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„Mutti liegt noch im Bett. Sie will niemanden sehen und nicht aufstehen. Tut mir leid. Aber gut, dass ihr kommt, ich habe euch etwas zu sagen …“
In ihrer Stimme schwang Wichtigkeit. Mama ignorierte ihre Schwester und deren Worte vollkommen. Sie entbot Grisi weder einen Gruß, noch schenkte sie ihr einen Blick. Sie gab ihr einfach keine Gelegenheit, die angekündigte Botschaft zu verkünden. Ich, die ich meine Mutter gut kannte, merkte an dieser Reaktion, wie wütend sie noch immer auf ihre ältere Schwester war. Ungeachtet der Botschaft, welche Griseldis verkündete, ging Mama zielstrebig um das Haus herum, zu Großmutters Domizil.
Tatsächlich lag meine Großmutter im Bett, obwohl die Uhr auf Mittag zu eilte. Die Vorhänge im Schlafraum waren zugezogen. Bis zur Nase, als wolle sie sich verbergen, hatte Großmutter das Deckbett gezogen. Indes sie schlief nicht mehr.
Mama klopfte an die weit offen stehende Schlafzimmertür, schritt dann energisch in den Schlafraum und zog mit einem Ruck den Vorhang auf. Das helle Licht eines klaren Frühlingsmorgens flutete ungehindert herein. Griseldis, die uns wie ein Hündchen nachgeeilt war, lehnte triumphierend im Türrahmen.
„Da siehst du es selbst.“
Mama blieb ihr auch jetzt die Antwort schuldig.
„Was soll das, Mutter? Ich will dich abholen, nach Zingst. Oder willst du nicht noch einmal zum Friedhof?“
Der Köder, den Mama ihrer Mutter zuwarf, verfehlte seine Wirkung nicht. Augenblicklich schlenkerte Großmutter ihre Beine aus dem Bett.
„Ja, gut, dann mach ich mich fertig.“
Während Großmutter das tat, besuchten Mama und ich Opa Max’ Grab auf dem hiesigen Friedhof. Es stand ganz allein in der Grabreihe und wirkte verloren, obgleich der Winterschmuck darauf verriet, dass jemand das Grab pflegte. Oft hatte Mama mir gestanden, dass ihr dieses klotzige Grabmal, der große schwarze Granitblock und der mit Blumen bepflanzte Erdhügel, absolut nichts bedeuteten. Nichts verband sie damit, keine Gefühlsregung, keine Verpflichtung und erst recht keine Erinnerung an den lebendigen Max Ludewig, ihren Vater. Dennoch flohen wir manchmal aus Griseldis’ Haus, einem noch unwirtlicheren Ort als dem Friedhof, hierher.
Heute stand Mama ungewöhnlich versunken vor dem monumentalen Grabstein. Ihre Gedanken wanderten irgendwo umher, sie weilten nicht hier, auf dem Totenacker. Ich beobachtete meine Mutter von der Seite, störte sie nicht. Ich wusste, dass sie von selbst sprechen würde, sobald die Zeit reif war, das Gedachte mitzuteilen. Als Mama aus ihrer Versunkenheit erwachte, flüsterte sie mehr zu sich selbst, denn zu irgendwem sonst gewandt: „Jetzt bin ich ganz allein.“
Wir aßen in Zingst im Fischrestaurant zu Mittag. Während der ganzen Mahlzeit zeigte sich Großmutter einsilbig. Über den gestrigen Tag und seine aufregenden Ereignisse verlor sie kein Wort, als habe sie das alles gänzlich aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie wirkte wieder souverän und überaus beherrscht. Nur ihr Schweigen verriet die Anstrengung, welche es sie kostete, diesen Schein zu wahren. Seit gestern schien mir meine Großmutter sichtlich gealtert. Ihre Gesichtszüge waren von den Spuren tiefer Trauer zerfurcht.
Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Selbst Großmutter, eine begnadete Köchin, kam nicht umhin, Suppe und Hauptgang zu loben. Trotz des guten Essens und des stilvollen Ambientes blieb die Atmosphäre zwischen uns angespannt. Innerlich bedauerte ich, nicht mit Mama oder mit Tante Annelies hier zu sitzen. Beide, Mama und die Tante, würden trotz ihres Schmerzes niemals so verbissen in ihrer Trauer verharren, diese so zelebrieren wie Großmutter es tat. Meine Mutter und meine Tante vermochten lebendig von Onkel Friedhelm zu erzählen. In ihren Episoden und Erinnerungsfetzen lebte er weiter. Gern hätte ich Tante Annelies’ gestrige Beichte hinterfragt, allein das verbot sich durch Großmutters Anwesenheit. Ich war nur Zaungast gewesen und hatte sehr wohl begriffen, dass die Tante zu meiner Mutter sprach, dass sie ihr etwas anvertraute, wovon wahrscheinlich nicht einmal ihre Töchter wussten. Sie wollte reden und dennoch das Erzählte vertrauensvoll aufgehoben wissen. Es verstand sich von selbst, dass auch ich, der Zaungast, das Gehörte nicht breit trat. Meine Fragen würde ich mir bis zu einem späteren Zeitpunkt aufheben müssen.
Während Großmutter verbittert schwieg, unterhielten Mama und ich uns über mein Studium, über Mamas Arbeit, gemeinsame Bekannte aus Krambzow und Onkel Friedhelm. Großmutter unternahm nicht einen einzigen Versuch, sich in das Gespräch einzubringen oder ihm eine andere Wendung zu geben. Erst als Mama die Rechnung verlangte, kam Bewegung in Großmutter. Sie schob meiner Mutter ihre Börse hin und forderte sie gebieterisch auf, die Rechnung von ihrem Geld zu begleichen.
„Nein, Mutter“, wies Mama die Börse zurück, „ich habe dich eingeladen, also bezahle ich die Rechnung. Lade morgen deine andere Tochter zum Essen ein, dann darfst du bezahlen.“
„Meine andere Tochter halte ich schon ihr ganzes Leben lang aus. Ohne mein Geld wäre dort längst alles zusammengebrochen, das kannst du mir getrost glauben. Die sind wie die Kinder, die jeden Flitter haben müssen. Das Geld rinnt ihnen wie Wasser durch die Finger. Ich wollte dir auch einmal etwas Gutes tun.“
„Schau Mutter, du hast die Achtzig überschritten. Solltest du immer noch glauben, dass das Gute, das ich von dir begehrte, jemals etwas mit Geld zu tun hatte? Mit Geld kann man sich nicht freikaufen, das weißt du doch selbst.“
Großmutter senkte beschämt den Blick und zog sich ins Dickicht ihres Schweigen zurück.
Ich schob Großmutters Rollstuhl durch Zingsts holprige Straßen zum Friedhof hin. Trotz des dicken Mantels und der Decke, welche ich über ihre Beine breitete, fror Großmutter in dem eisigen Wind, der sich uns entgegenstemmte.
Wir verweilten nur einen kurzen Moment. Mama schlug Großmutter vor, Annelies einen Besuch abzustatten, dort könne Großmutter sich aufwärmen und mit ihrer Schwägerin über Friedhelm reden.
„Ich will sie nicht sehen. Ich kann diese fette Kuh nicht mehr ertragen!“, erwiderte Großmutter in einem ungewöhnlich heftigen Gefühlsausbruch. Ihre Stimme hallte schneidend scharf. Mich befremdete sowohl die Schärfe der Ablehnung als auch die Wortwahl. Ganz deutlich spürte ich einen unterschwelligen Hass, den ich mir nicht zu erklären vermochte. Zwischen Großmutter und der Tante herrschte seit Jahr und Tag insgeheim eine Konkurrenz darum, wer zu den Familienfeiern den wohlschmeckenderen Kuchen, das ausgefallenere Abendbrot kredenzte. Diese Konkurrenz betrachtete ich bislang eher als einen sportlichen Wettbewerb. Auch Großmutters nicht eben freundliche Spitzen gegen Annelies’ Köperfülle war ich von früher her gewohnt. Sie kamen mir stets ein wenig albern vor. Die heutige Ablehnung jedoch besaß eine andere Dimension – das bemerkte ich und das bemerkte Mama.
„Was ist los, Mutter?“, versuchte Mama die Gründe für den spontanen Hassausbruch zu erkunden.
„Was ist los?“, äffte Großmutter Mama nach. „Ich hasse diese fette Kuh! Sie hat mir Friedhelm genommen! Ich will sofort nach Hause!“
„Bist du nicht ungerecht, Mutter? Hast du überhaupt einen stichhaltigen Grund, sie derart zu hassen?“
Großmutter ging nicht auf Mamas Einwand ein. Sie grollte schweigend. Lediglich: „Ich will heim!“, forderte sie unwirsch noch einmal.
Wir fuhren sie nach Hause, geleiteten sie in ihre Wohnung und verabschiedeten uns verwundert und erlöst in einem.
Plötzlich fiel mir Großmutters Versprechen vom Vortag ein. Sie sollte nicht meinen, ich habe es vergessen, es bedeute mir nichts.
„Großmutter, du schuldest mir dein Geheimnis“, machte ich meine berechtigten Ansprüche geltend.
„Ich weiß. Noch bin ich nicht tüdelig im Kopf. Ein Jahr hast du Zeit. Doch gut, komm es dir gleich morgen abholen.“
Mit dieser Antwort schob sie mich hinaus und verriegelte hinter mir die Tür.
3
Ich beschloss, mir Großmutters Lebensgeheimnis abzuholen, es wegzutragen, ehe Großmutter es sich anders überlegte. Wie töricht ich doch war.
Das Geheimnis, das sich mir offenbaren sollte, das begriff ich bald, war nicht mit wenigen Worten umrissen. Es bedurfte einer Portion Zeit und Geduld, es zu entschlüsseln. Großmutter führte mich in viele verborgene Winkel und in Sackgassen ihres Lebens. Anfangs meinte ich, mich in dem Gewirr der Lebensepisoden zu verirren, doch allmählich schälte sich eine Struktur heraus, trat das Geheimnis Stück für Stück zutage. Irgendwann, nur wenige Wochen bevor Großmutter starb, sah ich es klar und deutlich vor mir liegen.
Am jenem Ostersonntag bekam ich lediglich das erste Mosaiksteinchen einer Geschichte zu Gehör, die nahezu Großmutters ganzes Leben umspannte. Sie nahm ihren Anfang mit Ewald Klötzes Hochzeit, einer Hochzeit, auf der sie, so beteuerte Großmutter hartnäckig, eigentlich nichts zu suchen hatte. Weder mit der Braut, noch mit dem Bräutigam war sie verwandt oder befreundet. Sie kannte die Familie aus dem Krieg. Auf dem Hof von Familie Klötze, nahe ihrer Heimatstadt, absolvierte meine Großmutter ihr Pflichtjahr. Eigentlich sollte sie Arbeiten im Stall und auf den Feldern verrichten, um die ins Heer eingezogenen Knechte mehr schlecht als recht zu ersetzen. Hulda Klötze indes, die Bäuerin, ließ das nicht zu. Aus einer tiefen und demütigen Dankbarkeit heraus holte sie das schmächtige Mädchen zu sich ins Haus, lehrte sie Gertrud das Wirtschaften von der Pike auf. Doktor Alfred Behringer, Großmutters Vater, Chirurg am Hospital der nahen Stadt, davon war Hulda Klötze fest überzeugt, hatte vor Jahren ihrem Mann das Leben gerettet.
Bei einem Unfall auf dem Acker war der Bauer vom Mähbinder, den er reparieren wollte, übel zerschnitten worden, weil die vorgespannten Pferde plötzlich anzogen. Wochen verbrachte er im Krankenhaus. Doktor Behringer hatte am Körper des Bauern kunstvoll Nähte über Nähte gezogen, den Bauern regelrecht wieder zusammengeflickt. Dafür liebte und verehrte Hulda Klötze Doktor Behringer solange sie lebte.
Ein Zufall hatte es eingerichtet, dass ausgerechnet Gertrud, die Tochter von Doktor Behringer, im Pflichtjahr den Klötzes zugeteilt worden war. Hulda Klötze indes glaubte nicht an Zufälle, sondern betrachtete Gertruds Erscheinen als eine Fügung des Schicksals, als Aufforderung, den Dank für eine große Wohltat zu entrichten.
Doktor Behringers Tochter, das schwor sie sich, sollte es gut bei ihr haben. Alles, was die begabte Hausfrau und Köchin wusste und konnte, wollte sie dem Mädchen aus Dankbarkeit mit auf den Weg geben. Auf dem Klötzeschen Hof lernte Großmutter neben der Hauswirtschaft Hühner, Gänse, Fische und Kaninchen schlachten, ausnehmen, rupfen und enthäuten, Obst und Gemüse anzubauen, ja sogar Leinen zu weben. Wenn meine Großmutter jemals so etwas wie ein Hobby besaß, dann bestand das in all dem, was sie bei Hulda Klötze erlernt hatte. Sie kochte zeitlebens sehr gern altdeutsche Gerichte, die mir stets sehr gut schmeckten. Es gab kein Sonntagsessen, das nicht aus mindestens drei Gängen bestand: der legierten Vorsuppe, dem Hauptgang und dem Dessert. Ich erinnere mich an die „Errötende Jungfrau“, eine schaumige Cremespeise aus dem Saft schwarzer Johannisbeeren, an Weinschaumcremes und „Äpfel im Schlafrock“, allesamt Nachspeisen, bei denen allein der Name meine Geschmacksnerven wach kitzelte. Im Kochen und Backen ging meine Großmutter förmlich auf.
Jedenfalls bat man meine Großmutter, damals noch eine junge Frau, als Ewald Klötze, der älteste Sohn, heiratete, zur Hochzeitsfeier; es fehlte eine Tischdame für Ewalds besten Freund von der Gewerbeschule für Forst- und Holzwirtschaft. Großmutter zierte sich nicht lange. Gerne kam sie der Bitte nach. Eine Hochzeit, zumal bei einem wohlhabenden Bauern, versprach Leckerbissen, die in jenen Jahren nicht gerade alltäglich auf den Tisch kamen. Zu dem guten Essen gäbe es Geselligkeit und Zerstreuung und vielleicht sogar würde Musik aufspielen und es konnte getanzt werden.
Das Tanzen stellte Großmutters zweite, heimliche Leidenschaft dar, der sie zeitlebens nur auf Familienfeiern frönte. Selbst als junges Mädchen ging sie selten aus. Sie mied öffentliche Feste, tat sich schwer im Umgang mit ihren Mitmenschen und besaß zeitlebens keine einzige enge Freundin, der sie sich hätte anschließen können. So blieb denn das Tanzen eine stille Leidenschaft, der sie zuweilen verschämt im elterlichen Wohnzimmer nach Musik vom Grammophon gemeinsam mit ihrer Schwester Liane nachging. Ihre Mutter, eine früh verbitterte Frau, durfte von diesem Vergnügen nichts mitbekommen. Sie hätte sich kategorisch dagegen verwahrt, dass in ihrem Hause getanzt und gelacht wurde.
Auch das Tanzen hatte Gertrud bei Familie Klötze erlernt. Hulda Klötzes Schwester, Elfriede, lebte, seit ihre Wohnung in Berlin bei einem Bombenangriff zerstört worden war, mit ihrem Sohn Adolph, auf dem Hof. Elfriede war eine echte Großstadtpflanze und kein Kind von Traurigkeit. Abends, wenn alle Arbeit ruhte, zog sie das Grammophon auf und tanzte bald mit ihrer Schwester, bald mit ihrem Schwager oder Gertrud gut gelaunt durch das Wohnzimmer. Sie kannte alle Schlager, sie sang vergnügt mit und beglückte alle mit ihrer guten Laune. Elfriede war es, die Gertrud das Tanzen lehrte, die ihr die Schrittfolgen geduldig zeigte und sich schwungvoll im Walzertakt mit ihr drehte, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. Gertrud hatte bis dahin nicht geahnt, dass ihr das Tanzen ein solches Vergnügen bereiten könnte.
Als das Pflichtjahr endete, bedauerte Gertrud das zuerst um des Tanzens willen. Sie hatte Liane unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erzählt und eines Tages, als die Mutter beim Frisör saß, das Grammophon in Gang gesetzt, um Liane erste Schritte beizubringen. Immer, wenn die Schwestern sich allein zu Hause wussten, setzten sie die Tanzstunden heimlich fort.
Gewiss hätte Gertruds Vater nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass seine Töchter im Wohnzimmer tanzten. Alfred Behringer war ein Lebemann, den schönen Dingen des Lebens allzeit zugetan. Er hätte, wäre er jemals zu solch einer Tanzstunde hinzugekommen, eine der Frauen umfasst und wäre mit ihr im Takt der Musik selig über das Parkett geflogen. Er hätte gelacht und einen guten Wein oder gar Champagner spendiert. Viel zu selten wurde seiner Meinung nach bei Behringers gescherzt und gelacht, seit vor vielen Jahren Großmutters Bruder Hans bei einem Badeunfall ertrunken war. Hilde Behringer, Großmutters Mutter, gab die Schuld für diesen Unfall allein ihrem Mann, der dem Jungen stets erlaubt hatte, mit seinen Schulfreunden baden zu gehen. Hans war vierzehn Jahre alt gewesen, als das Unglück geschah. Seither trug Hilde Behringer die Trauer wie ein Banner vor sich her. Sie ging zu keinem Vergnügen mehr, sei es eine Theateraufführung, ein Ball oder ein Festessen. Sie beabsichtigte ihren Mann durch ihre Verweigerung lebenslang zu strafen. Alfred Behringer liebte rauschende Feste und ausschweifende Vergnügungen. Eine Zeit lang entsagte er ihnen, blieb er mit seiner Frau und ihren anklagenden Blicken zu Hause. Er trauerte anders als sie um seinen Sohn. Er vermisste ihn jeden Tag, denn Vater und Sohn hatten einander sehr nahe gestanden. Alfred Behringer indes zelebrierte seine Trauer vor niemanden und er glaubte nicht, dass eine Entsagung von den Lebensgenüssen im Sinne von Hans gewesen wäre. Hans war ein fröhliches, lebenshungriges Kind gewesen. Irgendwann siegte die Lust auf Leben über die von seiner Frau verordnete Traurigkeit. Da Hilde sich weigerte, ihn zu begleiten, da sie sich in der Rolle der Anklägerin eingerichtet hatte, ging er fortan alleine aus. Anfangs trug er seiner Frau noch an, ihn zu begleiten, bald jedoch unterließ er selbst die Frage. Hilde verbrachte all ihre Tage in den Räumen der Villa. Sie versank in den Romanen Hedwig Courths-Mahlers. Hin und wieder sprang das Glück der Romanzen auf Hilde Behringer über, dann sehnte sie sich danach, im Walzertakt durch einen Festsaal zu schweben, doch selbst diese sentimentalen Regungen verbot sie sich.
Dadurch, dass das Tanzvergnügen vor Vater und Mutter strikt verborgen wurde, besaß es in den Augen meiner Großmutter stets den Nimbus des Anrüchigen und Verbotenen. Nichtsdestotrotz tanzte sie leidenschaftlich gern, was sie sich leider selbst nie wirklich einzugestehen wagte. Sie dürstete förmlich nach Gelegenheiten, ohne Aufsehen zu erregen, tanzen zu dürfen. Die Hochzeit kam ihr dabei zupass.
Ihr Tischherr auf der Hochzeitsfeier, Max Ludewig, ein junger Mann mit sehr guten Umgangsformen, dessen Kopfhaar sich ungeachtet seiner noch jungen Jahre bereits zu lichten begann, gefiel Großmutter. Er trug einen graumelierten Anzug aus ungewöhnlich gutem Stoff, der seinen hohen Wuchs nachhaltig unterstrich. Dem Gesicht verliehen besonders die sehr klaren, freundlichen blauen Augen sowie die sehr schlank und edel wirkende Nase einen Hauch von Eleganz. Er verstand charmant zu plaudern, Großmutter zu erheitern. Zudem erwies er sich als recht passabler Tänzer. Gerade diese Fähigkeit schätzte sie auf jenem Hochzeitsfest am meisten an ihrem Tischherrn. Beinahe jeden Tanz tanzte sie mit ihm. Er zog sie eng an sich heran, für ihren Geschmack ein wenig zu eng. Er sang vergnügt und heiter die Schlagertexte mit. Er bewegte sich leichtfüßig im Rhythmus der Musik. Die Zeit verrann wie im Fluge.
An diesem Tage, davon war Großmutter lange überzeugt, meinte sie einen Glückshauch verspürt zu haben. An diesem Tage besaß sie alles, was sie sich wünschte. Sie empfand eine ungewohnte Seligkeit, fühlte sich trunken vor lauter heiterer Freude. Wahrscheinlich sprang sie an diesem Tage ein Mal über ihren eigenen Schatten: Sie ging aus sich heraus, während sie sich sonst ihr Leben lang in sich zurückzog. Sie kannte sich selbst nicht wieder.
Sonst schweigsam, kontaktscheu und beinahe asketisch, wie ihre Mutter, lebte sie auf. Sie lachte ungezwungen und klönte mit dem ihr fremden Mann. Max Ludewigs Fröhlichkeit und die Leichtigkeit, mit der er das Leben betrachtete, waren unversehens auf Gertrud übergesprungen. Sie schaffte es, die Sinnesfreuden dieses Tages – Essen, Trinken und Geselligkeit – ohne Wenn und Aber zu genießen. Mehr noch, sie verliebte sich in den Mann, der all jene Eigenschaften besaß, die ihr fehlten, der sie aus ihrer traurigen Lethargie riss. Sie bewunderte seine Leichtlebigkeit, dieselbe Leichtlebigkeit, die sie später ihrem Mann als das fürchterlichste aller Laster ankreidete.
An diesem Tag jedoch fühlte sich Großmutter von seiner Aufmerksamkeit geschmeichelt und suchte ihm zu gefallen. Unerfahren im Umgang mit Männern, sie hatte bislang nicht die kleinste Liebelei gehabt, erlag sie seinen Komplimenten. Erstmals in ihrem Leben hielt sie sich als Frau für schön und begehrenswert. Beschwipst von der Bowle, ließ sie sich von ihm küssen, dass ihr der Atem zu versagen drohte. Max Ludewig, das hätte sie an diesem Tage geschworen, war der Mann all ihrer Träume.
Dennoch beantwortete sie Max’ Frage nach einem Wiedersehen sehr vage. Genau genommen schien ein Wiedersehen unwahrscheinlich. Gertrud Behringer, die älteste Tochter des hiesigen Doktors, studierte, auf Wunsch ihres Vaters, in Rostock Medizin. Doktor Behringer wollte sie gern in seinen Fußstapfen stehen sehen, die Familientradition fortgesetzt wissen. Sie hatte sich dem väterlichen Wunsch widerspruchslos gefügt und gar nicht versucht, eigene Interessen zu artikulieren. Wäre ihr Bruder nicht beim Baden ertrunken, dann wäre ihr das Studium erspart geblieben und sie hätte, wie es ihren eigentlichen Plänen entsprach, in einem Büro als Sekretärin arbeiten können, bis sich ein Mann zum Heiraten gefunden haben würde. Es hatte jedoch nicht sein sollen.
Gertrud wohnte also gar nicht mehr in Goldberg. Ihre und Max Ludewigs Wege, die sich eben erst berührt hatten, drifteten bereits wieder auseinander. Wo sollten sie sich denn wiederbegegnen? Alles würde einmalig bleiben. Diese Aussicht verlieh dem Abend und dem jungen Mann alsbald eine märchenhafte Aura. Gertruds Träume von dem jungen Mann, den ein Zufall ihr für einen Tag beschert hatte, würden bald verblassen. Irgendwann würde sie einen anderen kennen lernen, der vielleicht zum Ehemann taugte.
Großmutters allzeit nüchterner Realismus gewann rasch die Oberhand: Max Ludewig, das war einmal!
Angesichts dieser Erkenntnis verspürte sie keine übermäßig große Trauer. Ewald Klötzes Hochzeit hatte ihr einen unerwartet schönen Tag beschert, an welchem so etwas wie ein Wunder geschah. Ein schöner Mann hatte sie umworben. Das erlebt zu haben, tat ihr wohl, sie würde es nie vergessen. Allein, um eine Fortsetzung des Wunders zu kämpfen, lag nicht in Gertruds Naturell, dazu war sie zu wenig emanzipiert und zu wenig eine Frau der Tat. Freilich, wenn sich von selbst eine Fortsetzung ergäbe, dann wäre sie nicht abgeneigt. Doch an welchem Ort sollte das geschehen? Es war besser, sich Max Ludewig gleich aus dem Kopf zu schlagen.
Eines Tages, Gertrud befand sich mit einer Kommilitonin in Rostock auf dem Weg zur Vorlesung, da begegnete ihr Max Ludewig. Er sah blass aus, um die rechte Hand trug er einen schneeweißen Verband. Er schlenderte in Gedanken versunken über die Straße. Hätte Gertrud ihn nicht angesprochen, er wäre achtlos vorübergegangen und ihrer beider Leben hätte einen anderen Verlauf genommen.
Warum sie Max anredete, das vermochte sie nie genau zu sagen. Vermutlich wollte sie Rita imponieren, vor ihr nicht länger als Mauerblümchen dastehen. Rita war eine sehr attraktive Brünette, die über mangelndes Interesse von Seiten ihrer männlichen Kommilitonen nicht klagen konnte. Sie wurde umschwärmt. Gertrud wollte dieser allseits bewunderten Frau beweisen, dass auch sie durchaus Chancen bei attraktiven Männern besaß.
Max’ Gesicht hellte sich sofort auf, als Gertrud ihn ansprach. Aus seinen Augen blitzte ein Lachen. Er lud die beiden Frauen sogleich auf einen Kaffee und Kuchen in eine nahe Konditorei ein. Er unterhielt sie gutgelaunt, nichts erinnerte mehr an den nachdenklichen Mann von vorhin. Auf Ritas Nachfrage erklärte er die Funktion des Verbandes: er habe sich am Vortag mit der Kreissäge den Ringfinger abgesägt.
„Ein Arbeitsunfall“, fasste er lapidar zusammen. „An einer elektrischen Säge darf man nicht träumen.“
„Wie interessant, ein Mann, der träumt“, buhlte Rita um Max’ Aufmerksamkeit und weckte Großmutters Ehrgeiz, Rita diesen Mann keinesfalls zu überlassen.
Erstmals in ihrem Leben verspürte Gertrud einen Anflug von Eifersucht. Sie drängte darauf, die Vorlesung nicht zu versäumen, erhob diese zu ungeheurer Wichtigkeit. Alles in ihr riet ihr, Rita sofort von Max zu entfernen, wollte sie ihre eigenen Chance auf jenen Mann, der in ihrer Fantasie bereits zu einem Prinzen verklärt war, nicht verspielen.
Instinktiv hatte Gertrud Max’ Hingezogensein zu der lebenshungrigen Rita bemerkt. Sie verstand Max’ Interesse durchaus. Rita war eine schöne Frau, mit einem sehr weiblichen Körper und einem fröhlichen Naturell. Sie nahm das Leben nicht allzu schwer und passte insofern gut zu Max Ludewig. Dennoch glaubte Großmutter, ein Vorrecht auf Max zu besitzen, denn schließlich hatte sie ihn gefunden.
Sie bat Rita, schon mal vorzugehen und verabredete sich beim Abschied für den Sonnabend mit Max zum Tanz. Sie versprach, ihre Freundin mitzubringen. In Wirklichkeit dachte Gertrud allerdings keinen Moment daran, ihr Versprechen zu halten. Aufmerksam hatte sie registriert, dass Max an Rita Gefallen gefunden hatte und mit dem Versprechen lediglich einen Köder ausgeworfen, den Max gutgläubig schluckte.
Am Sonnabend, beim Tanz, verleugnete sie die Freundin schamlos. Sie erzählte, Ritas Verlobter sei auf Besuch gekommen, denn Rita erwarte ein Kind und müsse möglichst rasch heiraten. Was sie zu dieser Lüge trieb, das wusste sie nicht, denn ehrlich gesagt, glaubte Gertrud nicht ernsthaft, Max auf Dauer an sich fesseln zu können. Dennoch trafen sie sich fortan öfter zum Tanzen und tasteten sich in den Gesprächen langsam ab. Gertrud freilich hatte nicht viel zu erzählen. Sie studierte Medizin. Sie war dem Elternhaus entkommen, in welchem die Mutter nach mehr als fünfzehn Jahren noch immer verbissen um den toten Bruder barmte und allen Frohsinn verdammte. Irgendwann, die Frist war absehbar, würde Gertrud das Studium beenden. Das Einzige was sie sicher wusste, war: Zurück nach Goldberg wollte sie auf keinen Fall.
Max arbeitete in einer Möbelfirma in Rostock. Er wohnte mit anderen Männern zusammen in einem Arbeiterwohnheim, in welchem er sich nicht wohl fühlte. Max Ludewig liebte den Luxus und ein gutes Leben. Das Wohnheim war ihm zu spartanisch, das Eingepferchtsein und die Provisorien behagten ihm nicht und doch gedachte er noch ein paar Jahre zu bleiben, billig zu hausen und gutes Geld zu verdienen. Mit dem Geld plante er, sich irgendwo am Wasser ein modernes und geräumiges Haus zu bauen. Er entwarf vor Gertrud ein Bild dieses Hauses, ließ sie in Gedanken mit ihm durch die Zimmer wandeln und durch die großen, blanken Fenster hinaus auf die weite Wasserfläche schauen. Er ahnte nicht, dass sich Gertrud in seinen Träumen verfing, dass sie sich wie Netze um Gertrud schlangen: Ein großes Haus bewohnen, morgens schon das Wasser zu sehen – das erschien ihr beinahe noch anziehender als der überaus attraktive Mann, der vom Hausbau träumte. Sie wollte das Haus und den Mann, der ihr genau dieses Haus bauen würde!






