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Und so ging es dann weiter – eine LKW-Ladung nach der anderen, angefüllt mit einer noch immer wachsenden Flut von Gaben aus Schottland. Julie hatte zu meiner großen Freude beschlossen, mir tatsächlich auch weiterhin zu helfen. Sie war jetzt auf den meisten Fahrten meine Beifahrerin. Als der Umfang an Hilfsgütern weiter anstieg, wurde uns klar, dass der Einsatz eines kleinen Lastwagens für den Transport großer Mengen an Waren über lange Strecken nicht die kostengünstigste Lösung war. Wir brauchten etwas Größeres. Um richtig große LKWs zu fahren, mussten wir den Führerschein für Schwerlastwagen machen, weshalb wir im November 1993 bei Julies Familie in Inverness unterkamen (die schon bevor ich Julie kennengelernt hatte zu den engagiertesten Unterstützern unserer Arbeit gehört hatten) und anfingen, den nötigen Fahrunterricht zu nehmen.
Es machte mir schwer zu schaffen, dass sich nach einigen gemeinsamen Fahrstunden ziemlich deutlich abzeichnete, dass Julie sehr viel besser im Umgang mit Sattelschleppern war als ich. Schon nach der ersten „Lektion“ mit Julie am Steuer hatte der Fahrlehrer sie in ungläubigem Ton gefragt: „Sie nehmen mich doch auf den Arm, oder? Sie sind doch keine Anfängerin, Sie haben früher schon solche Dinger gefahren, stimmt’s?“ Mir versetzte das einen ziemlichen Stich, und ich kletterte auf den Fahrersitz, denn jetzt war ich dran.
„Sie werden wohl etwas mehr Training brauchen“, bemerkte unser Lehrer am Ende meiner Fahrt taktvoll, „vor allem im Kreisverkehr.“
Das war sehr nett von ihm, vor allem im Hinblick auf die drastischen Maßnahmen, die mindestens ein Autofahrer ergreifen musste, um von meinem Anhänger nicht plattgemacht zu werden. Davor war mir nicht bewusst gewesen, woran man alles denken muss, wenn man ein 16 Meter langes Fahrzeug steuert, das sich krümmt, wenn man eine Kurve fährt. Bei dem freundlichen Kommentar des Fahrlehrers bildete sich in meinem Magen ein kleiner Knoten, der sich in den nächsten Wochen zunehmend in Richtung Panik entwickelte. Meine Angst rührte gar nicht einmal so sehr daher, dass ich mir vorstellte, wie ich einen Kreisverkehrs-Mitbenutzer zermalmte oder eine Tankstelle mit einem ungeschickten Ausscheren meines enormen Hinterteils demolierte. Es war eher die Perspektive, meinen Freunden in Dalmally berichten zu müssen, dass Julie die Prüfung bestanden hatte und ich nicht. Das würde sie auf Jahre hinaus mit Material für Witze auf meine Kosten versorgen.
Und so kam es dann auch: Julie bestand die Prüfung mit Glanz und Gloria, und ich fiel durch (mein Anhänger hatte sich leider während der Bewältigung eines Kreisverkehrs in eine andere Straße verirrt). Meine Rechtfertigung, dass ich mit den denkbar schlechtesten Voraussetzungen angefangen hatte – meine Führerscheinprüfung hatte ich damals auf einem alten Landrover in dem kleinen Dorf Inverary gemacht, einem Ort bar jeglichen Kreisverkehrs –, zog natürlich bei keinem in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ich war unendlich erleichtert, als ich beim zweiten Anlauf die Prüfung bestand, und kurz danach erstanden wir einen riesigen, 44 Tonnen schweren Sattelschlepper. Julie hatte die Gewohnheit, all unseren Trucks Namen zu geben, und aus irgendeinem Grund, der sich mir nie erschlossen hat, nannte sie das Teil „Mary“ – so ziemlich der letzte Name, der mir für dieses gigantische Ungetüm eingefallen wäre. Es war grandios zu sehen, wie viel wir in diesem Truck unterbringen konnten, vor allem, weil wir plötzlich von einer größeren Spendenwelle überrollt wurden als je zuvor.
Mehrere Monate lang hatten wir die verstörenden Ereignisse in Srebrenica genau verfolgt. Srebrenica, eine muslimische Stadt in einer von Serben kontrollierten Region Bosnien-Herzegowinas, war mittlerweile von feindlichen Streitkräften umzingelt und völlig überbevölkert. Wie andere Städte in ähnlicher Lage war es von der UNO zu einem „sicheren Hafen“ erklärt worden: Die Organisation versprach, für die Sicherheit aller zu sorgen, die hier Zuflucht suchten. Im Juli 1995 drängten sich an diesem Ort, der zuvor lediglich eine kleine, in einem Tal gelegene Stadt gewesen war, 30.000 Muslime. Jedes Gebäude war überfüllt, und Tausende mussten im Freien schlafen. Monate vergingen, viele verhungerten; aber noch mehr Menschen wurden von Granaten aus den die Stadt umgebenden Bergen getötet.
Und während die Welt ungläubig und entsetzt zuschaute, drangen schließlich die serbischen Soldaten in die Stadt ein. Die vierhundert niederländischen UNO-Soldaten ergaben sich, ohne auch nur einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Die Serben selektierten sämtliche muslimische Männer in kampffähigem Alter, führten sie in eine leerstehende Fabrik und ermordeten innerhalb von zwei Tagen 8000 von ihnen. Die meisten Frauen (viele, nachdem sie vergewaltigt worden waren) und Kinder wurden laufen gelassen und flohen in die Wälder. Die Mehrheit schlug sich nach Tuzla durch, die nächste größere Stadt, wo auf einem alten Flugplatz mit Zelten ein behelfsmäßiges Auffanglager aufgebaut wurde. All das geschah vor den Augen der ganzen Welt. Wir wurden durch regelmäßige Berichte auf dem Laufenden gehalten.
Außer meiner Wut auf die Serben spürte ich jetzt einen brennenden Zorn auf die UNO und unsere Regierung, die es zugelassen hatten, dass sich diese kalt geplanten Abscheulichkeiten an einem Ort ereigneten, den sie die Stirn hatten, einen „sicheren Hafen“ zu nennen. Ich empfand tiefe Scham.
Unmittelbar nach diesen Ereignissen flossen die Spendengaben reichlicher als je zuvor, sowohl von einer empörten Öffentlichkeit als auch von Lebensmittelfirmen, die uns palettenweise Mehl, Zucker, Konserven und vieles mehr anboten. Wir machten uns also in unserem neuen LKW mit riesiger kostbarer Fracht auf den Weg nach Tuzla, um all das den Frauen und Kindern zu bringen, die dort kürzlich eingetroffen waren – keine einfache Aufgabe, denn der einzige Weg in diese Stadt führte mitten durch Bosnien-Herzegowina, wo immer noch der Krieg tobte. Wir wussten, dass wir mit unserem Truck auf den Bergstraßen, über die wir fahren mussten, nicht weiterkommen würden, daher ließen wir uns darauf ein, mit einer anderen Wohltätigkeitsorganisation aus England zusammenzuarbeiten, die kleinere Lastwagen einsetzte, um Hilfsgüter nach Bosnien-Herzegowina zu bringen.
In der kroatischen Stadt Split trafen wir mit ihnen zusammen, und in einer größeren Industrieanlage verluden wir bei sengender Hitze unsere Sachen in ihre fünf Lastwagen. Nach einem höchst willkommenen kurzen Bad in der Adria machten wir uns in Richtung Norden auf den Weg, Julie und ich jetzt jeweils als Beifahrer in den kleineren LKWs unserer neuen Kollegen. Am zweiten Tag der Tour ließen wir die Asphaltstraße hinter uns und fuhren auf sichereren Wegen in den Wald. Für mich fühlte sich das vertraut an – so ähnlich wie die Straßen in Schottland, auf denen ich als Teenager fahren gelernt hatte. Und auch die Landschaft um uns herum wirkte vertraut, obwohl die Berge etwas höher und zerklüfteter waren als die in Argyll. Bald aber musste ich feststellen, dass diese Lastwagen im Unterschied zu den Landrovern und Pickups, an die ich gewöhnt war, keinen Vierradantrieb hatten und für dieses Terrain denkbar ungeeignet waren. Die Straßen wurden holpriger und steiler. Die Räder drehten durch, und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen.
Meine Sorgen hingen nicht nur mit den ungeeigneten Fahrzeugen zusammen, sondern damit, dass in dem neuen Team, zu dem wir jetzt gehörten, einige offenbar mehr am Nervenkitzel als an der sicheren Auslieferung der Hilfsgüter interessiert waren. Nördlich der Stadt Mostar hatten wir in der Ferne Granatendetonationen gehört. Ich war entsetzt, als ich hörte, dass einer unserer Mitfahrer vorschlug, eine Strecke zu nehmen, die näher an der Stelle vorbeiführte, wo noch Rauch aufstieg, damit wir „sehen können, was da passiert“. Offenbar waren einige ganz wild darauf, Soldat zu spielen. Wenn wir an UNO-Stützpunkten Halt machten, um uns über sichere Routen zu informieren, überredeten einige unserer Mitfahrer die Soldaten, ihnen ihre Maschinengewehre zu leihen, mit denen sie sich dann fotografieren ließen. Zum ersten Mal verstand ich, warum größere Hilfsorganisationen die Anstrengungen kleinerer Einrichtungen häufig als dilettantisch und gefährlich einstufen.
Als wir uns neben der Reihe unserer geparkten Trucks zum Schlafen einrichteten, besprachen Julie und ich leise unsere Sorgen bezüglich der Zusammenarbeit mit diesen Leuten, aber uns war völlig klar, dass wir jetzt, wo wir in einem Teil von Zentral-Bosnien-Herzegowina angekommen waren, den wir beide nicht kannten, keine andere Wahl hatten, als mit ihnen bis Tuzla weiterzufahren. Außerdem mussten wir ja all den Spendern zu Hause sagen können, dass ihre Gaben sicher angekommen waren.
Als ich in meinen Schlafsack schlüpfte, hatte ich schlechte Laune. Unsere Kollegen hatten nicht einmal etwas Anständiges für uns zum Essen mitgenommen, und hungrig schlafen gehen zu müssen hatte bei mir unweigerlich zur Folge, dass ich mir fürchterlich leidtat. Mitten in der Nacht wachten wir auf, weil ein Rudel wilder Hunde über uns hinwegjagte. Es war ein total merkwürdiges Gefühl. Sie flitzten – offenbar ohne jegliches Interesse an uns – über unsere Schlafsäcke hinweg und verschwanden in der pechschwarzen Nacht. Ich fragte mich, was wohl ihren Besitzern zugestoßen war und wovor sie davonliefen oder wohin sie rannten.
Am nächsten Tag verschlechterte sich der Straßenzustand noch weiter. Die stärkeren Fahrzeuge zogen jetzt andere die steilsten Abhänge hinauf, und wir kamen nur noch quälend langsam voran. Zu unserer Sicherheit mussten wir unbedingt vor Einbruch der Nacht in Tuzla ankommen, doch das wurde immer unwahrscheinlicher. Der Nachmittag rückte vor, immer öfter mussten wir anhalten, um Reifenpannen zu beheben, und so langsam befürchtete ich, dass einige der Fahrzeuge bald gar nicht mehr reparierbar sein würden. Und als es allmählich Abend wurde, begann der dichte Wald, der sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte, einen entschieden unheimlichen Eindruck zu machen.
Als die Situation richtig trostlos aussah, kam ein Konvoi norwegischer Gelände-Trucks angefahren. Die freundlichen Fahrer – Zivilisten, die mit Leuten von der UNO zusammenarbeiteten – sahen, dass wir in einer ganz misslichen Lage waren, sie hielten an und fragten, ob sie helfen könnten. Sie waren so freundlich, nicht über uns zu lachen, und sagten, sie würden bis zu ihrem Stützpunkt in Tuzla bei uns bleiben und uns abschleppen, wann immer wir ihre Hilfe brauchten. Mit unseren unerwarteten „Schutzengeln“, die uns hinter sich herzogen, kamen wir jetzt stetig voran. Und als wir schließlich um drei Uhr morgens den UNO-Stützpunkt erreichten, fielen wir praktisch sofort in einen erschöpften Schlaf – allerdings hatte Julie vorher noch die Gelegenheit, mir aufgekratzt mitzuteilen, dass sie auf dem letzten Abschnitt unserer Reise durch die Nacht einen der riesigen Gelände-Trucks gefahren habe. Sie erzählte davon in einem Ton, als sei gerade ihr größter Lebenstraum in Erfüllung gegangen. In mir stieg der Verdacht auf, dass sie womöglich ein bisschen verrückt ist.
Am nächsten Morgen wurden wir nach Tuzla in die Stadt gefahren und von einem dankbaren, aber erschöpft wirkenden Bürgermeister empfangen. Wir waren froh, unsere kostbare Fracht – Tausende Schachteln mit Trockennahrung, Seife und Windeln – in eine kleine behelfsmäßige Lagerhalle ausladen zu können, von wo sie in überschaubaren Mengen zu den Flüchtlingen auf dem Flugfeld in der Nähe gebracht werden konnte.
Später suchten wir selbst das riesige Lager auf, in dem jetzt 30.000 Menschen lebten. Wir gingen einen Fußweg zwischen den Zelten entlang. Ein Mädchen versuchte, sich die Haare in einem Eimer zu waschen, und in der Nähe saß eine ältere Dame mit Kopftuch, die sich bemühte, mit einem kleinen Stapel Pappkarton ein Feuer zu machen. In einem Zelt wurden furchtbar unterernährte Kinder mit ausgemergelten, ausdruckslosen Gesichtern von einigen Ärzten untersucht. Ich machte mir klar, dass seit dem Fall von Srebrenica erst zehn Tage vergangen waren: zehn Tage, seit diese Frauen und Kinder, die hier abgemagert und von der Sonne verbrannt vor ihren Zelten saßen, mit ansehen mussten, wie ihre Ehemänner, Söhne und Väter kaltblütig ermordet wurden – und noch viele andere Gräueltaten mehr. Zehn Tage, in denen sie in Todesangst durch die Wälder gelaufen waren. Auf dem Weg hatte sich mindestens eine von ihnen, die einundzwanzigjährige Ferida Osmanovic, an einem Baum mit ihrem Schal erhängt. Und während sie das alles durchmachten, hatte ich herumgejammert, weil ich nicht genug Schlaf und Essen bekam.
Unsere Begleiter auf der Hinreise fuhren über dieselben Straßen zurück, auf denen wir gekommen waren. Julie und ich beschlossen, uns auf das Wagnis eines Flugs mit einem Militärhubschrauber einzulassen – eine Möglichkeit, von der uns die Norweger erzählt hatten. Man riet uns, zu einer nahe gelegenen Landestelle zu fahren und dort auf den Hubschrauber zu warten. Am ersten Tag kam er nicht. Die Soldaten, die mit uns warteten, klärten uns auf, das läge daran, dass keine nüchternen Piloten aufzutreiben waren. Ich hatte natürlich gedacht, dass sie Witze machten, doch als der riesige Hubschrauber am nächsten Tag dann endlich landete, war die ukrainische Belegschaft, die ausstieg, um die Fracht abzuladen, tatsächlich eindeutig sehr betrunken.
Unsere norwegischen Freunde hatten uns informiert, dass keiner ohne schusssichere Weste mitfliegen dürfe. Wir hatten aber nichts dergleichen. Einem freundlichen UNO-Beobachter, der ebenfalls auf eine Mitfluggelegenheit zurück nach Split wartete, erklärten wir das Problem, und er überließ uns freundlicherweise ein paar blaue Postsäcke: Er meinte, sie sähen von Form und Farbe her genauso aus wie die üblichen kugelsicheren Westen. „Nehmt sie einfach in die Hand, wenn ihr einsteigt, die Crew wird nichts merken“, riet er uns.
Er hatte recht. Als wir in den riesigen, höhlenartigen Frachtraum des Hubschraubers einstiegen, glotzten uns die Männer von der Besatzung mit leerem, betrunkenem Grinsen und wässrigen Augen an, und mir wurde klar, dass wir wahrscheinlich irgendetwas in der Hand hätten halten können oder auch gar nichts – aufgefallen wäre es ihnen nicht. Das Monster verschluckte uns wie damals der Wal den Propheten Jona, und dann hob es ab. Wir wurden in dem riesigen Metallfass hin und her geschleudert, denn die Piloten flogen „taktisch“ – also grässlich tief –, sie blieben nah an den Bergflanken oder schwenkten im Zickzackkurs von einer Seite des Tals zur anderen. Wahrscheinlich war das nötig, um das Risiko zu verringern, abgeschossen zu werden, aber ich fragte mich schon auch, wie viel einfach nur auf Trunkenheit am Steuerknüppel zurückzuführen war. Jedenfalls wünschte ich insgeheim, wir hätten beschlossen, ebenfalls über die Waldstraßen zurückzufahren. Aber irgendwann landeten wir dann doch sicher in Split und fanden Mary, unseren riesigen Truck, die treu und brav darauf wartete, uns heimbringen zu dürfen. Wir hätten sie umarmt, wenn unsere Arme lang genug gewesen wären.
II.
Eine Frau, bekleidet mit der Sonne
Es ist unehrlich, an etwas zu glauben und nicht entsprechend zu leben.
(Mahatma Gandhi)
Unsere ganze Kindheit über und auch noch später war der Fluss Orchy eigentlich immer unser Freund, vor allem an Tagen wie diesen, wenn er aufgrund unaufhörlicher Regenfälle und Hochwasser führender Zuflüsse so anstieg, dass er die einzige Zufahrtsstraße zu unserem Anwesen überflutete. Es war für uns immer richtig aufregend, wenn der Fluss drohte, über seine Ufer zu treten und uns vom Rest von Dalmally abzuschneiden. Vor allem dann, wenn das bedeutete, dass wir einen Tag lang nicht in die Schule mussten. Wir nutzten den Fluss in unserer Kindheit zu jeder Jahreszeit als Wasserspielplatz. An warmen Sommertagen trugen wir unser Schlauchboot nach Corryghoil hinauf, einer ruhigeren Wasserstelle mit Sandstrand, wo wir im kühlen tiefen Wasser schwammen. Manchmal lud Dad das kleine Boot auch auf den Anhänger seines Geländewagens und brachte es ein Stück weiter das Tal hinauf, dann ließen wir uns über Wasserfälle und unter überhängenden Ästen hindurch den ganzen Weg bis zur alten Steinbrücke treiben. Manchmal war der Fluss im Winter dick zugefroren, und wir konnten uns mit unseren Freunden, die auf der anderen Seite lebten, auf dem Eis treffen, in unseren Turnschuhen „eislaufen“ oder mit unseren Shinty-Stöcken und einem Stein als Puck „Eishockey“ spielen. Im Herbst verbrachten wir viele Stunden damit, Lachse zu fangen, die sich zu ihrem Laichplatz den Strom hinaufarbeiteten. Auch wenn es lang dauerte, bis man einen fing, so lohnte es sich doch zu warten – wir kamen dann strahlend mit einem köstlichen silbernen Fisch nach Hause und konnten aufregende Geschichten darüber erzählen, wie wir ihn gefangen hatten.
Doch an jenem Spätherbsttag im Jahr 1983 machten wir uns ernsthaft Sorgen, als wir beobachteten, wie das Wasser auf den Feldern unterhalb unseres Hauses immer höher stieg, und wir bemerkten, dass unsere Nachbarn Alasdair und Donald ihre Schafe höher hinauf trieben, denn am nächsten Morgen sollten wir unseren sehnlichst erwarteten Flug nach Jugoslawien erreichen. Schon lang bevor wir zu unserer Nachtfahrt zum Heathrow Airport aufbrechen mussten, war der Fluss über die Ufer getreten und die Straße unter einem unpassierbaren reißenden Sturzbach verschwunden. Aber da eröffnete uns Dad, dass er vorgesorgt hatte: Er hatte unser Auto schon früher jenseits der Stelle geparkt, die jetzt überflutet war, und war dann zu Fuß zurückgekommen. Er drückte uns Taschenlampen in die Hand und wies uns an, den matschigen Pfad am Hang oberhalb der überfluteten Straße entlangzugehen. Das Abenteuer, das unser Leben verändern sollte, begann also mit einem Gang durch Dunkelheit und strömenden Regen, knöcheltief im Schlamm, mit unserem Gepäck auf dem Rücken, und wir mussten darüber lachen, dass unser Dad immer einen Schritt vorausdachte.
Alles hatte wenige Wochen zuvor begonnen. Wir saßen nach dem Frühstück um den Küchentisch. Ruth, meine Schwester, die gerade ihre Universitätsferien zu Hause verbrachte, schaute von ihrer Zeitung hoch und sagte: „Schaut euch das an! Hier heißt es, es gäbe Berichte, dass die Jungfrau Maria ein paar Teenagern in einem Ort namens Medjugorje in Jugoslawien erschienen ist!“ Eine aufgeregte Diskussion folgte. Wir waren eine fromme katholische Familie und kannten berühmte Orte wie Lourdes, wo die Gottesmutter vor langer Zeit erschienen war. Im Jahr zuvor hatten wir sogar an einer Familienwallfahrt zum Marienheiligtum im portugiesischen Fatima teilgenommen. Aber dass die Muttergottes heute, in unserer Zeit, erscheinen sollte, war etwas, das wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten.
„Mum, wenn es auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit gibt, dass das stimmt, dann müssen wir hin!“, bettelten wir. Unsere Eltern erklärten uns, sie könnten zu den bevorstehenden Weihnachtsfeiertagen nicht weg, weil in unserem Gästehaus viel zu tun war (unser Haus war eine traditionelle Unterkunft für Jäger und Fischer). Wir hörten nicht auf zu betteln, und zu unserem Entzücken schlugen sie schließlich vor, dass wir doch allein fahren sollten. Ruth und ihr Freund Ken waren schon neunzehn, mein Bruder Fergus und ich waren sechzehn beziehungsweise fünfzehn. Zwischen diesem Gespräch beim Frühstück und dem Tag der Flut fanden wir heraus, dass das Dorf Medjugorje in der Nähe der Stadt Mostar lag, aber wo genau, das konnten wir auf der Karte nicht sehen. Wir hatten auch keine Ahnung, wie wir vom Flughafen Dubrovnik dorthin kommen sollten oder wo wir während unseres Aufenthaltes wohnen würden. „Das gehört zu einem Abenteuer dazu“, dachten wir – und einige unserer Cousins und Cousinen sowie einige befreundete Studienkollegen von Ruth und Ken, die gefragt hatten, ob sie sich uns anschließen könnten, waren derselben Meinung. So kam es dann schließlich, dass wir als Gruppe von zehn Leuten – einige von der Hüfte abwärts reichlich verdreckt – in das Flugzeug von Heathrow nach Dubrovnik stiegen.
In der umwerfend schönen Stadt Dubrovnik mit ihrer alten Stadtmauer, direkt an der glitzernd blauen Adria gelegen, gelang es uns, eine Unterkunft bei einem Mann zu finden, der lediglich einen einzigen englischen Satz beherrschte – wahrscheinlich hatte er ihn beim Anschauen amerikanischer Filme gelernt. „Take it easy, sonofabitch!“, rief er mit einem breiten Lächeln als Antwort auf jede Frage, die wir ihm stellten. Wir nahmen an, dass seine Pension illegal war, ein kleines privates Unternehmen, das es in diesem kommunistischen Land eigentlich gar nicht geben durfte.
Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass über die Feiertage keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als einige Autos zu mieteten, um unseren Zielort zu erreichen. Bald kurvten wir die wunderschöne Küste entlang und dann durch eine steile Berglandschaft in Richtung Mostar, und immer noch mussten wir über den „Sonofabitch“-Mann lachen, bei dem wir übernachtet hatten. Man hatte uns einige Male gewarnt, dass die Polizei und die kommunistischen Behörden von den Erscheinungen, die in Medjugorje stattfanden, ganz und gar nicht begeistert waren und es auch nicht gerne sahen, dass Ausländer dorthin reisten. Kurz vor unserer Abreise aus Schottland hatten unsere Eltern sogar Anrufe von der jugoslawischen Botschaft bekommen: Man gab ihnen zu verstehen, es sei unverantwortlich von ihnen, uns die Reise zu erlauben. Wir waren daher auch nicht allzu erstaunt, als wir ein paar Kilometer vor Medjugorje von Polizisten angehalten wurden, die uns über die Gründe unseres Aufenthalts ausfragten. Nach wenigen Minuten ließen sie uns weiterfahren. Sie sahen aber wenig begeistert aus, als Ken die Kühnheit besaß, sie nach dem Weg zum Dorf zu fragen.
Dann endlich kamen wir in der kleinen Streusiedlung aus Steinhäusern inmitten von Weinbergen und Tabakfeldern an und parkten vor einer weißen Kirche mit zwei Türmen, die für das winzige Dorf viel zu groß wirkte. Was uns außerdem sofort ins Auge fiel, war ein riesiges Kreuz auf der Spitze des Bergs, an dessen Fuß das Dorf lag. An jenem Werktagsabend betraten wir dann die Kirche. Sie war zu unserer Überraschung voll besetzt bis auf den letzten Platz. Die Leute beteten den Rosenkranz, und wir sahen, dass wohl gleich die Messe beginnen würde. Wir hatten den Eindruck, dass alle Kirchenbesucher außer uns aus dem Dorf stammten. Große, wettergegerbte Männer mit riesigen Bauernhänden, alte Frauen in Schwarz und Familien mit Kindern sangen und beteten aus ganzem Herzen. Es war eine Messe, wie wir sie so noch nie erlebt hatten, und wir waren sehr bewegt von diesem erstaunlichen Glaubenszeugnis. Nach der Messe kam der Priester auf uns zu, stellte sich uns als Pater Slavko vor und fragte uns, woher wir kämen. Er war überrascht, als er erfuhr, dass wir von Schottland hierher gekommen waren, und fragte uns, wo wir vorhatten zu übernachten. Wir sagten ihm, wir wüssten es noch nicht, und er erklärte uns, dass es im Dorf keine Hotels oder Pensionen gäbe. Er stellte uns seiner Schwester und deren Familie vor, und sie sagte sofort, dass wir mit ihr kommen und bei ihr wohnen sollten. In der Familie gab es drei Söhne, die ungefähr so alt waren wie wir. Ihre Cousine Gordana war für die Weihnachtsferien aus Australien gekommen. Sie dolmetschte für uns mit Engelsgeduld und hörte in den nächsten paar Tagen auch nicht damit auf. Wir sprachen über italienischen Fußball – eine Leidenschaft, die wir mit den Söhnen der Familie teilten – und über die außerordentlichen Ereignisse, die sich in diesem Dorf zugetragen hatten.
Sie erklärten uns, dass am 24. Juni 1981 zwei Teenager aus dem Dorf, die am Abend auf der Straße unterwegs waren, eine Dame am Berghang stehen sahen, die sie als die „Gospa“ (das kroatische Wort für Gottesmutter) erkannten. An den folgenden Tagen wurden sie von vier weiteren Kindern begleitet, die die Gottesmutter ebenfalls sahen und hörten, wie sie zu ihnen sprach. Sie sagte ihnen, sie sei die Jungfrau Maria, die Königin des Friedens. Gleich zu Beginn teilte sie ihnen mit: „Ich bin gekommen, um der Welt zu sagen, dass Gott existiert. Er ist die Fülle des Lebens, und um dieser Fülle teilhaftig zu werden und Frieden zu erlangen, müsst ihr zu Gott umkehren.“ Von da an sahen diese sechs Kinder die Gottesmutter täglich und sprachen mit ihr, und innerhalb weniger Tage versammelten sich Tausende von Menschen aus der Region am Berg, um bei den Kindern zu sein, wenn sie auf die Knie fielen und mit jemandem sprachen, den alle anderen Anwesenden nicht sehen konnten. Als sich diese Nachricht allerdings ausbreitete und auch Menschen von weiter her eintrafen, fühlten sich die kommunistischen Behörden von diesen öffentlichen Bekundungen religiösen Eifers provoziert und griffen rigoros durch. Die Jugendlichen wurden in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo sie verhört und mit Haftstrafen bedroht wurden, doch alle blieben bei ihren Aussagen – sogar der Jüngste, der erst neunjährige Jakov Colo. Die Versammlungen am Berg wurden verboten, woraufhin die Massen begannen, stattdessen allabendlich in die Kirche zu strömen. Nun hatten die Kinder dort ihre Erscheinungen. Inzwischen war der Gemeindepriester, Pater Jozo Zovko, der anfänglich bezüglich der Behauptungen der Kinder skeptisch gewesen war, ihnen aber mittlerweile glaubte, für drei Jahre inhaftiert worden, weil er sich für sie eingesetzt hatte.