John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

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Charing Cross
Er dachte an Paris, seine Heimatstadt, als er langsam weiterschritt. Welcher Unterschied zwischen den breiten, flachen und hellen Ufern der Seine und diesen starren, ragenden Massen, auf welche selbst die Sonne keinen Schimmer von Freude zu zaubern vermochte!
Er sehnte sich zurück nach der Stadt seiner Jugend. Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenschaftlichen, eifersüchtigen Liebe des Trotzes.
Denn man liebt London entweder oder man hasst es...
Wieder blieb der Wanderer stehen. So hell war die riesige Halle erleuchtet, dass er die Uhr an ihrem Ende deutlich erkennen konnte. Die Zeiger standen zwischen der siebenten und der achten Stunde. Das Leben auf dem Fußwege schien sich verstärkt zu haben, als ob eine Menschenwelle von diesseits nach jenseits hin gespült würde. Es war, als ob der Zögernde sich nicht losreißen könne. Er betrachtete einen Augenblick das unablässige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte der Halle; dann versuchte er die Schienen hinweg und durch das Gewirr von Eisenpfosten und Waggons Westminster Abbey mit seinen Blicken zu erreichen; aber er konnte nichts als das schimmernde Zifferblatt am Turm von Parliament House erkennen und die dunklen Umrisse gigantischer Steinmassen, welche sich drüben erhoben. Und all hin gewirrt die tausend und abertausend Lichter...
Wieder wandte er sich nach der freien Seite, an welcher er vorher gestanden hatte. Unter seinen Füßen rollten dumpf brausend die Züge der Metropolitan Railway hin; die ganze Weite des Victoria Embankment lag bis Waterloo Bridge halb hell erleuchtet unter ihm. Starr und ernst hob sich die Nadel der Kleopatra in die Höhe.
Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen der Burschen und Mädchen, welche allabendlich die Bänke der Embankments belegt hatten. „Do not forget me – do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen klangen hart und schrill. „Do not forget me“ – all konnte man es im Jubilee Year in London hören... Es war das Lied des Tages.
Wer das Gesicht des eben den Brückenrand Gebeugten jetzt beobachtet hätte, dem wäre ein seltsamer Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es plötzlich beherrschte. Der Fußgänger hörte nichts mehr von dem verhaltenen, hier gedämpften Lärm und dem trivialen Gesang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick der gewaltigen Kai-Anlage zu seinen Füßen gepackt: Wie viel Menschenleben mochten wohl unter diesen weißen Granitquadern, so sicher und unüberwindlich aufeinandergetürmt, zermalmt sein? Und er dachte wieder jener schweigenden, unbelohnten, vergessenen Arbeit, welche all' das Große, das er um sich sah, geschaffen.
Schweiß und Blut werden abgewaschen und der Einzelne erhebt sich lebend und bewundert auf den Leichen von Millionen Ungenannt-Vergessenen...

Hungerford Suspension Bridge
Als stachele ihn dieser Gedanke auf, schritt Carrard Auban weiter. Indem er die Steinbögen am Ende der Brücke durchmaß, die Überreste der alten Hungerford Suspension Bridge, sah er zu Boden und ging schneller. Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, denen auch er die Jugend seines Lebens gewidmet hatte, und wieder packte ihn die grenzenlose Größe dieser Bewegung, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die „soziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo noch das Dunkel herrscht – in die duldenden, unterdrückten Massen, deren Leiden und langsames Sterben „den Anderen“ das Leben gibt...
* * *
Aber als Auban die Brückentreppe niedergestiegen war und sich in Villiers Street, jener merkwürdigen kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof von Charing Cross hinabführt, befand, wurde er wieder von dem ihn umrauschenden Leben gefesselt. Unaufhörlich drängte es sich an ihm vorbei: Dieser wollte noch den Zug erreichen, der eben jene, welche so eilig dem Strand zueilten – verspätete Theaterbesucher, die sich vielleicht wieder in den Entfernungen Londons geirrt – ausgespien hatte; hier redete eine Prostituierte auf einen Herrn im Seidenhut ein, den sie mit einem Wort und einem Blick ihrer müden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm den ‚Preis’ handelseinig zu werden; und dort drängte eine Schar hungriger Gassenkinder ihre schmutzigen Gesichter an die Scheiben eines italienischen Waffelbäckers, gierig jede Bewegung des unermüdlich Arbeitenden verfolgend – Auban sah Alles: Er hatte dieselbe Aufmerksamkeit eines im Beobachten geübten Auges für den zehnjährigen Jungen, welcher den Voreilenden einen Penny abzubetteln suchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten Straßenpflaster Rad schlug, und für die verkommenen Züge jenes Burschen, welcher sofort, als er stehen geblieben war, sich an ihn drängte und ihm die neueste Nummer der „Matrimonial News“ – „für Alle unentbehrlich, welche zu heiraten wünschen“ ,– aufzuschwatzen suchte, aber sich sofort dem Nächsten zuwandte, als er sah, dass er keine Antwort erhielt.
Auban ging langsam weiter. Er kannte dieses Leben zu gut, als dass es ihn noch verwirrt und betäubt hätte; und doch packte und fesselte es ihn immer wieder aufs Neue mit seiner ganzen Gewalt. Er hatte während dieser Jahre Stunden und Tage seinem Studium gewidmet, und immer und all fand er es neu und interessant. Und je mehr er ihre Strömungen, ihre Abgründe und ihre Untiefen kennen lernte, desto mehr bewunderte er diese einzige Stadt... Seit einiger Zeit war diese Zuneigung, welche mehr war als Anhänglichkeit und weniger eigentlich als Liebe, zu einer leidenschaftlich erregten geworden. London hatte ihm zu viel – weit mehr als dem Bewohner und dem Besucher – gezeigt; und nun wollte er alles sehen. Die Unruhe dieses Wunsches hatte ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hingestoßen auf das jenseitige Themse-Ufer, zu stundenlangen Wanderungen in Kennington und Lambeth – jenen Vierteln eines entsetzlichen Elends –, um ihn müde und zugleich entmutigt und erbittert zurückkehren zu lassen und ihm jetzt am Strand den Widerschein wie die Kehrseiten jenes Lebens zu zeigen.
Er stand nun an dem Eingang des dunklen und öden Tunnels, welcher unter Charing Cross durch auf Nortumberland Avenue zuläuft. Die schrillen und zitternden Töne eines Banjo schlugen an sein Ohr; eine Gruppe von Vorgehenden hatte sich zusammengeschart: in ihrer Mitte schlug ein Knabe in zerrissenem Karikatur-Kostüm und mit verrußtem Gesicht – wer hat die bizarren Gestalten dieser „Neger-Komödianten“ nicht schon an den Straßenecken Londons ihre lärmenden Singtänze aufführen sehen? – sein Instrument, während zu den Tönen desselben ein Mädchen mit jener mechanischen Gleichgültigkeit tanzte, die keine Ermüdung zu kennen scheint. Auban warf, indem er sich vorbeidrängte, auch in das Gesicht dieses Kindes einen Blick: Gleichgültigkeit und doch zugleich eine gewisse Ungeduld lag auf ihm.
– Sie ernähren ihre ganze Familie, die Armen, murmelte er. In der nächsten Minute hatte sich die Menge zerstreut und das kleine Paar sich zur nächsten Straßenecke durchgedrängt, dort Spiel und Tanz von Neuem zu beginnen, bis der Policeman sie forttrieb, der gehasste, der gefürchtete.
* * *
Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vor. Aber Auban wusste, dass an nasskalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepresst, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem „Arm des Gesetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Gesellschaft“, die in Wahrheit Willenlosen... Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem Jahre an diesem selben Orte erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, dass er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen – :
Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um Einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht in einem der Lodging-Häuser, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er diese Stufen niedergeschritten war – der Tunnel war füllt mit Menschen, die, nachdem sie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren – sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches – an der Brust einen Säugling – ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich mehr schleppte als zog, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte.
– Zwei Schilling nur, Gentleman – zwei Schilling nur. Er war stehen geblieben, um sie zu fragen.
– Zwei Schilling nur – sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.
Ein Schauder lief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertönte weiter.
– Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen – nur zwei Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch ... Und wieder riss sie das Kind an sich.
Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn schlich. Er wandte sich, unbewusst und unfähig, ein Wort hervorzubringen, zum Gehen.
Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Mädchen losriss und sich an ihn anklammerte.
– Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. – Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern – nehmen Sie sie mit – hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht – tun Sie es doch – tun Sie es doch!
Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.
– Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell. Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfasste.
Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.
– Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, – sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Scene geachtet.
Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.
Acht Tage nach diesem suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wieder finden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als dass er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg...
Dann vergaß er dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut – Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren – sich darbieten – und war unfähig, zu helfen!
Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß musste das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem „Scheusal von Mutter“ und von dem „verkommenen Kinde“ – die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde. – –
Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Umso schneller muss die Erkenntnis kommen, dass die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.
Die Wahnsinnigen, murmelte Auban vor sich hin, – die Wahnsinnigen – sie sehen alle nicht, wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben –. Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.
Wie deutlich er heute Abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: „Do it! do it!“ zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.
* * *
Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle – diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: Hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht schwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allmählich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand – und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten...
Auban kannte Alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sand-Ufer...
Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte in der nebeligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.
Der „Strand!“ West-End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut; zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, besät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem anderen; ein Hansom, leicht, behänd auf seinen Zweirädern dahinhuschend, hinter dem anderen; dröhnende Lastwagen; tote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bycicles...
Das East-End ist die Arbeit und die Armut, aneinander gekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der sie verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street, und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen Du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: Der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: Die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich so viel erwerben, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort ‚anständig’ werden können.
Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen – alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet, und die Jeder mitspielt, wird er geladen, – wenn man sie in seine hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden, von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden, in seinem kalten Somerset-Haus; und der Strand hat seine Theater, mehr Theater, als irgend eine Straße der Welt.
So ist er der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt, und den seine meist engen und aufeinander gepressten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verlässt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.
Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische Licht die Straße – die Gasflammen weit strahlend – mit seinem hellweißen Licht schimmerte, konnte man sehen, dass er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Fuß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.
Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorgehenden mit ihrem unaufhörlichen „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Spezial-Editions los sein wollten, um noch in „Gattis Hungerford Palace“ Charlie Coborn – den ‚inimitable’ – in seinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure tönt worden wäre.

Trafalgar Square
Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt verleiht, benutzte Auban die erste Sekunde, in welcher die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu schreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im Geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm „Etwas zu sagen“ – Etwas von einer „jungen Dame“ – und befand sich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingängen der „Alhambra“, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem füllten Hause zu erlangen hofften.

Alhambra
Auban ging gleichgültig vor, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen – Reklameproben aus dem neuen Monstreballett „Algeria“, dem halb London zuströmte – zu werfen.
Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ – stand dort. Wer las es? ...
An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban musste sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles tönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: – „ Chéri, chéri –“, mit denen sie sich an jeden Voreilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.
Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.
Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechszehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, dass sie schon lange so gewandert waren – immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend –; an einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme – alle Deutschen schreien in London – sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: Die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in welchen Auban hineingestoßen wurde, so dass er die Szene mit ansehen musste, die sich nun abspielte: Eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrien einander an. „Da“ – brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurück empfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher, bis einer der Zuschauer sie auseinander riss, worauf sie ihre Sachen – die eine ihren zerbrochenen Schirm, und die andere ihren Fetzen von Hut – auflasen und der Haufe sich lachend nach allen Seiten zerstreute.
Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene – eine unter unzähligen – was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, dass die Methode, das Volk in Rohheit zu erhalten, um dann von dem ‚Mob’ und seiner Verkommenheit zu sprechen, noch immer vortrefflich anschlug?
Musikhallen und Boxereien – sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus, an den Sonntagen Gebete und Predigten –: vortreffliche Mittel gegen das „gefährlichste Übel der Zeit“ – das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.
Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.
Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street – sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt, unterstützt von den „zivilisierten“ Staaten des Festlandes, ein Angebot, das sogar eine unersättliche Nachfrage steigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.
Wie wundervoll bequem – dachte Auban – machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut – ein notwendiges Übel; die Prostitution – ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel, als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen, und alle Entwicklung hemmen... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die „Reformarbeit“. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz – und heutzutage muss sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ ist es nicht mehr getan. „Betrogene Betrüger! vom Ersten bis zum Letzten“, sagte Auban lachend vor sich hm; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.
Aber dieser Mann, welcher wusste, dass es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewusste Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewusst- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, so oft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, dass hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch.