Opa Max gestorben war. Fernando beschwor Arabella eindringlich, mit ihm zu gehen. Er würde die Scheidung einreichen und mit ihr, der Frau, deren Leben er seit elf Jahren teilte, alt werden wollen, ihre gemeinsame Tochter aufwachsen sehen. In den elf Jahren, die er fernab seiner Heimat gelebt hatte, war Carmen, seine Ehefrau, für ihn eine Fremde geworden und er ihr ein Fremder. Arabella lehnte den Vorschlag ab, nicht aus Mitleid mit der unbekannten Frau Gomez, nicht, weil sie Fernandos Versprechen misstraute, sondern weil sie wusste, dass das Heimweh ihre Liebe aufzehren würde. Ein gutes halbes Jahr vor Fernandos Rückreise gebar Arabella eine Tochter, Eva. Mich!
Das Haus in Krambzow war saniert, Mama besaß eine gute Arbeit und mich, ihre Tochter. Aber sie stand ganz allein da.
Nach Max’ Tod hatten sich Annelies und Friedhelm verpflichtet gefühlt, seiner jüngsten Tochter beizustehen, ihr die Unterstützung zu gewähren, welche die eigene Mutter Arabella beharrlich versagte. Onkel Friedhelm war ohne große Worte als eine Art Ersatzvater für Mama eingesprungen. Für mich verkörperte er, solange ich denken kann, eine Mischung aus einem guten Onkel und einem liebevollen Opa.






