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Im Lauf der Zeit veränderte sich die Art von Sachspenden, die wir verschickten. Als in bestimmten Gebieten Bosnien-Herzegowinas und Kroatiens wieder eine gewisse Ruhe einkehrte, begannen die Flüchtlinge, in ihre zerstörten, geplünderten Häuser zurückzukehren. Dadurch entstand ein großer Bedarf an Dingen, um wieder ein normales Leben anfangen zu können. Jetzt beluden wir unsere Fahrzeuge also mit Essbesteck, Küchenutensilien und Handwerkszeug.
Eine Gruppe von Leuten, die die Möglichkeit erwogen, wieder heimzukehren, war gut mit uns befreundet. Es waren bosnische muslimische Flüchtlinge, die in Glasgow lebten. Sie waren 1992 aus ihrer Heimatstadt Bosanski Petrovac geflohen, die in einem von Serben kontrollierten Teil von Bosnien-Herzegowina lag, und irgendwann, nach ihrer Evakuierung durch die UNO, waren sie zufällig in Glasgow gelandet. Hier kamen sie jetzt regelmäßig in unser Lager, um uns als freiwillige Helfer beim Vorbereiten der Hilfsgüter zum Transport in ihre Heimat zur Seite zu stehen. Sie wurden regelmäßige Mitarbeiter im Lager-„Team“ von Freiwilligen – sie sagten, hier mitmachen zu können gebe ihrem zerbrochenen Leben einen neuen Sinn. Sie wollten nicht nur unbedingt die englische Sprache und den Umgang mit einer ihnen fremden Kultur lernen; sie fanden auch das Leben im 17. Stock eines Wohnblocks in der City sehr anders als ihr früheres Leben auf dem Dorf. Es war eine Gruppe von zwölf Leuten, lauter enge Verwandte, und manchmal luden wir sie nach Dalmally zum Barbecue ein.
Suad und seine Frau Zlata, die einen kleinen Sohn hatten, waren ungefähr in unserem Alter, und es entstand eine enge Freundschaft. Ihr Englisch wurde immer besser, und nun wollten sie uns mehr von dem erzählen, was sie durchgemacht hatten. Sie erklärten, vor dem Krieg hätten in ihrem Dorf Serben und Muslime friedlich miteinander gelebt. Viele Nachbarn waren Serben, die sie schon ihr Leben lang gekannt hatten.
„Wir arbeiteten gerade auf den Feldern, wie wir es immer taten“, erklärte Suad. „Plötzlich wurde geschossen. Die Stimmung im Dorf war spürbar gespannt. Wir wussten alle, was in anderen Teilen von Bosnien-Herzegowina geschah. Aber nicht einmal eine Woche davor waren wir von unseren serbischen Nachbarn zu einem Fest eingeladen worden. Die Schüsse kamen aus der Nähe dieses Nachbarhauses, neben unserem Feld. Mein Vater und mein Bruder Mersad fielen zu Boden. Sie bluteten. Ich bin auch getroffen worden.“ Und er zeigte auf seinen vernarbten Arm.
„Es hat lang gedauert, bis mein Bruder Mersad gestorben ist. Er schrie immer wieder: ‚Suad, hilf mir‘, aber ich konnte nicht. Ich war selber voller Blut.“ „Wir haben vom Haus aus alles gesehen“, sagte Zlata leise. „Wir wollten zu ihnen aufs Feld hinausrennen, aber der Serbe lauerte in ein paar Büschen in der Nähe und schoss. Er hätte uns umgebracht. Edin, der Sohn von Mersad, war zehn. Er versuchte dauernd zu seinem Papa rauszurennen, und wir mussten ihn zurückhalten. Irgendwann, als es dunkel wurde, schaffte Suad es, ins Haus zu kriechen.“
Am nächsten Tag quetschten sie sich in von den Vereinten Nationen bereitgestellte überfüllte Busse, mit denen sie nach Zagreb evakuiert werden sollten. Sie gerieten unter serbischen Beschuss; es war eine entsetzliche Reise in der Hitze, ohne Proviant und Wasser.
„Ich musste mein Hemd als Windel für Zlatan benutzen – er war damals noch ein Baby“, erzählte Zlata uns mit Tränen in den Augen.
1995 wendete sich das Blatt. Die Serben hatten die Kontrolle über diesen Teil von Bosnien-Herzegowina weitgehend verloren. Wir konnten wieder anfangen, Hilfsgüter in die Stadt Bihac zu liefern, die eine entsetzliche, drei Jahre währende Belagerung hinter sich hatte, und dann auch in die Heimatstadt unserer Freunde, nach Bosanski Petrovac. Suad erhielt jetzt Nachrichten von Leuten, die in ihre Stadt zurückgekehrt waren, und sie drängten ihn, doch auch wieder heimzukommen.
Sie beschlossen daraufhin tatsächlich heimzugehen – obwohl es dort keine Arbeitsplätze gab, keine Sicherheitsgarantien, nur ein schwer beschädigtes Haus und einige Felder, in denen womöglich Minen lagen. Und wir beschlossen, sie zu begleiten. Wir befüllten einen großen Anhänger mit all den Besitztümern, die sie in Glasgow angesammelt hatten, außerdem diverse weitere Waren und Werkzeuge, die ihnen helfen sollten, wieder ganz von vorn anzufangen. In der Zwischenzeit hatten wir außerdem für ein psychiatrisches Krankenhaus in Kroatien, das wir regelmäßig mit Hilfsgütern belieferten, einen Minibus gespendet. Wir planten jetzt also, dass ich die Gruppe in diesem Minibus heimfahren, das Fahrzeug dann im Krankenhaus lassen und mit dem Flugzeug wieder zurückkehren würde. Als die BBC von unserem Vorhaben erfuhr, beschloss man dort, eine Dokumentation über unsere Reise zu drehen. Wir winkten also für die Kameramänner dem prall gefüllten LKW hinterher, als er vor uns von dem Platz vor unserem Lagerhaus in Glasgow wegrollte, und stiegen in unseren Bus. In der Gruppe waren alle Altersstufen vertreten: von einem Zweijährigen bis zur alten Großmutter. Wir brachen auf in Richtung Süden – zur Fähre und dann aufs europäische Festland.
Bei der Ankunft in Belgien hielten wir an der Grenze an und zeigten unsere Pässe. Die Polizei studierte die Papiere der Bosnier und wirkte deutlich gestresst. Sie stellten Fragen und telefonierten. Dann informierten sie uns, dass die Papiere lediglich für die Einreise in Kroatien und Bosnien-Herzegowina gültig waren, aber nicht, um damit die dazwischenliegenden europäischen Länder zu durchqueren. Sie beschlossen daher, uns wieder nach England abzuschieben. Wir stellten auch Fragen und telefonierten, aber das brachte nichts, und schließlich saßen wir dann tatsächlich wieder auf der Fähre nach England.
Mir war klar, dass die Bosnier keine Unterkunft hatten, in die sie in Glasgow zurückkehren konnten, und ihre Habseligkeiten waren – zusammen mit der Film-Crew von der BBC – bereits unterwegs nach Bosnien-Herzegowina. Ich rief Julie an und fragte sie, wie viel Geld wir noch auf dem Konto hätten und was die Flüge von Heathrow kosten würden. Wir stellten fest, dass es genau reichte, um die ganze Gruppe nach Zagreb zu fliegen. Also brachte ich sie vom Fährhafen zum Heathrow Airport und setzte sie ins Flugzeug. Dann fuhr ich erneut Richtung Süden – innerhalb von zwei Tagen bestieg ich meine dritte Kanalfähre und steuerte dann mit dem Bus Zagreb an. Mittlerweile brauchte ich keine Landkarte mehr, um unsere diversen Zielorte im ehemaligen Jugoslawien zu erreichen, und es war toll zu sehen, wie schnell ich – im Vergleich zum langsameren Vorwärtskommen mit dem LKW, an das ich mich mittlerweile gewöhnt hatte – all die Länder durchquerte.
Gleichzeitig arrangierte Julie, dass die bosnischen Familien bei ihrer Ankunft in Zagreb von Marijo in Empfang genommen wurden. Er nahm sie mit zu sich nach Hause, wo sie bleiben konnten, bis ich eintraf. Als ich dann am nächsten Tag ankam, bestiegen alle wieder den Bus für den letzten Abschnitt dieser emotionalen Reise über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina hinein. Ich staunte über die Dokumentation, die die BBC über diese Reise gemacht hatte, wie geschickt sie ihr Material zusammengefügt hatten: Nichts deutete auf die Abschiebungen und Flüge hin, die zwischen der Abreise in Glasgow und der Ankunft in Bosnien-Herzegowina stattgefunden hatten!
Nach dem üblichen Überprüfen der Papiere an der bosnischen Grenze wurden wir durchgewinkt. Zlata durchbrach das Schweigen mit einem Ruf.
„Wir sind keine Flüchtlinge mehr!“
Alle im Bus weinten. Und das Schluchzen nahm noch zu, als wir schließlich im zerstörten Bosanski Petrovac ankamen. Jedes Gebäude war voller Einschusslöcher, und viele Häuser waren nur noch erbärmliche Schutthaufen.
Die Begrüßung durch enge Freunde, die sie seit über drei Jahren nicht gesehen hatten, war voller ungestümer Emotionen. Es gab so viele Neuigkeiten. So viele schreckliche Dinge hatten sie erlebt, die sie nie mit anderen hatten besprechen, nie hatten verarbeiten können. Und so viele Veränderungen in ihrer alten Stadt. Die Serben waren jetzt nicht mehr da. Es war nun eine muslimische Stadt – so muslimisch wie nie zuvor. Während viele Häuser noch zerstört waren, wurde bereits eine neue Moschee gebaut. Muslime wie diejenigen, mit denen ich gerade angekommen war, hatten ihre Religion zuvor gar nicht aktiv praktiziert. Ich hatte während des Krieges sogar einige junge Muslime getroffen, die mir sagten, sie hätten vor dem Krieg überhaupt nicht gewusst, dass sie Muslime waren. Lediglich ihr Familienname signalisierte ihre Religion – und besiegelte damit manchmal ihr Schicksal.
Bosanski Petrovac war zwar ihre Heimatstadt, und sie waren außerordentlich froh, wieder hier zu sein, doch in mancher Hinsicht war es ein fremdes Land. Ich kam mit der Situation nicht gut zurecht. Das Austauschen von Erfahrungen und diese Begegnungen, ich mitten darin – es war alles so persönlich und intim, dass ich eigentlich nur den Wunsch verspürte, sie möchten das, so gut sie konnten, unter sich abklären, ohne mich.
Ich brach sehr früh am nächsten Morgen von Bosanski Petrovac auf. Suad und seine Familie schliefen noch – in ihrem eigenen Haus. Ich hätte mich eigentlich beschwingt fühlen müssen, aber die Fahrt war alles andere als angenehm. Viele Meilen weit fuhr ich durch eine ländliche Gegend und durch Dörfer, in denen es überhaupt keine Menschen mehr gab. Das einzig Lebendige außer mir waren wilde Hunde, die durch Trümmer und Müll stromerten. Ich befand mich hier in einem Teil der Krajina, einem Gebiet, das im Krieg ganz überwiegend von den Serben besetzt gewesen war. Erst vor Kurzem waren sie hier besiegt worden, und mir wurde zunehmend bang, als ich so ganz allein durch diese Ödnis fuhr. Ich fing an, mich zu fragen, ob die Leute in Bosanski Petrovac, die ja auch gerade erst wieder zurückgekehrt waren, tatsächlich über die aktuelle Lage Bescheid wussten, als sie mir sagten, es sei sicher, auf dieser Straße nach Kroatien und zur Adriaküste zu fahren, wo die Leute im Krankenhaus auf den Minibus warteten. Es gab keine Straßenschilder und auch sonst keine Möglichkeit herauszufinden, ob ich auf der richtigen Straße war – ich begann mir Sorgen zu machen, ob ich womöglich in eine Gegend geraten könnte, in der ich nicht willkommen sein würde.
Die Stunden vergingen, ohne dass ich irgendwo Menschen sah. Nicht nur Angst, auch ein neuer, überwältigender Hass auf den Krieg und seine Sinnlosigkeit stieg in mir auf. Ich fragte mich, was jetzt wohl aus all den Serben wurde, die gezwungen worden waren, die jetzt leer stehenden Häuser an der Straße und die Dörfer zu verlassen, in denen sie seit Generationen gelebt hatten. Es war ganz klar, dass es in diesem Krieg keine Gewinner gab, sondern nur Menschen, die jeweils auf eigene, schreckliche Weise zu Verlierern wurden.
Irgendwann fand ich schließlich den Weg aus den Bergen Bosnien-Herzegowinas heraus, und am selben Abend war ich dann in einer anderen Welt – aß fantastischen Fisch, mit Blick auf die glitzernde Adria und in Gesellschaft einiger Freunde aus dem Krankenhaus, die sich über ihren neuen Bus freuten.
Erst im Flugzeug auf dem Rückweg fiel mir wieder unser Bankkonto ein. Die 4200 Pfund, die wir für die Flugzeugtickets nach Zagreb ausgegeben hatten, hatten es praktisch auf null reduziert. Die Bitten um Hilfe würden sich stapeln. Und ich fragte mich auch, wie wir einige offene Rechnungen bezahlen und die nächste Lieferung finanzieren sollten. Als ich zu Hause eintraf, konnte eine lächelnde Julie kaum erwarten, mir das Neueste zu erzählen.
„Heute Morgen traf ein Scheck von einem Priester in Irland ein. Wir kennen ihn nicht. Er will keinen Dankesbrief. Er möchte, dass das anonym bleibt“, sagte sie, und ihre Stimme war ganz zittrig. „Es ist ein Scheck über 4200 Pfund.“
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