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Doktor Mauritz mochte die etwas burschikos anmutende Frau, insbesondere, weil es ihr mit ihrer ruhigen und ausgleich enden, manchmal vielleicht auch naiven Art meistens gelang, Will auf den Boden zurückzuholen, wenn dieser mal wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Das einzige Problem war, dass man sich sehr geschickt in ein Gespräch mit Marlene einfädeln musste, um überhaupt selbst zu Wort zu kommen. Diese Kunst hatte Doktor Mauritz in den letzten Jahren perfektioniert. Er nannte sie stolz die „Apropos“-Methode.
Gerade holte Marlene wieder zu einer weitschweifigen Er klä rung zu einigen Umbaumaßnahmen auf dem Hof aus: „Bei der alte Hühnerstall war uns ja wegen die Statistik das Dach eingebrochen. Da hab ich für der Will gesagt ...“
„Apropos Einbruch“, ging Doktor Mauritz prompt dazwi schen, „gibt es eigentlich Neuigkeiten zu dieser unheimli chen Einbruchsserie in Saffelen?“
Die Einbrüche waren in der Tat unheimlich. Nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten, abgesehen von ein paar jugendlichen Vandalismus-Aktionen in der Mainacht, in Saffelen so gut wie keine Kriminalität gegeben hatte, war in den letzten beiden Wochen insgesamt viermal gewaltsam in Häuser ein gebrochen worden. Die Polizei vermutete einen Serieneinbrecher, weil jeder Einbruch die gleiche Handschrift trug. Immer kam der Täter durch die Haustür, die er fachmännisch mit einem Dietrich geöffnet hatte.
Wieder war Marlene schneller mit der Antwort: „Ist das nicht schlimm, Herr Doktor? Vor allem bei der Witwe von Gerhard Geiser. Die arme Frau. Da ist ihr Mann gerade mal eine Woche tot, da wird auch noch in der ihr Haus eingebro chen. Bestimmt weil die bei der Beerdigung so einen teuren Pelzmantel anhatte mit so ein umgehängter toter Fuchs. Den hatte die gekauft bei ...“
„Apropos tot. Wer war denn noch mal Gerhard Geiser? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Was? Sie kennen Gerhard Geiser nicht?“ Jetzt hatte Wills Stunde geschlagen. „Gerhard Geiser war der wichtigste Mann, der in Saffelen je gelebt hat. Er ...“
„Jetzt übertreib es nicht schon wieder, Will“, ging Marlene dazwischen. Doch dieses Mal ließ er sich nicht von seiner Frau bremsen.
„Gerhard Geiser war über 45 Jahre lang der Ortsvorsteher von Saffelen und fast genauso lang der erste Vorsitzende von fast alle Vereine in Saffelen, abgesehen von den katholischen Strickfrauen – da war der nur im Aufsichtsrat gewesen. Der Mann war eine Lichtgestalt, eine lebendige Legende. Als er mir vor fünf Jahre das Amt des Ortsvorstehers übertragen hat, da war das eine Ehre für mich. Ein paar Monate vor sein Tod ist er sogar noch zum Ehrenbürger des Kreises gewählt worden. Völlig zu Recht. Ich durfte ihn sogar nach dem Kreishaus hinfahren.“
„Ja ja“, ergänzte Marlene, „weil der vorher sein Führerschein aus Altersgründe abgeben musste. Wissen Sie, Herr Doktor, Gerhard Geiser war zwar ein einflussreicher und geachteter Mann, aber er war auch ein ganz schöner Sturkopf. Der ist das auch schuld mit die Euterentzündung.“
Doktor Mauritz zog die Augenbrauen hoch. Will winkte grimmig ab, sagte aber nichts.
„Der war es nämlich“, fuhr Marlene fort, „der der Will überredet hat, die Melkmaschine umprogrammieren zu lassen, dass die was stärker ist. Der Will hat immer alles gemacht, was der Gerhard gesagt hat. Der hat sogar ein gerahmtes Bild von Gerhard Geiser überm Telefon aufgehängt, das muss man sich mal vorstellen. Aber ich mochte der Gerhard nie so richtig, Herr Doktor. Dafür mag ich dem seine Frau umso lieber. Und die war sehr niedergeschlagen, als der Gerhard vor drei Wochen gestorben ist. Die wollte noch nicht mal meine Kiwi-Jägermeister-Torte ...“
„Apropos niedergeschlagen. Ist nicht bei einem dieser Einbrüche sogar jemand niedergeschlagen worden?“
„Das stimmt, Herr Doktor“, Will nickte ernst, „Eidams Theo hatte der Täter nachts im Flur überrascht und in ein mutiger Zweikampf versucht, dem zu überwältigen. Aber der Einbrecher war stärker und hat dem brutal mit ein schwerer Gegenstand auf der Kopf geschlagen. Das musste mit zwölf Stiche genäht werden. Der hat viel Glück gehabt, hat der Arzt gesagt“, Will war nachdenklich geworden, während er so sprach, „und wenn ich so da drüber überleg. Ich glaube, ich sollte in meiner Funktion als Ortsvorsteher eine ,Aktuelle Stunde‘ in der Gaststätte Harry Aretz einberufen. Und zwar mit sofortiger Wirkung. Für mal zu überlegen, wie wir auf die Einbrüche reagieren können.“
Marlene verschränkte die Arme vor der Brust und verzog verächtlich den Mund: „Pff. Aktuelle Stunde. Dass ich nicht lache. Ihr wollt doch bloß wieder blöde rumquatschen und am Ende seid ihr wieder alle voll wie die Eimer. Aber eins sag ich dir ...“
Doktor Mauritz sah demonstrativ auf die Uhr: „Apropos voll. Mein Terminkalender ist übervoll. Ich muss los.“ Der Doktor bedankte sich für den Kaffee, nahm seine Arzttasche und verabschiedete sich.
Aber Will hörte schon nicht mehr zu. Er überlegte bereits, mit welchen Worten er die „Aktuelle Stunde“ eröffnen würde. Schließlich ging es ja diesmal um ein wirklich wichtiges Thema. Allerdings ahnte Hastenraths Will zu diesem Zeit punkt noch nicht, dass er bereits mitten drin steckte – im größten Kriminalfall, der Saffelen je erschüttert hatte.
4
Mittwoch, 7. Mai, 20.08 Uhr
Will hatte seinen Parka ordentlich über den Stuhl gehängt. Er strich sich noch einmal über sein kariertes Hemd, das Marlene ihm zur Feier des Tages aufgebügelt und mit Textil erfrischer besprüht hatte. Alle wichtigen Funktionsträger des Dorfes waren zur ,Aktuellen Stunde‘ im großen Saal der Gaststätte Harry Aretz erschienen und hatten sich unter lautem Gemur mel an dem langen Tisch niedergelassen, den der Wirt extra von der Kegelbahn herüber in den Saal getragen hatte. Will saß am Kopfende und ging noch einmal im Geiste die Begrüßungs sätze durch, die er intensiv vor dem großen Standspiegel in seinem Flur geübt hatte. Er erhob sich langsam und staatsmännisch und nahm den alten, kunstvoll aus edler Mooreiche geschnitzten Richterhammer in die Hand. Diesen Richter ham mer, der eigentlich ein Versteigerungshammer war, hatte er von Gerhard Geiser höchstpersönlich überreicht bekommen, als dieser ihn in einem erhabenen Zeremoniell zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Will rückte kurz den Holzsockel in Position, auf den er in wenigen Augenblicken den Hammer sausen lassen würde, um für Ruhe zu sorgen. Er räusperte sich etwas lauter als nötig und klopfte dreimal kräftig auf den Sockel. Mit leichter Verzögerung kehrte im Saal Ruhe ein. Alle Augen waren nun auf den Ortsvorsteher gerichtet. Will sah bedeutungsschwer von einem zum anderen. Mit wohl ge setzter, knarzend-tiefer Stimme begann er: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“
Plötzlich öffnete sich geräuschvoll die Falttür, die den Saal vom Schankraum trennte, und Richard Borowka schob sich umständlich herein, den Kopf rückwärts Richtung Theke gerichtet: „Harry, auf dem Klo sind die Papierhandtücher alle.“ Dann schloss er die Falttür wieder, wischte sich beide Hände an seinen Hosenbeinen ab und durchschritt gemächlich den Saal bis zu seinem Platz. Unterwegs grüßte er mit angedeute tem Kopfnicken die Anwesenden. Sein Platz war zur rechten Seite von Will, da er als Pressewart das Protokoll zu führen hatte. Bevor er Platz nahm, schüttelte er dem leicht verärgerten Will kurz die Hand und ließ sich unter lautem Stöhnen auf seinen Stuhl fallen. Er strich sich durch seine gepflegte Fönfrisur und sagte: „Tschuldigung. Der Auto ist nicht ange sprungen. Musste ich zu Fuß gehen. Seid ihr schon lange dran?“
Will sah missbilligend auf Borowka herunter: „Ich wollte gerade anfangen, Richard. Also, schreib mit. Das ist alles wichtig, was ich jetzt sage.“
Borowka erhob sich noch einmal kurz und zog einen Kugelschreiber der Spar- und Darlehenskasse Saffelen und einen geknickten Spiralblock aus der hinteren Hosentasche. „Kann losgehen.“
Will faltete die Hände vor der Brust, atmete mit großer Geste ein und begann von Neuem: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“
Erneut öffnete sich die quietschende Falttür. Herein trat diesmal Maurice Aretz, der Neffe des Kneipenwirts Harry Aretz, der sich als Gelegenheitskellner sein karges Gehalt aufbesserte. Maurice hatte gerade in der Nachbargemeinde Waldfeucht eine Lehre zum Versicherungskaufmann abgeschlossen. Er war eine Art Ziehsohn von Harry Aretz. Hiltrud, Harrys Schwester, hatte Maurice vor mehr als 22 Jahren unehelich im Kreiskrankenhaus zur Welt gebracht. Das alleine war seinerzeit in Saffelen schon ein Skandal gewesen. Dass der mutmaßliche Kindsvater, ein Dachdecker aus Krefeld, sich unmittelbar nach der Niederkunft aus dem Staub gemacht hatte, machte es der alleinerziehenden jungen Mutter erst recht nicht leicht, in der Dorfgemeinschaft Fuß zu fassen. Als Maurice vier Jahre alt war, verließ auch Hiltrud Saffelen in einer Nachtund Nebelaktion für immer und ließ Maurice in der Obhut ihres Bruders zurück. Es hieß, sie würde heute mit einer neuen Familie in Hamburg leben. Genau wissen tat es aber niemand. Und eigentlich wollte es auch niemand wissen – die ganze Geschichte war im Laufe der Jahre zu einem Tabuthema gewor den. Seit jener Zeit vor 18 Jahren hatte sich Harry Aretz seines Neffen angenommen und ihn großgezogen statt eines eigenen Sohnes, den er wegen des frühen Tods seiner Frau nie haben durfte. Maurice hatte seinen Onkel von diesem Kummer abgelenkt. In der Schule zählte er zu den Besten und auch als hoch talentierter Leichtathlet hatte er seinen Verein schon oft bei überregionalen Wettkämpfen vertreten. Er war sogar zwei Jahre lang Zehnkämpfer gewesen und stand kurz vor der Aufnahme in einen Förderkader des Leichtathletik-Verbands Nordrhein, doch dann beendete ein Kreuzbandriss seine junge Karriere. In absehbarer Zeit beabsichtigte er, ins Ausland zu gehen. Deshalb sparte er eisern das Geld, das er sich mit dem Kellnern dazuverdiente.
Etwas unsicher stand Maurice nun im offenen Spalt der Falttür und hielt einen Block und einen Stift in der Hand. Offensichtlich wollte er die Getränkebestellung aufnehmen. „Ach, der Morris“, rief eine Stimme aus der Runde. Alle im Dorf nannten ihn Morris. Die einen, weil es sich besser aussprechen ließ als Maurice, die anderen, weil ihnen gar nicht bewusst war, dass man diesen Namen auch anders ausspre chen konnte.
Borowkas Miene hellte sich auf. Er zupfte Will aufgeregt am Ärmel und rief: „Ich würde mal sagen, wir gehen sofort über zu Tagesordnungspunkt eins – Bier- und Schnapsbestellung.“ Lautes Gelächter erfüllte den Saal. Ein aufgeregtes Stim mengewirr entspann sich und Maurice machte sich eifrig Notizen.
Nachdem er den Saal wieder verlassen hatte, wartete Will so geduldig, wie es ihm möglich war, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Er räusperte sich noch einmal laut vernehmlich, bevor er erneut ansetzte: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“
„Entschuldigung, Herr Hastenrath. Lassen Sie uns doch bitte gleich zum Punkt kommen. Ich muss heute Abend noch einige Diktate durchsehen.“ Die Stimme, die Will nun völlig aus dem Konzept brachte und konsterniert in die Runde blicken ließ, gehörte Peter Haselheim, dem Saffelener Grundschullehrer. Während dieser sich selbstbewusst erhob, ließ sich Will schwer fällig, fast wie in Trance, auf seinen Stuhl zurücksinken. Er sah
Peter Haselheim sprachlos mit großen Augen an.
Peter Haselheim war ein blendend aussehender Mittdreißi ger, der vielen Frauen im Dorf gefallen hätte, wenn er nicht so furchteinflößend intelligent und darüber hinaus verheiratet gewesen wäre. Er verstand es, in Schachtelsätzen zu sprechen, Fremdwörter im richtigen Zusammenhang zu benutzen oder Philosophen zu zitieren, deren Namen nie zuvor ein Saffelener gehört hatte. Keine Frage, Peter Haselheim war zwar vielen unheimlich, doch er genoss einen gewissen Respekt im Dorf, fast so großen wie der Dorf-Apotheker. Also, zumindest so großen Respekt, wie man ihn einem Zugezogenen in Saffelen zubilligte. Und so kam es auch, dass er dem Ortsvorsteher widerspruchslos ins Wort fallen konnte: „Warum sind wir heute hier? Wir sind hier, um zu überlegen, wie man der Einbruchsserie Herr werden kann, respektive, wie man präventiv vorgehen kann, damit so etwas nicht mehr geschieht.“
Die Dorfbewohner sahen einander unsicher an, nickten aber einträchtig.
Peter Haselheim liebte die große Bühne und so schritt er dozierend auf und ab, mal hob er beschwörend den Arm, mal ließ er beiläufig eine Hand in der Tasche verschwinden. Die Saffelener klebten an seinen Lippen – mit Ausnahme von Will und Borowka. Will, weil er beleidigt und Borowka, weil er eingenickt war.
Haselheim war ein Freund von Fragen, die er sich gleich selbst beantwortete: „Warum müssen wir uns selbst helfen? Weil die Polizei nach einem Notruf mindestens 40 Minuten braucht, bis sie Saffelen über die Landstraße erreicht hat. Also müssen wir den Täter auf eigene Faust entlarven. Aber wie macht man das? Ganz einfach: Wir müssen ein Profil des Täters erstellen. Wir müssen dem Täter, wenn noch kein Gesicht, dann zumindest schon mal einen Namen geben. Aber welchen?“
„Er hat doch schon einen Namen: Einbrecher.“ Paul-Heinz Mobers, seines Zeichens pensionierter Baustellenpolier und Saffelens angesehenster Schwarzarbeiter, steckte sich genüsslich eine Zigarre an und blies den Rauch in den Raum. Ein paar der Anwesenden lachten.
Haselheim warf ihm über die Schulter einen verächtlichen Blick zu und fuhr unbeirrt fort: „Woher ich weiß, dass so was nötig ist? Ich habe kürzlich einen spannenden Kriminalroman gelesen: ,Cupido‘ von Jilliane Hoffman.“
Plötzlich beugte sich ein Mann in einer Feuerwehruniform vor. Auf seinem Kopf trug er würdevoll einen fluoreszierenden Feuerwehrhelm mit einem reflektierenden roten Streifen. Bei dem Mann, der einen nervös-unbeholfenen Eindruck machte, handelte es sich um Josef Jackels, den Löschmeister und Spre cher der Freiwilligen Feuerwehr Saffelen. Er war 59 Jahre alt und etwa genauso lange schon der Nachbar und beste Freund von Hastenraths Will. Er war herzensgut, manchmal jedoch von beängstigender Naivität. Dennoch hatte er sich durch seine zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die vom Würstchen wender beim Pfarrfest bis hin zum Körbchenrundgeber in der Kirche reichten, zu einer Autorität im Dorf entwickelt. Sein Wort wurde gehört, seine Meinung hatte Gewicht. Und so horchte Hastenraths Will interessiert auf, als Josef Jackels das Wort ergriff, hoffte er doch, plötzlich unerwartete Schützenhilfe im Kampf gegen diesen aufgeblasenen Lehrer zu erhalten.
Josef Jackels sah Peter Haselheim mit ernstem Blick an und fragte: „Liliane Hoffmann? Ist das die Tochter von Hoffmanns Leo? Die mit die abstehenden Segelohren, der der Mann laufen gegangen ist?“
Will verdrehte die Augen, während sich Haselheim ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Nein, Herr Jackels. Jilliane Hoffman ist eine amerikanische Schriftstellerin. Die hat einen Bestseller geschrieben ... also ein berühmtes Buch. Darin geht es um einen Serienmörder und der bekommt von der Presse den Namen ,Cupido‘.“
Josef Jackels stockte kurz, nickte dann wissend, murmelte leise: „Richtig, Cupido“, und lehnte sich wieder zurück in den Schatten seiner Sitznachbarn.
Dafür ergriff Heribert Oellers nun das Wort. Heribert Oellers war eine imposante Erscheinung von massiger Statur mit ständig ölverschmierten Fingernägeln. Er war der gestrenge Inhaber von Autohaus Oellers, dem erfolgreichsten Unternehmen und größten Arbeitgeber von Saffelen. In seiner Firma war fast die gesamte Saffelener Fußballreserve beschäftigt, darunter auch Fredi Jaspers im Büro und Richard Borowka in der Werkstatt. Oellers’ brummige Stimme klang wie ein herannahendes Fliegergeschwader: „Was soll der Quatsch mit das Buch? Und was ist Cupido überhaupt für ein bescheuerter Name?“
Peter Haselheim ärgerte sich über diesen Einwurf, aber er wusste, dass er den einflussreichen Gebrauchtwagenmogul auf seine Seite bringen musste. „Sie haben absolut Recht, Herr Oellers“, er sah dem Autohausbesitzer tief in die Augen, „aber da wir es auch hier mit einem namenlosen Serientäter zu tun haben, wäre es gut, ihm einen Namen zu geben. Sie haben auch Recht, Herr Oellers, wenn Sie sagen, der Name ,Cupido‘ sei nicht mit Bedacht gewählt. Cupido ist, wie wir alle wissen, in der römischen Mythologie der Liebesgott. Entsprechend dem Eros in der griechischen Mythologie.“ Im Saal wechselten unsichere Blicke. Es war mucksmäuschenstill. Nur das schwere, regelmäßige Atmen von Borowka war zu vernehmen. Hasel heim fuhr ungerührt fort: „Angesichts der Gefahrenlage, in der wir uns in Saffelen befinden, halte ich einen anderen Namen für unseren Mann für wesentlich passender. Warum? Weil es der Name des Gottes der Totenwelt ist!“ Haselheim hielt beschwörend beide Arme in die Höhe. Seine Stimmlage wechselte fast unmerklich in einen bedrohlichen Unterton. „Meint er etwa Hades?, werden Sie alle sich fragen. Nein, mir, und ich denke auch Ihnen allen, liegen die alten Römer mehr als die alten Griechen. Deshalb möge unser Einbrecher fortan den Namen PLUTO tragen!“ Seine letzten Worten ließ er lange nachhallen, dann strich er sich mit großer Geste durchs Haar und setzte sich sichtlich zufrieden auf seinen Platz.
Im Saal brachen hitzige Diskussionen aus, an denen sich alle beteiligten. Außer Borowka, der tief und fest schlief und Will, der eingeschnappt vor sich hin stierte und sich die ganze Zeit fragte, warum um alles in der Welt man einen Einbrecher nach einem Schokoriegel benennen sollte.
5
Mittwoch, 7. Mai, 20.14 Uhr
Langsam breitete sich in seinem Magen eine wohlige Wärme aus. Ein Jägermeister kann Wunder wirken, dachte Frantisek. „Noch einen“, rief er dem Mann hinter dem Tresen zu, „und für Kumpel auch.“
Der wortkarge Wirt, der die ganze Zeit stoisch ein Bierglas nach dem anderen poliert hatte, legte langsam das Spültuch zur Seite und nahm die Jägermeisterflasche aus dem Regal, ohne seinen Blick von Frantisek zu wenden. Nachdem er wortlos die beiden Schnapsgläser aufgefüllt hatte, wandte er sich wieder den Biergläsern zu.
Frantisek stieß seinen Kumpel an und raunte ihm zu: „Was ist das für alter – wie sagt man – Grieskorn? Spricht kein Wort und glotzt die ganze Zeit mich an.“
Hermann fixierte den Wirt aus dem Augenwinkel und sah Frantisek mit trübem Blick an: „Griesgram, nicht Grieskorn. Was regst du dich auf? Hier sind wahrscheinlich selten Fremde. Kein Wunder“, er sah sich in der Kneipe um, „hier sieht’s ja aus wie vor hundert Jahren. Und es riecht, als wäre hier drin ein Rudel Wildschweine gestorben.“ Sie mussten beide lachen. Der Alkohol hatte sie übermütig werden lassen, obwohl der Anlass, weswegen sie in Saffelen waren, ein durchaus ernster war. Wenn man so will, hatten sie beruflich hier zu tun.
„Ich dir sagen, Hermann, ich froh, wenn wir hier weg. Wo wir gehen, wenn wir fertig?“
Hermann sah sich verstohlen um, kramte einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche, überflog ihn kurz und ließ ihn wieder verschwinden. Er beugte sich hinüber zu Frantisek und flüsterte: „Nach Frankfurt. Dann sind wir endlich wieder unter Menschen.“
Frantisek brach erneut in albernes Gelächter aus. Als er aufsah, bemerkte er, dass der Wirt immer noch seinen Blick auf ihn geheftet hatte. Plötzlich öffnete sich die Falttür, die zum Saal führte, in dem es offensichtlich hoch her ging.
Seit zwei Stunden saßen diese beiden Typen nun schon an der Theke und tranken einen Jägermeister nach dem anderen, ohne auch nur annähernd betrunken zu werden. Harry Aretz spülte Biergläser und ließ sie nicht aus den Augen. Der eine, ein großer, behaarter Kerl mit einem beeindruckenden Stier nacken, schien der Chef zu sein, so viel hatte er mitbekommen. Der zweite, von eher schlanker Statur, sprach mit osteuro päischem Akzent. Er hatte auffällig hohe Wangenknochen und Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Doch wenngleich er auf den ersten Blick einen hageren Eindruck machte, so hatte er doch einen recht sehnigen und muskulösen Oberkörper. Sein spärliches, dünnes Haar klebte fettig am Kopf. Den ganzen Abend schon tuschelten die beiden miteinander, aber Harry konnte nur Wortfetzen auffangen. Er mochte keine Fremden. Spätestens, seit dieser Dachdecker aus Krefeld seine Schwester unglücklich gemacht hatte. Doch bevor seine Gedanken wieder zurückwanderten in diese düsteren Zeiten, in denen er kurz nacheinander erst seine Frau und dann seine Schwester verloren hatte, öffnete sich die Falttür neben der Theke und Maurice trat mit Schweiß auf der Stirn und einem vollgekritzelten Zettelblock in die Gaststätte. Der Anblick seines Neffen zauberte ein kurzes Lächeln in das ansonsten sorgenzerfurchte Gesicht von Harry Aretz.
Maurice versuchte seine Gedanken zu sortieren, nachdem er die Falttür wieder hinter sich geschlossen hatte. Er sah auf seinen Zettel: „18 Pils, 18 Korn, ein Alsterwasser und eine Cola light“, rief er seinem Onkel zu, der das Spültuch zur Seite legte und sofort mit dem Zapfen begann. Während er hochkon zentriert ein Glas nach dem anderen unter dem strammen Bierstrahl der Zapfanlage vorbeiwandern ließ, fragte er, ohne aufzusehen: „Alsterwasser für Haselheim ist klar. Aber für wen ist denn die Cola light?“
„Ach, da ist noch so ein Typ von der Zeitung.“
Maurice wollte gerade um die Theke gehen, um die Getränke auf ein Tablett zu laden, als der dünne Mann mit dem schüt te ren Haar, der auf dem Barhocker saß, ihn am Arm festhielt. Der Griff schmerzte.
„Was da los da drinnen?“
Maurice schluckte. Harry Aretz schloss den Hahn der Zapfanlage und sah herüber. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen: „Lass den Jungen los.“
Der dünne Mann lockerte seinen Griff und warf dem Wirt einen bösen Blick zu. „Was du für Problem?“
Harry Aretz verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, du solltest besser nach Hause gehen. Sonst hast du gleich ein Problem.“
Der große bullige Mann, der die Szene bislang wortlos beobachtet hatte, erhob sich und schob seinen Freund Richtung Tür. Dann legte er einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Theke, sah Harry Aretz durchdringend an und sagte mit brummiger Stimme: „Wir wollten sowieso gerade gehen. Stimmt so.“ Dann verließen sie eilig die Gaststätte.
6
Mittwoch, 7. Mai, 20.22 Uhr
Will hatte sich erhoben und schlug mehrmals energisch mit dem Hammer auf den Holzsockel. Sein Blutdruck stieg in besorgniserregende Höhen.
„Ruhe, verdammt noch mal“, brüllte er in die Runde, „seid ihr bekloppt geworden?“ Schnell ebbte die erhitzte Debatte im Saal ab und alle sahen zum Ortsvorsteher, dessen Halsschlagader deutlich sichtbar pochte.
„Ich denke, wir können Folgendes festhalten, für der erste Punkt mal endlich abzuhaken“, bemühte er sich mit fester Stimme, wieder etwas Ordnung in die Versammlung zu brin gen. „Also: Wir beschließen hiermit, der unbekannte Ein bre cher der Name ,Lupo‘ zu geben.“
„Pluto“, warf Haselheim dazwischen.
„Ja, oder Pluto. Wie auch immer“, fuhr Will ihn entnervt an. „Auf jeden Fall werden wir bis zur nächsten Sitzung jeder mal überlegen, ob uns etwas aufgefallen ist, was beitragen kann zur Profilierung von diesem Pluto.“
Peter Haselheim hatte sich in seinem Stuhl weit zurück gelehnt und bildete mit seinen Händen ein Dreieck vor seiner Brust. Er runzelte kurz die Stirn und sagte dann ohne aufzusehen: „Was der Herr Hastenrath meint, ist, dass wir zunächst ein Profil erstel ...“
„Ich meine genau das, was ich gesagt habe“, herrschte Will den Lehrer an. Und zwar so vehement, dass Haselheim fast vor Schreck mit seinem Stuhl hintenübergekippt wäre. Eingeschüchtert setzte er sich auf und machte eine beschwichtigende Geste in Richtung Will.
„Noch Fragen?“ Wills Augen funkelten zornig. Niemand hatte in diesem Moment eine Frage.
„Gut“, hob er nach wenigen Sekunden wieder an, „dann können wir ja jetzt zum nächsten Tagesordnungspunkt über gehen.“ Will ließ seinen Blick durch den Saal schweifen, von einem zum anderen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihm jeder der Anwesenden wieder die volle Aufmerksamkeit schenkte, drückte er seinen Rücken durch und begann in einem nunmehr bedächtigen Tonfall: „In Zeiten wie diesen, meine sehr verehrten ...“
In diesem Augenblick öffnete sich ächzend die Falttür. Maurice zwängte sich mühsam hindurch. Auf jeder Hand balancierte er ein Tablett, randvoll mit Getränken. Heribert Oellers sprang auf, um ihm durch die Tür zu helfen. Er nahm ihm ein Tablett aus der Hand und rief freudig in die Runde: „Nachschub!“ Unter frenetischen „Morris, Morris“-Rufen ging der junge Kellner daran, die Bier- und Schnapsgläser zu verteilen.


