John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

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– Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand. –
– Wenn Ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. – Und sicher: Sie, – diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) – sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alles beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind – gefährlicher als all' eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.
– Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.
– Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.
– Wir müssen darauf zurückkommen. Es muss sich entscheiden. –
– Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie – und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums – kann nur sich selbst gehören.
Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.
Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halb hellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.
– Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.
Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause. Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.
Trupp stieß schnell die Tür auf und sie traten ein.
* * *
Zweites Kapitel – Die elfte Stunde
Zweites Kapitel – Die elfte Stunde
Am Abend des Freitag in der nächsten Woche fuhr Carrard Auban die endlos lange City Road mit dem Omnibus hinunter. Er saß neben dem Kutscher – einem Gentleman mit Seidenhut und tadellosem Äußeren – und verfolgte ungeduldig die allmähliche Abnahme der Entfernung, welche ihn von seinem Ziele trennte. Er war erregt und missgestimmt. Als der Wagen am Finsbury Square hielt, sprang er schnell ab, eilte das Pavement bis zur nächsten Querstraße hinunter, nachdem er einen orientierenden, prüfenden Blick auf die Lage der Straßen geworfen hatte, und befand sich nach wenigen Minuten an den Treppen von South Place Institute.
Schon von weitem war eine ungewöhnlich starke Menschenansammlung bemerkbar. In Entfernungen von je einigen Schritten standen Polizisten. Die Türen des dunklen, kirchenartigen Gebäudes waren weit geöffnet; als Auban sich mit dem Strom langsam hineindrängte, wechselte er mit einigen Bekannten, die sich dort aufgestellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Richtung verkauften, flüchtige Worte des Grußes. Aus den Antworten sprach öfters Erstaunen oder Freude, ihn zu sehen.
Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blättern erlangen konnte: „Commonweal“ das interessante Organ der Socialist League; „Justice“, das Parteiorgan der Socialdemocratic-Federation; und einige Nummern der neuen deutschen Zeitschrift „Londoner Freie Presse“, dem Unternehmen einer Anzahl deutscher Sozialisten verschiedenster Richtung, welches einen Zentralpunkt ihrer Ansichten bilden und der Propaganda unter dem deutschredenden Teil der Londoner Bevölkerung dienen sollte. Auban kehrte nie von diesen Meetings zurück, ohne die Brusttasche mit Zeitschriften und Pamphleten angefüllt zu haben.
An der inneren Eingangstür wurde die Resolution des Abends verteilt; große, klarbedruckte Quartblätter.
Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; an den Wänden zog sich eine breite Galerie hin, die bereits fast gefüllt war. Im Hintergrund befand sich eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von Stühlen für die Sprecher aufgestellt war. Sie war noch leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen Zwecken bestimmten Halle. Darauf deutete auch die Form der Bänke hin.
An diesem Abend jedoch war nichts bemerkbar von dem gleichgültigen, mechanisch-stillen Treiben einer religiösen Versammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, ihre Gedanken laut austauschende Menge nahm die Bänke ein. Auban sah sie schnell. Er sah zahlreiche bekannte Gesichter. An der Ecke des Saales, in der Nähe der Plattform, standen einige der Redner des Abends. Auban durchschritt die Reihen der sich stetig füllenden Bänke und ging auf die Gruppe zu. Mit Einzelnen wechselte er einen stillen Händedruck; anderen nickte er zu.
– Nun, Sie werden doch auch sprechen, Mr. Auban? wurde er gefragt.
Er schüttelte abwehrend den Kopf.
– Ich mag nicht englisch reden, überhaupt nicht reden. Das ist vorbei. Und was sollte ich sagen? Was man sagen möchte, darf man nicht aussprechen. – Es ist ein gemischtes Meeting? – fragte er dann leiser einen neben ihm Stehenden, den bekannten Agitator eines deutschrevolutionären Klubs.
– Jawohl, Radikale, Freidenkerische, Liberale – alles Mögliche. Sie werden sehen, die meisten Redner werden sich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus zu hegen.
– Haben Sie Trupp nicht bemerkt?
– Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn noch nie auf einer dieser Versammlungen gesehen. Auban sah sich um. Der Saal war bereits zum Ersticken gefüllt; die Gänge zwischen den Bänken dicht besetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem Rednertische hing, drängte sich eine Anzahl von Arbeitern. An dem Tische daneben machten sich mehrere Zeitungsreporter ihre Papierpausen zurecht.
An den Eingängen wurde das Gedränge immer lebhafter. Die Türen waren weit geöffnet. An dem Schieben und Stoßen konnte man sehen, dass große Massen noch Einlass begehrten. Einzelne drängten sich glücklich bis zu den vordersten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn man zusammenrückte. Als Auban dies sah, sicherte auch er sich schnell einen Platz, denn sein lahmes Bein erlaubte ihm kein stundenlanges Stehen.
Er stemmte seinen Stock auf und kreuzte die Füße. So blieb er den ganzen Abend sitzen. Er konnte den ganzen Saal sehen, da er auf einer der seitlichen Bänke saß; die Rednerbühne lag dicht vor ihm.
Er zog die Resolution aus der Tasche und las sie aufmerksam und langsam durch, wie auch die Namenliste der Sprecher: „mehrere der hervorragendsten Radikalen und Sozialisten.“ Er kannte die Namen und ihre Träger, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten Jahre wiedergesehen hatte.
* * *
„Das Recht der freien Rede“ stand auf der Tagesordnung. „Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffentlichen Versammlung zum Tode verurteilt.“ Die Resolution lautete: „– Dass die englischen Arbeiter in dieser Versammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika auf die große Gefahr für die öffentliche Freiheit aufmerksam zu machen wünschen, welche entsteht, wenn sie zugeben, dass Bürger für den Versuch des Widerstandes gegen die Unterdrückung des Rechtes auf öffentliche Versammlungen und der freien Rede bestraft werden, da ein Recht, für dessen Erzwingung das Volk bestraft wird, dadurch offenbar zu keinem Recht, sondern zu einem Unrecht wird.
Dass das Schicksal der sieben Männer, welche das Todesurteil für Abhaltung einer öffentlichen Versammlung in Chicago, auf der mehrere Polizisten bei dem Versuch der gewaltsamen Vertreibung des Volkes und der Unterdrückung der Sprecher getötet wurden, verhängt ist, von größter Wichtigkeit für uns als englische Arbeiter ist, da ihr Fall heute der Fall unserer Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unsere ist, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des Atlantiks einstimmig erklären, dass alle, welche sich in die Rechte der Abhaltung öffentlicher Versammlungen und der freien Rede mischen, ungesetzlich und auf ihre eigene Gefahr hin handeln. Wir können nicht zugeben, dass die politischen Ansichten der sieben verurteilten Männer mit dem hineingezogenen Prinzip irgendetwas zu tun haben, und wir protestieren gegen ihre Verurteilung, welche, wenn sie ausgeführt wird, in Wirklichkeit das Abhalten von Versammlungen der Arbeiter in ihrem eigenen Interesse zu einem Hauptverbrechen in den Vereinigten Staaten von Amerika stempeln wird, da immer die Möglichkeit für die Autoritäten gegeben ist, eine Menge durch Gefährdung ihres Lebens zum Widerstand zu reizen. Wir erwarten von unsern amerikanischen Kameraden, seien auch ihre politischen Ansichten noch so verschieden, dass sie die unbedingte Freilassung der sieben Männer, in deren Personen die Freiheiten aller Arbeiter jetzt gefährdet sind, verlangen ...“
* * *
Als Auban geendet hatte, sah er neben sich einen alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen Gesichtszügen.
– Mr. Marell, rief er sichtlich erfreut, – Sie sind wieder hier? Welche Überraschung!
Sie schüttelten sich herzlich die Hände.
– Ich wollte Sie nicht stören – Sie lasen.
Sie sprachen englisch zusammen.
– Wie lange sind Sie wieder hier?
– Seit gestern.
– Und waren Sie in Chicago?
– Ja, vierzehn Tage; dann in New-York. – Ich hatte Sie nicht erwartet –
– Ich konnte es nicht mehr ertragen, so kam ich wieder.
– Sie sahen die Verurteilten?
– Gewiss, oft.
Auban beugte sich zu ihm und fragte leise:
– Es ist keine Hoffnung? Der Alte schüttelte den Kopf.
– Keine. Die letzte liegt beim Gouverneur von Illinois, aber ich glaube nicht an ihn.
Leise sprachen sie weiter.
– Wie ist die Stimmung?
– Die Stimmung ist gedrückt. Die Knights of Labour und die Georgianer halten sich zurück. – Es ist überhaupt manches anders, wie man es sich hier vorstellt. Die Aufregung ist stellenweise groß, aber die Zeit ist noch nicht reif.
– Man wird alles versuchen –
– Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles unmöglich sein ... Sie schwiegen Beide. Auban sah noch ernster aus, als gewöhnlich.
Aber was für ein Gefühl es war, welches seine Seele beherrschte, war auch jetzt nicht zu erkennen.
– Wie sind die Verurteilten?
– Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, und sie werden in diesem Sinne sich aussprechen. Aber ich fürchte, die anderen hoffen immer noch –
Es war nach acht Uhr. Die Versammlung begann ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter.
Auban fragte weiter, und der Alte antwortete mit seiner ruhigen, traurigen Stimme.
– Sie werden sprechen, Mr. Marell?
– Nein, mein Freund. Es ist ein anderer, jüngerer da, er kommt auch von Chicago, und er will einiges von dort erzählen.
– Sind Sie morgen zu Hause?
– Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Verhandlungen geben und die neuesten Zeitungen. Ich habe viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. Sie werden, wenn Sie alles lesen wollten, ein gutes Bild unserer amerikanischen Zustände bekommen.
– Ein neuer Prozess wird nicht bewilligt werden?
– Hoffentlich nicht. Es würde ja nichts nützen, die Qual, die so schon unerträglich ist, würde nutzlos verlängert werden, es müssten neue, ungemessene Mittel vom Volke aufgebracht werden – noch einmal 50.000 Dollar, aus Arbeiterpfennigen zusammengehäuft – und wozu? – nein, die Hyäne will Blut –
– Und das Volk?
– Das Volk weiß selbst nicht, was es will. Einstweilen glaubt es noch nicht an den Ernst der Sache, und wenn der Elfte da ist, ist es zu spät!
In ihr Gespräch mischte sich ein junger Engländer, der Marell von der Socialist League her kannte. Auban sah auf. Jener sagte finster:
– Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man mordet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Angesicht der Völker öffentlich nicht sieben Menschen, deren Unschuld so klar erwiesen wie der Tag ist; man schlachtet Tausende und Abertausende hin, aber man hat nicht mehr den Mut, in einem Lande mit den Institutionen der Staaten so nur auf die Gewalt zu pochen und die Gesetze zu verhöhnen. Nein, sie tun es deshalb nicht, weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnsinn wäre, das Volk auf solche Weise aufzuklären und aufzurütteln. Nein, sie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier allein diese vielen und so täglich in allen freieren Ländern, hier und drüben, diese Versammlungen, diese Zeitungen, diese Flut von Flugschriften! Wo ist der Mensch, der noch Vernunft und Herz hat und sich nicht empört – sind die Scharen zu zählen, die drüben sich erheben? Ihr Wille sollte nicht stark genug sein, um jenen erkauften Schurken Furcht einzujagen, dass sie abstehen von ihrer Freveltat? Nein, sie werden es nicht wagen, Comrade! Es wäre ihr eigenes Verderben! Die beiden, zu denen er sprach, zuckten die Achseln. Was sollten sie ihm antworten? –
Sie hatten beide in dem Kampfe der beiden Klassen so viele Scheußlichkeiten von denen begehen sehen, welche die Gewalt in Händen haben, dass sie sich fragen mussten, was es sein würde, das sie noch in Erstaunen und Entrüstung zu setzen vermochte. –
Auban sah, wie die Hände des Alten zitterten, in denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie er dieses leichte Zittern, in welchem sich seine ganze innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen suchte, dass er nachlässig mit ihm spielte.
– Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, wenn sie einige seiner Vertreter hängen, sagte er nun. Auban merkte, dass er jetzt nicht näher auf das Gespräch eingehen wollte, und schwieg.
Aber er dachte weiter: „Was ist Anarchismus?“ – Die in Chicago Verurteilten? – Ihre Ansichten waren teils sozialdemokratisch, teils kommunistisch, nicht zwei hätten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grundideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet – und doch nannten sich alle und wurden alle „Anarchisten“ genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger gesprochen als aus den Worten jenes jungen Kommunisten, welcher seinen „Richtern“ zugedonnert hatte: „Ich verachte euch, ich verachte eure Gesetze, eure ‚Ordnung’, ‚eure Gewaltherrschaft’ – und: „Ich bleibe dabei: wenn man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamitbomben antworten“ –?
Und weiter der Greis, der neben ihm saß! Auch er nannte sich „Anarchist“ ... Und was predigte er immer und immer wieder in seinen zahllosen Flugschriften? Die Liebe.
– „Was ist Anarchie?“ – fragte er. Und antwortete: „Es ist ein Gesellschaftssystem, in welchem keiner die Handlungen seines Nachbarn stört; wo Freiheit frei von Gesetz ist; wo Vorrecht nicht existiert; wo Gewalt nicht der Ordner menschlicher Handlungen ist. – Das Ideal ist das zweitausend Jahre früher von dem Nazarener verkündete: die allgemeine Brüderlichkeit der ganzen menschlichen Familie“. – Und schmerzlich rief er immer wieder aus: „Rache ist die Lehre, gepredigt von der Kanzel, von der Presse, von allen Klassen der Gesellschaft! – Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt! ...“
Auban, welcher sich an diese Worte erinnerte, dachte daran, wie gefährlich es doch war, so allgemein, so verschwommen, so obenhin zu denen zu sprechen, die noch so wenig verstanden, den Sinn und den Wert der Worte zu prüfen. So ballte sich mehr und mehr das Unvereinbare und das Fremde zu einem Knäuel zusammen, vor dessen Lösung viele zurückschreckten, die sonst gerne den einzelnen Fäden nachgegangen wären ...
Auban hatte den alten Herrn erst vor kurzem kennen gelernt. Es war auf einer Debatte gewesen, in welcher die Unterschiede des individualistischen und des kommunistischen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell war der Einzige gewesen, welcher – wie er selbst glaubte – den Ersteren vertrat. Seine Darlegungen hatten Auban interessiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonsequenz manches seinen eigenen Ergebnissen Verwandte gefunden. So waren sie miteinander bekannt geworden und hatten sich einige Male gesehen, bevor jener nach Amerika zurückkehrte, um dort, wie er sagte, noch zu tun, was in seinen Kräften stand. Da er sich nie klar aussprach, wusste Auban nicht, welcher Art diese Bemühungen sein sollten, und nach dem, was er heute Abend von ihm gehört hatte, konnte er sehen, dass auch sie erfolglos geblieben waren. Jedenfalls schien dieser Mann ein sehr verzweigtes Netz von Verbindungen aller Art in der Hand zu haben, denn er kannte sowohl alle bei dem Prozess der acht beteiligten Persönlichkeiten, wie er auch die Ausdehnung der anarchistischen Lehren in Amerika, wie es schien, genau unterrichtet war.
Seine Flugblätter waren sämtlich mit „Der Unbekannte“ unterzeichnet. – In London fiel der Alte wenig auf. Er sprach selten öffentlich und die Flut der revolutionären Bewegung Londons treibt zu viele Persönlichkeiten heute an die Oberfläche, um sie morgen wieder zu verschlingen, als dass in diesem beständigen Kommen und Gehen dem flüchtig Vorziehenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden könnte. Er fragte den Engländer jetzt nach einigen der Anwesenden. Auban lehnte sich zurück.
– Wer ist das?
Er zeigte auf eine Frau in einfachem, dunklem, Kleide, welche in ihrer Nähe saß. Ihre ausgeprägten Züge verrieten lebendigstes Interesse an allem, was um sie her vorging, und sie sprach lebhaft und lachend mit ihrer Nachbarin.
– Ich weiß nicht, antwortete der Engländer. Aber dann erinnerte er sich, sie einmal in einem der deutschen Klubs gesehen zu haben, und er fügte hinzu:
– Ich weiß nur, dass sie eine Deutsche ist, eine deutsche Sozialistin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie hat lange in Berlin für die Abschaffung der ärztlichen Untersuchung der Prostituierten gewirkt.
Der wissbegierige Alte fragte weiter.
– Und wer ist das, mit dem sie jetzt spricht?
Der Engländer sah hin. Es war ein junger Mann, den er ebenfalls nur flüchtig kannte.
– Ich glaube, das ist ein Dichter, sagte er. Sie lächelten beide.
– Er hat ein soziales Gedicht geschrieben.
– Haben Sie es gelesen?
– O nein, ich lese nicht Deutsch.
– Er sieht weder aus wie ein Dichter, noch wie ein Sozialist. Glaubt er, mit seinen Gedichten die Welt verbessern zu können? – Er wird eines Tages sehen, wie nutzlos sie sind und dass die Menschen zuerst Brot haben müssen, ehe sie an anderes zu denken im Stande sind. Wenn man nichts zu essen hat, hört die Poesie auf.
Der Jüngere lächelte den Eifer des Alten, welcher ungestört fortfuhr, während Auban die Menge musterte:
– Man kann die zartesten Liebesgedichte schreiben und wie ein Metzgermeister den blutigsten Scheußlichkeiten zusehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne auf die „tapferen Krieger“ dichten, die Mörder, welche bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann die „Leiden der Völker“ besingen und in der nächsten Stunde der „gnädigen Frau“ im Ballsaale die Hand küssen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. Aber worüber sprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, wer jener Mann dort ist?
– Einer von unseren Parlamentskandidaten. Ein charakterloser Lump. Ein Schreier. Wenn er die Macht hätte, würde er ein Tyrann sein. Aber auch so verdirbt er genug.
* * *
Sie wandten jetzt beide ihre Aufmerksamkeit der Versammlung zu. Auban war noch immer in Gedanken versunken. Die Stühle auf der Empore hatten sich besetzt mit den Vertretern und Abgesandten aller Vereinigungen, welche das Massenmeeting einberufen hatten.
Man sah einige Frauen unter ihnen. – Den Chair hatte ein blasser, etwa vierzigjähriger Mann in der Tracht eines Priesters der Hochkirche eingenommen. Er wurde mit Beifall begrüßt, als seine Erwählung zum Chairman mitgeteilt wurde. Auban kannte ihn, es war ein christlicher Sozialist, der seit langen Jahren unter den Armen des East End wirkte. Wegen seiner Gesinnungen war ihm das Recht der Ausübung seines Berufes entzogen worden. Die Kirche ist der größte Feind jedes Charakters.
Er eröffnete jetzt die Versammlung. Er sagte, dass dieselbe aus Menschen der verschiedensten Lebensanschauungen zusammengesetzt sei, aus Radikalen und Antisozialisten so gut, wie aus Anarchisten und Sozialisten, die aber in dem einen Wunsche sich geeinigt hätten, gegen die Unterdrückung des Rechtes der freien Rede zu protestieren. Er sei kein Anarchist, wie die in Chicago Verurteilten, er habe eine starke Abneigung gegen ihre Doktrinen, aber er fordere für ihre Ausleger und Anhänger genau dieselbe oder eine noch größere Freiheit, wie er sie selbst – der Priester einer christlichen Kirche – für die Kundgebung seiner eigenen Ansichten für sich in Anspruch nehme. Für alle sei das Recht das gleiche, dem, was sie als Wahrheit erkannt hätten und für Wahrheit hielten, zu dienen, und darum verlange er im Namen seines Gottes und im Namen der Menschlichkeit die Freilassung dieser Männer.
Als er geendet hatte, wurde eine große Anzahl von Telegrammen, Zustimmungsadressen und Briefen aus allen Gegenden Englands verlesen. Viele derselben wurden mit Jubel aufgenommen.
Auban wusste, dass manche dieser Vereinigungen ihre Mitglieder nach Tausenden zählten; er hörte unter den verlesenen Namen einige von größtem Einfluss. Männer der Feder, deren Werke jedermann las – was taten sie alle, die ebenso wie er selbst von der Ruchlosigkeit jenes Urteils überzeugt waren? Sie beruhigten ihr Gewissen mit einem Protest. Was hätten sie tun können? Ihr Einfluss, ihre Stellung, ihre Macht – sie wären vielleicht stark und eindringlich genug gewesen, die Ausübung jener Tat unmöglich zu machen einer zum Bewusstsein gekommenen und allgemeinen Entrüstung gegenüber. Aber ihr Name und ihr Protest – er verhallte hier vor den wenigen wirkungslos. Auch sie waren die Knechte ihrer Zeit, sie, die ihre wahren Herrscher hätten sein können.
Aus seinen Gedanken wurde Auban durch eine Stimme aufgerüttelt, welche er oft vernommen hatte. Neben dem Tische auf der Plattform stand eine kleine, schwarz gekleidete Frau. Unter der Stirne, welche halb von dichtem, kurz geschnittenem Haar wie von einem Kranze bedeckt war, leuchteten schwarze, begeisterte Augen. Die weiße Halskrause und das einfache, fast mönchische, lang niederwallende Gewand schienen einem vergangenen Jahrhundert anzugehören. Nur wenige aus der Versammlung schienen sie zu kennen; wer sie aber kannte, der wusste, dass sie die treueste, tätigste und leidenschaftlichste Vorkämpferin des Kommunismus in England war. Auch sie nannte sich Anarchistin.
Sie war keine hinreißende Sprecherin; aber in ihrer Stimme lag jener Stahlklang unerschütterlicher Überzeugung und Ehrlichkeit, der den Hörer oft mehr packt als die glänzendste Vortragskunst.
Sie gab ein Bild aller jener Ereignisse, welche in Chicago der Verhaftung und Verurteilung der Genossen vorhergegangen waren. Klar – Schritt für Schritt – zogen dieselben an den Augen der Hörer vorüber...
Sie erzählte von dem Entstehen und Wachsen der Achtstundenbewegung in Amerika, von den Bemühungen früherer Jahre, den achtstündigen Arbeitstag bei der Regierung durchzusetzen; von ihren Erfolgen ... Sie erklärte, wie es gekommen war, dass die Revolutionäre von Chicago sich der Bewegung angeschlossen hatten, ohne sich über ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert zu täuschen; von den unermüdlichen Bestrebungen der Internationalen Arbeiterassoziation; und wie jene Männer, welche jetzt ihren Tod vor Augen sahen, an die Spitze der Strömung getrieben wurden...
Sie versuchte dann, jene ungeheure Aufregung zu schildern, welche den Maitagen des vorigen Jahres voranging: die fieberhafte Spannung in den Kreisen der Arbeiter, die erwachende Angst in denen der Ausbeuter ... die reißende Zunahme der Streikenden, bis zu jenem Tage, dem ersten Mai, der, von allen erwartet, die Entscheidung herbeiführen sollte...
Dann ließ sie diese Maitage selbst vor den Augen der Versammlung emporsteigen: „– mehr als 25.000 Arbeiter legen an ein und demselben Tage ihre Arbeit nieder; in der Zeit von drei Tagen hat sich ihre Zahl verdoppelt. Der Streik ist ein allgemeiner. Die Wut der Kapitalisten ist nur mit ihrer Angst vergleichbar. Allabendlich werden an vielen Orten der Stadt Meetings abgehalten. Die Regierung entsendet ihre Büttel und lässt in eine dieser friedlichen Zusammenkünfte feuern: fünf Arbeiter bleiben auf der Stelle...“
– Wer hat die Mörder dieser Männer zur Rechenschaft gezogen? – Niemand!
Die Rednerin machte eine Pause. Man hörte ihre innere Erregung aus dem Klange ihrer Stimme heraus, als sie fortfuhr:
– Am folgenden Abend wird von den Anarchisten auf dem Haymarket ein Meeting einberufen. Es ist ordentlich; die Ansprachen der Redner sind trotz dem Vorhergegangenen so wenig aufreizend, dass der Mayor von Chicago – bereit, bei dem ersten ungesetzlichen Wort die Versammlung aufzulösen – dem Polizeiinspektor bedeutet, er könne seine Leute nach Hause schicken. Aber stattdessen lässt dieser sie abermals gegen die Versammelten anrücken. In diesem Augenblick fliegt von unbekannter Hand eine Bombe in die Reihen der Angreifer. Die Polizei eröffnet ein mörderisches Feuer...