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Altgriechische Seelenlehre (Orphiker, 6. Jahrhundert v. Chr. ) | Box 1.4
• Zu einem Körper gehört nur eine Seele (die Seele kann den Körper kurzzeitig verlassen: Schlaf, Ekstase).
• Eine Seele kann nacheinander verschiedenen Körpern angehören – Seelenwanderung.
• Die Seele existiert nach dem Tode (des Körpers) weiter – Unsterblichkeit.
• Seelen können auch ohne Körper leben (z.B. auf der „Insel der Seligen“).
Rohde, E. (1898/1980; zit. aus Schönpflug, 2000, 52)
griech. „mythos“: Erzählung
In fast allen Schriften der frühen Hochkulturen (z.B. Ägypten, China, Indien) finden sich Gedanken, die auf Erklärungen der Welt, der Natur und des Menschen hinauslaufen. Offenbar bestand beim Menschen immer schon das Bedürfnis, über das Hier und Jetzt hinaus zu spekulieren. Erklärungsversuche lieferten die Mythen - und Religionen der jeweiligen Epochen. In den meisten Mythen finden sich Vorstellungen über die Entstehung von Göttern („Theogenese“), des Weltalls („Kosmogenese“) und des Menschen („Anthropogenese“), wohl um die Gegenwart besser interpretierbar und die Zukunft besser vorhersagbar zu machen (Schönpflug, 2000, 43; s. auch Hergovich, 2005).
Die Anthropomorphisierung bezeichnet eine Weltsicht, bei der hinter Naturereignissen Götter, Dämonen oder Geister mit menschlichen Eigenschaften vermutet werden.
Insbesondere die sogenannte Anthropomorphisierung der Welt dürfte Ängste reduziert und eine subjektive Handlungssicherheit geschaffen haben. Die Möglichkeit, sich in Götter, Geister oder auch Dämonen einzufühlen und mit ihnen auf diese Weise irgendwie zu kommunizieren, bot offenbar subjektive Chancen, ihre Unterstützung zu erflehen oder sie zu besänftigen.
Bekanntlich ist Religiosität auch eine Hilfe bei der Bewältigung der menschlichen Urangst vor dem Tod als unvermeidliches Endstadium des Daseins. Hier beruhigt der Glaube an eine unsterbliche Seele, die nach dem Ableben des Körpers in einer anderen Welt („Jenseits“) oder in einem anderen Körper („Seelenwanderung“) weiterexistiert.
Angesichts der permanenten Erfahrungen von Ungerechtigkeit im Leben tröstet wohl auch die Hoffnung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit in einer anderen Welt (Ägypten: „Totengericht“; Judentum, Islam und Christentum: „Paradies“; indische Religionen: „Nirwana“) und motiviert zu sozialen („guten“) Handlungen. Daneben fördern religiöse Praktiken Sozialkontakte, Gruppenbildung und Gemeinschaftsgefühl und dienen so den sozialen Bedürfnissen des Menschen. Dass andererseits Religion und Glaube oft auch Unrecht schufen und zur Sicherung von Macht missbraucht wurden, liegt im Wesen aller Ideologien und Glaubensinhalte.
Eine der wichtigsten psychologischen Wurzeln der Religionsausübung war jedenfalls sicher die Wahrnehmung von Hilflosigkeit und Angst angesichts der Schwierigkeit, die naturgesetzlichen Zusammenhänge im Kosmos, in der Natur und im eigenen Leben zu durchschauen, sie vorherzusagen und zu kontrollieren. Hier schafft der Glaube an ein allwissendes und allmächtiges Wesen Sicherheit.
Ein weiteres menschliches Bedürfnis ist jenes nach Lebenssinn. Ein Bündnis mit einem göttlichen Wesen („Theismus“), oder zumindest eine ideelle Verbundenheit mit einem allgemeinen höchsten Prinzip („Deismus“), kann dem oftmals als armselig empfundenen Dasein eine höhere Bedeutung und Zielsetzung verleihen.
Öfter, als man üblicherweise bedenkt, stehen auch innersubjektive Erfahrungen mit der sogenannten objektiven Realität in Widerspruch: Träume, Wahrnehmungsillusionen, Fantasien, Fieberdelirien, Rauschzustände, Halluzinationen, aggressive oder ängstliche Stimmungen dürften bereits dem Frühmenschen als Hinweise dafür gegolten haben, dass seelische Vorgänge gegenüber der materiellen Welt eine gewisse Autonomie aufweisen. Deshalb die „Ideenwelt“ als eigenständige, mit der „Sinneswelt“ manchmal konkurrierende Form der Existenz zu begreifen, lag also durchaus nahe.
Ein eher spekulativer Ansatz in dieser Richtung zur Erklärung des frühen Gottesglaubens stammt von Julian Jaynes, einem Psychologen der Universität Princeton. In seinem 1976 publizierten Werk „The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind“ vertritt er die Meinung, dass der Mensch bis in die Zeit um 1000 v. Chr. noch kein reflexives (selbsteinsichtiges) Bewusstsein wie heute besaß, sondern nur eine sogenannte „bikamerale Psyche“ („bicameral mind“; Box 1.5).
„Bicameral Mind“ | Box 1.5
Julian Jaynes (Psychologieprofessor in Princeton) stellte aufgrund antiker Texte aus der Zeit von 3000- bis etwa 700 v. Chr. (Sumer, Babylon, Ägypten, Mayakultur, ...) die Hypothese auf, dass die damaligen Menschen noch kaum über ein introspektives (sich selbst wahrnehmendes) Bewusstsein verfügt hätten, sondern nur über eine „bikamerale“ Psyche.
Darunter versteht Jaynes (1976/1993) eine relativ unabhängige Arbeitsweise beider Gehirnhälften, bei der die rechte Hälfte akustische oder visuelle Halluzinationen in die linke Gehirnhälfte projiziert, welche als „Stimmen“ oder „Erleuchtungen“ von Göttern interpretiert worden sein könnten. Jaynes bezeichnet solche halluzinierten „Götterstimmen“ als neurologische Imperative, welche vielleicht erzieherische oder sittliche Anweisungen (soziale Kontrolle!) zum Ausdruck brachten.
Der Glaube an Gott oder Götter könnte schließlich sogar die evolutionäre Entwicklung der menschlichen Art mitbestimmt haben. Der Soziobiologe Edward O. Wilson (1980) fragt etwa in seinem Buch „Biologie als Schicksal – Die soziobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens“, ob nicht „Religion eine List der Gene“ sei. Religiöse Einstellungen erbrächten Überlebensvorteile für die Menschheit, indem eine Festigung der persönlichen Identität erreicht, altruistisches Verhalten gefördert und individuelle Opferbereitschaft zugunsten der Gemeinschaft gestützt wird. Wilson meint daher: „Der menschliche Geist hat sich so entwickelt, dass er an Götter glaubt, nicht an Biologie“ (Wilson, 2000, 348; s. auch Dawkins, 2006).
1.3 |Philosophie als Vorläuferin der PsychologieIm frühen Griechenland galten Politik und Ökonomie als Lehrgebiete zur Erlangung eines „guten Lebens“, in Verbindung mit vielen praktischen Regeln für das „Haus“ (griech. „oikos“) und für die „Stadt“ (griech. „polis“). Der Naturphilosoph Thales von Milet (625– 547 v. Chr.) kann als erster Philosoph im Sinne der abendländischen Denktradition gelten, da er Naturphänomene nicht mehr mythisch, sondern rational zu erklären versuchte (z.B. Vorhersage der Sonnenfinsternis im Jahre 585 v. Chr.). Er war einer der „Sieben Weisen“, die auch Regeln für eine vernünftige Lebensführung und für die Einschätzung sozialer Situationen entwickelten.
Eine gute Lebensführung wurde in der Antike oft mit seelischer Gesundheit in Verbindung gebracht, wie etwa bei den Pythagoräern, die in klosterähnlichen Gemeinschaften in Süditalien lebten und gemäß der „orphischen Lehre“ den (minderwertigen) Körper als Gefängnis der (höherwertigen) Seele betrachteten. Der Seele wurde potenziell die Teilhabe an einer höheren ideellen, nicht an die aktuelle Lebenswelt gebundenen Wirklichkeit zugeschrieben – vorausgesetzt, sie gelangt zu Ordnung und Harmonie. Um dies zu erreichen, glaubte man im Wesentlichen an vier Bildungswege: 1. Beschäftigung mit Mathematik und Astronomie („Theorie“), 2. Befassung mit Kunst und Musik, 3. Askese (Mäßigkeit im Triebleben) und 4. die Pflege von Freundschaften (gemeinsame Verantwortung, Gemeinschaftseigentum). Je nach Qualität der Lebensführung im Sinne der angegebenen Regeln sollte der Mensch in unterschiedlichem Ausmaß Zugang zum Göttlichen und zur absoluten Harmonie erreichen, mit der Chance auf eine (hochwertige) Wiedergeburt (Capelle, 1953, zit. nach Schönpflug, 2000).
In weiterer Folge kam es im antiken Griechenland zu einer philosophischen Blüte, in der bereits viele Erkenntnisse seelischer Prozesse (z.B. Logik, Ethik) und etliche wissenschaftliche Grundfragen (z.B. nach dem „Erkenntnisursprung“ und der „Erkenntnisgültigkeit“) vorweggenommen wurden. Die in psychologischer Hinsicht bedeutendsten Philosophen des Altertums waren Sokrates, Platon und Aristoteles, von denen bis in die Neuzeit wichtige Denkanregungen für die Analyse geistiger und emotionaler Prozesse ausgingen.
Jahrhunderte später haben unter religiösem Vorzeichen Augustinus und Thomas von Aquin die antike Philosophietradition weitergeführt, allerdings mit jeweils unterschiedlichem Ausgangspunkt im neoplatonistischen bzw. neoaristotelischen Ansatz. Für den ursprünglich in Rhetorik geschulten, skeptizistisch eingestellten Augustinus war nach seiner christlichen Bekehrung die innere Erfahrung die letzte Gewissheit, während Thomas von Aquin – etwa 900 Jahre später – als wahrscheinlich bedeutendster Kirchenlehrer („doctor ecclesiae“) stärker empiristisch und rationalistisch (intellektuell) orientiert war.
Die Neuzeit ist im Wesentlichen durch die Gegensätzlichkeit zwischen rationalistischer und empiristischer Erkenntnisorientierung geprägt, wobei Rene Descartes und Christian Wolff der ersteren und David Hume der zweiten Richtung zuzuordnen sind. Kant hat mit seiner Vermittlungsposition eine „kopernikanische Wende“ in der Erkenntnistheorie eingeleitet, indem er nicht nur das, was erkannt werden soll, zu analysieren vorschlägt, sondern auch die Anschauungs- und Denkformen als die Voraussetzungen für Erkenntnisse. Der Verstand könne nichts begreifen, was nicht bereits zuvor in der sinnlichen Erfahrung gegeben gewesen sei. Doch die Sinne allein könnten ohne Verstand ebenfalls keine Erkenntnisse liefern.
Die Phase vor der Institutionalisierung der Psychologie in den Labors und an den Universitäten war durch die allgemeine Begeisterung der Wissenschaftler für die Fortschritte der Naturwissenschaften charakterisiert.
Merksatz
Seit etwa 2500 Jahren erfährt die Seele in der abendländischen Kultur eine religiöse Interpretation und wurde zunehmend auch als Gegenstand der philosophischen und wissenschaftlichen Analyse gesehen.
Die Mathematik als Grundlagendisziplin naturwissenschaftlicher Fächer wurde immer stärker auch für die empirisch-wissenschaftliche Aufklärung psychischer Prozesse eingefordert, was sich klar in Herbarts und Fechners Lehrbüchern manifestiert. Ebenso bedeutend war in dieser Zeit der Aufschwung der Physiologie und der Medizin, sodass auch von dort wichtige Beiträge für eine Neukonzeption der bisher philosophisch dominierten Psychologie kamen. Wesentlich war schließlich Darwins „Evolutionstheorie“ als denkrevolutionärer Ansatz zur Erklärung der Menschheitsentwicklung, welche bis zu diesem Zeitpunkt nur religiös begründet werden konnte („Schöpfungsgeschichte“). Der bei Wissenschaftlern vor dem 19. Jahrhundert noch stark verbreitete Widerstand, die Entstehung des Menschen und seine seelische Existenz (in Widerspruch zur Kirche) unabhängig von religiösen Glaubenspostulaten zu diskutieren („Gottesbeweise“), wurde mit Darwin zunehmend aufgebrochen.
1.4 |Die Entwicklung der akademischen PsychologieDem Enthusiasmus über die neue Idee einer naturwissenschaftlichen Aufklärung psychischer Strukturen und Abläufe (Helmholtz, Fechner, Wundt) folgten Gegenreaktionen sowohl von geisteswissenschaftlicher Seite (z.B. Dilthey) als auch im Sinne einer stärkeren Betonung des dynamischen und intentionalen Charakters psychischer Prozesse (z.B. James, Freud).
Der wissenschaftliche Aufbruch der Psychologie hatte in den USA und in Europa die Gründung von psychologischen Zeitschriften (z.B. „American Journal of Psychology“, 1887; „Zeitschrift für Psychologie“, 1890), von psychologischen Vereinigungen („American Psychological Association“, 1892; „Gesellschaft für Experimentelle Psychologie“, 1904) und von mehr als 40 Forschungs- und Lehreinrichtungen (Laboratorien, Institute, Seminare) zur Folge (Schönpflug, 2000).
Die frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts (Box 1.6) waren durch gegensätzliche Forschungsansätze gekennzeichnet (Experimentalpsychologie, Psychoanalyse, Gestaltpsychologie, Behaviorismus), deren Vertreter sich in den 1920er- und 1930er-Jahren heftige Streitigkeiten lieferten. Dieser Wettbewerb verschiedener theoretischer Richtungen wurde von Karl Bühler (1927) in Wien als „Aufbaukrise“ interpretiert, der er sein methodenpluralistisches Integrationskonzept entgegensetzte. Psychologische Forschung sollte sowohl kontrollierte Selbstbeobachtung, systematische Verhaltensbeobachtung als auch die hermeneutische Interpretation einbeziehen (Benetka & Guttmann, 2001, 129–131). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Box 1.7) setzte sich auch im deutschsprachigen Raum der angloamerikanische Trend zu einer naturwissenschaftlich orientierten, empirisch-statistischen Psychologie weiter fort (Haggbloom et al., 2002), welcher sich bis heute an den meisten europäischen, amerikanischen und asiatischen Universitätsinstituten erhalten hat.
Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts | Box 1.6
• Freud, Sigmund (1856–1939): „Traumdeutung“ (1900), Aufzeigen des Einflusses psychodynamischer Vorgänge (unbewusste Triebe, Konflikte) auf das menschliche Verhalten und psychische Störungen („Neurosen“), Begründung der Psychoanalyse
• Watson, John (1878–1958): „Psychology as a behaviorist views it“ (1913), Ablehnung von Introspektion und allen damit verbundenen Begriffen (Bewusstsein, Wahrnehmung, Vorstellung, Wille etc.), ausschließliche Konzentration auf objektiv fassbare Reize und Verhaltensweisen sowie auf deren Zusammenhangsbeschreibung
• Stern, William (1871–1938): „Psychologie der frühen Kindheit“ (Stern & Pawlik, 1911/1994), Entwicklung der Grundidee einer Messung von Intelligenz (IQ, Anfänge der Differentiellen Psychologie)
• Bühler, Karl (1879–1963): „Die Krise der Psychologie“ (1927), Interpretation des Widerstreites der Schulen als „Aufbaukrise“ und Vorschlag eines Methodenpluralismus in der Psychologie: 1. Beobachtung (Verhalten) – 2. Introspektion (Erleben) – 3. Interpretation (Deutung von Texten)
• Skinner, Borrhus (1904–1990): Seit Anfang der Dreißigerjahre grundlegende Publikationen über (operante) Konditionierung (Verstärkung, Löschung, Shaping), Begründer der Verhaltenstherapie und Verfechter eines konsequenten Einsatzes von Lerntheorien in der Pädagogik
• Maslow, Abraham (1908–1970): „A theory of human motivation“ (1943), Motivationstheorie mit Bezügen zum Funktionalismus, zur Gestaltpsychologie und zur Tiefenpsychologie; Interpretation des Menschen als zielstrebiges Wesen, das sich an einer Hierarchie von Bedürfnissen orientiert
• Rohracher, Hubert (1903–1973): „Einführung in die Psychologie“ (1946), Betonung des Experiments als psychologisch-wissenschaftliche Methode, Rückführung psychischer Prozesse auf spezifische neuronale „Erregungskonstellationen“ im Gehirn
Box 1.7 | Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
• Rogers, Carl (1902–1987): „Client-centered Therapy“ (1951), Betonung der Einzigartigkeit, Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Menschen, humanistische Gegenposition zu Behaviorismus und Psychoanalyse
• Lorenz, Konrad (1903–1989): „Das sogenannte Böse“ (1963), Interpretation auch der menschlichen Psyche als Produkt ihrer umweltbezogenen Anpassungsleistungen im evolutionären Entwicklungsprozess
• Holzkamp, Klaus (1927–1995): „Kritische Psychologie“ (1972), neomarxistisch fundierte psychologische Forschung und Praxis; Hauptkritik: Die „bürgerliche“ Psychologie betrachte das Individuum abgelöst von seinen gesellschaftlichen Bedingungen und ignoriere die bestehenden, bewusstseinsbestimmenden „Produktions- und Herrschaftsinteressen“
• Lindsay, Peter H. & Norman, Donald A.: „Human Information Processing. An Introduction to Psychology “ (1977), konsistente Darstellung von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Vorstellung, Lernen, Denken und Handeln als Ergebnisse neuronaler bzw. psychischer Informationsverarbeitung
• Anderson, John R.: „Cognitive Psychology and its Implications“ (1980), Gesamtdarstellung einer kognitionswissenschaftlichen Sicht psychologischer Prozesse (ACT-Modell als Prototyp eines Gesamtmodells; s. 3.7.8)
• Rumelhart, David E. & McClelland, James L.: „Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructure of Cognition“ (1986), Hinweis auf simultane Verarbeitungsprozesse im Zentralnervensystem, Annahme überwiegend autonom arbeitender psychischer Module
Etwa ab 1960 löste dabei der Kognitivismus („Kognitive Wende“) den vor allem in den USA dominierenden Behaviorismus ab. Das Verhalten des Menschen wird nun nicht mehr durch einfache „ReizReaktions-Modelle“ erklärt, sondern durch komplexe, hierarchische Regulationsprozesse eines kognitiven Systems, dem psychische Funktionen zugeschrieben werden (Interpretation, Klassifikation, Lernen, Denken, Urteilen etc.). Die Zeit zwischen 1960 und 1970 war durch den sogenannten „Methodenstreit“ unter deutschsprachigen Psychologen gekennzeichnet, bei dem Erich Mittenecker, Peter Hofstätter, Gustav Lienert und Kurt Pawlik erfolgreich für die Anwendung eines statistischen Methodenkanons in der Psychologie eintraten, wie er durch die amerikanische Psychologie bereits vorgezeichnet war. Ab dieser Zeit kam es an deutschsprachigen Universitäten zu Zuwachsraten an Studenten im Ausmaß von 800- bis 1000 Prozent – übrigens meist ohne entsprechende Aufstockung des wissenschaftlichen Personals (s. auch Benetka, Benetka & Guttmann, 2001).
Wissenschaftliche Paradigmen sind normative disziplinspezifische Grundüberzeugungen über wissenschaftliche Praktiken, Methoden und Theorien.
Neben dem vorherrschenden wissenschaftlichen Paradigma in der psychologischen Lehre behaupten sich – zumindest in praxisorientierten, pädagogischen und therapeutischen Nischen – auch einige mit dem „Mainstream“ konkurrierende Strömungen der Psychologie, wie etwa die Psychoanalyse, die Humanistische Psychologie, die geisteswissenschaftliche und die Kritische Psychologie. Da sich Englisch weltweit als Wissenschaftssprache durchsetzt, steigt zudem auch innerhalb des Fachs Psychologie die Berücksichtigung und Bedeutungseinschätzung englischer und amerikanischer Veröffentlichungen.
Merksatz
Die Entwicklung der akademischen Psychologie begann vor etwa 150 Jahren und erfuhr in den letzten Jahrzehnten eine rasante Ausweitung in Forschung und Praxis.
Welche Bedeutung bestimmte Psychologinnen und Psychologen im 20. Jahrhundert auf die Entwicklung der modernen Psychologie hatten, lässt sich heute kaum objektiv abschätzen. Ein oft kritisierter Ansatz liegt darin, die Qualifikation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf Basis der Frequenz abzuschätzen, mit der sie in Fachpublikationen zitiert werden („Science Citation Index“). In einer amerikanischen Studie (Haggbloom et al., 2002) wurde der Versuch unternommen, die bekanntesten, einflussreichsten und anerkanntesten Psychologinnen und Psychologen des 20. Jahrhunderts so zu bestimmen, dass man verschiedene Kennwerte zusammenrechnete: die Häufigkeit der Zitate in Fachjournalen sowie in Einführungswerken, die von der Person geprägten Fachausdrücke („Eponyme“), die Anzahl von Ehrungen und das Ergebnis von Meinungsbefragungen unter amerikanischen Fachpsychologinnen und -psychologen. Auf die ersten fünf Plätze kamen dabei Burrhus Skinner, Jean Piaget, Sigmund Freud, Albert Bandura und Leon Festinger.
Zusammenfassung
Fast jeder Mensch bildet sich im Laufe seines Lebens gewisse psychologische Meinungen und Überzeugungen, oft in der Art von „Lebensweisheiten“ oder des subjektiven Gefühls von „Menschenkenntnis“. Diese als Trivialpsychologie bezeichneten Einstellungen stehen aber nicht selten in Widerspruch zu wissenschaftlichen Ergebnissen. Hinzu kommt das Bedürfnis des Menschen, in Fragen der Lebens- und Menscheneinschätzung recht zu behalten.
Für die Entwicklung von Seelenvorstellungen und religiösen Ideologien kann eine Reihe möglicher Gründe angeführt werden: 1. Durch eine Anthropomorphisierung der Welt, in welcher Götter, Dämonen und Geister mit menschlichen Zügen existieren, wird diese leichter verstehbar und vermeintlich besser beeinflussbar. 2. Die Furcht vor dem Tod wird durch die Annahme einer unsterblichen Seele, des Weiterlebens im Jenseits oder die Vorstellung von einer Seelenwanderung gemindert. 3. Religiöse Vorstellungen fördern das Vertrauen in eine gerechte Welt und eine faire Lebensordnung, in der gute und schlechte Taten über ein Totengericht im Paradies oder Nirwana abgegolten werden. 4. Religionen haben zumeist auch eine gesellschaftliche und soziale Ordnungsfunktion (Stärkung sozialer Verbundenheit, Machtsicherung). 5. Subjektiver Lebenssinn wird erlangt durch das „Bündnis“ mit (einem) höheren idealen Wesen. 6. Die Annahme einer Körper-Seele-Dichotomie liefert einfache Erklärungen für außergewöhnliche Erfahrungen (durch Träume, Fieberdelirien, Ekstase, Drogenerfahrungen, Schädelverletzungen). 7. Frühe gehirnorganische Entwicklungen könnten das Hören von Stimmen begünstigt haben („Bicameral Mind“). 8. Durch die Evolution hat sich möglicherweise eine genetische Disposition für Gottesglaube und Religiosität herausgebildet.
In der griechischen Philosophie vollzogen sich die ersten Schritte von einer spekulativen, mythischen und religiösen Auffassung der Seele in Richtung einer rationalistischen und empiristischen Betrachtungsweise. Vor allem aber die Philosophen der Neuzeit (z.B. Hume, Descartes, Kant) mit ihren verschiedenen Erklärungskonzepten für menschliche Erkenntnisgewinnung können als Wegbereiter einer wissenschaftlichen Analyse der Seele und des Bewusstseins gelten. Im vorletzten Jahrhundert schließlich, im Zuge des allgemeinen Fortschritts der Naturwissenschaften, entstanden in Europa und in Amerika die ersten psychologischen Labors und Institute. In den letzten hundert Jahren fand die empirische Psychologie als akademische Disziplin weltweit Eingang in die universitäre Forschung und Lehre und befindet sich derzeit in einem explosiven Wachstum, sowohl was die Studierendenzahlen als auch was die psychologischen Tätigkeitsfelder betrifft.
Fragen
1. Wodurch unterscheidet sich „Volkspsychologie“ bzw. „Laienpsychologie“ von „Populärpsychologie“?
2. Wie verlässlich ist der „gesunde Menschenverstand“?
3. Weshalb müssen auch plausible und trivial erscheinende Phänomene des Alltags wissenschaftlich untersucht werden?
4. Welche Bedeutung hat Psychologie für alltägliche Lebenssituationen?
5. Welche Erklärungsansätze kommen für die Entstehung von Religiosität und Seelenvorstellungen infrage?
6. Was versteht man unter dem „Rückschaufehler“?
7. Von welchen Annahmen geht das Konzept des „Bicameral Mind“ aus?
8. Welche gegensätzlichen Strömungen zur Aufklärung seelischer Prozesse kennzeichneten die Neuzeit?
9. Welche Wissenschaftsentwicklungen im 19. Jahrhundert förderten die Entstehung einer akademischen psychologischen Disziplin?
Literatur
Allesch, C. G. (2004). Geschichte und Systeme der Psychologie. Salzburg
Benetka, G. (2002). Denkstile der Gegenwart. Wien
Benetka, G. (2016). „Ich werde Naturforscher“. Giselher Guttmann im Gespräch mit Gerhard Benetka über sich und die akademische Psychologie in Österreich 1955- bis heute. Wien
Fernuniversität Hagen (2007). Interessante Links zur Psychologiegeschichte. http://psychologie.fernuni-hagen.de/PGFA/ (15.3.2016)
Hinterhuber, H. (2001). Die Seele. Natur- und Kulturgeschichte von Psyche, Geist und Bewusstsein. Wien
Lück, H. E. (2009). Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen. Stuttgart
Lück, H. E., Grünwald, H., Geuter, U., Miller, R. & Rechtien, W. (1987). Sozialgeschichte der Psychologie. Eine Einführung. Opladen Schönpflug, W. (2013). Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium. Weinheim
Definition, Ziele und Positionen der Psychologie | 2
Inhalt
2.1 Definitionen von Psychologie
2.2 Allgemeine Zielsetzungen wissenschaftlicher Psychologie
Beschreiben
Erklären
Vorhersagen
Verändern
2.3 Kontroversielle Grundannahmen der Psychologie
Leib – Seele
Anlage – Umwelt
Vergangenheit – Gegenwart
Freier Wille – Determiniertheit
Bewusst – unbewusst
Allgemeingültigkeit – Einzigartigkeit
Wertfreiheit – Wertbekenntnis
Objektivität – Subjektivität
Zergliederung – Ganzheitlichkeit
Statik – Dynamik







