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| Abb 2.1

In einer umfangreichen Analyse von 111 Studien über die Intelligenzausstattung von Verwandten (Bouchard & McGue, 1981; zit. nach Bourne & Ekstrand, 1992) zeigte sich bei eineiigen Zwillingen (Personen mit gleichem Erbgut) eine Übereinstimmung in den Intelligenzleistungen von 74 %, wenn sie gemeinsam aufgewachsen sind, und von nur 52 %, wenn sie in unterschiedlichen Familien heranwuchsen. Bei anderen Verwandtschaftsbeziehungen stimmten die Intelligenzquotienten nur mehr zwischen 36 und 6 % überein.
Merksatz
In welchem Ausmaß Anlage oder Umwelt auf die Entwicklung des Menschen Einfluss nehmen, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern ist je nach Art der untersuchten Eigenschaft, Alter und Lebenssituation einer Person unterschiedlich zu beurteilen.
Die Psychologie beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrhundert mit diesen Fragen, besonders mithilfe der Zwillingsforschung, da bei eineiigen Zwillingen die genetischen Anlagen gleich sind und somit Unterschiede im Verhalten nur auf Umwelteinflüsse und Lernprozesse zurückgeführt werden können (Abb. 2.1). Auch Effekte von Förderungsprogrammen oder familiäre Häufungen von Begabungen (z.B. Familie Bach) waren Gegenstand von Studien. Das Hauptergebnis ist, dass eine Abschätzung der Dominanz von Anlage oder Umwelt pauschal nicht möglich scheint (s. etwa Olson et al., 2001), sondern dass je nach Alter, Persönlichkeitseigenschaften und Lebenssituation genetische oder situative Einflüsse in unterschiedlichem Ausmaß wirksam werden. Untersuchungen zu dieser Fragestellung werden in den folgenden Kapiteln noch genauer dargestellt (s. auch Rutter et al., 2001).
2.3.3 |Vergangenheit – GegenwartIn welchem Ausmaß sind wir durch unsere Vergangenheit determiniert? Wie stark legen bereits vergangene Erfahrungen (z.B. Kindheitserlebnisse) unsere gegenwärtige emotionale und geistige Konstitution fest, und wie veränderbar sind unsere erworbenen Einstellungen und Gewohnheiten?
Aus der entwicklungspsychologischen Forschung ist etwa bekannt, dass durch frühkindliche Verwahrlosung – zum Beispiel durch frühe mehrmonatige Heimaufenthalte (Hospitalismus) – schwerste Beeinträchtigungen in der Gefühls- und Sozialentwicklung entstehen können (s. auch Bindungsstil, 12.7). Ein ähnliches Phänomen konnte bei Schimpansen nachgewiesen werden (Harlow & Harlow, 1962). Sozial- und lernpsychologische Studien zeigten außerdem auf, dass große Teile unserer sozialen Verhaltensweisen wie auch Beziehungsmuster bereits in frühen Jahren „latent“ durch Beobachtung erworben werden (s. 6.11). Aufgrund von Erfahrungen entwickeln wir zudem Vorurteile - und Stereotypien (s. Kap. 11), und oft überschatten auch angstvolle oder aggressive Vorerfahrungen das private oder berufliche Leben (s. Kap. 12).
Merksatz
Zweifellos sind Erleben und Verhalten stark durch vergangene Erfahrungen geprägt, deren Auswirkungen können jedoch durch neue Erfahrungen modifiziert werden.
Allerdings bewies die psychologische Forschung gerade auch die Änderungs- und Lernfähigkeit des Menschen in allen diesen Bereichen. Der daraus resultierende „Milieuoptimismus“, die Betonung der umweltbedingten Plastizität menschlichen Erlebens und Verhaltens, wird verständlicherweise weniger geteilt in Forschungsbereichen mit starkem medizinischen oder biologischen Einschlag.
Freier Wille – Determiniertheit| 2.3.4Haben wir einen freien Willen? Kann es Freiheit überhaupt geben, wenn Verhaltensweisen kausal erklärt werden können? Wie kann dann allerdings jemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn er seine Entscheidungen nicht frei treffen kann?
Prinz (2004, 201) kommt zu dem Schluss, dass aus naturwissenschaftlicher Sicht die Annahme eines Indeterminismus und der damit verbundene Erklärungsverzicht inakzeptabel sei und dass deshalb „für Willensfreiheit als theoretisches Konstrukt im Rahmen der wissenschaftlichen Psychologie kein Platz“ sei. Aus dieser Sicht ist der freie Wille eine „Illusion, wenngleich vielleicht eine, die dem Menschen hilft, mit seiner Natur zurecht zu kommen“ (Markowitsch, 2004, 167). Dagegen kann man einwenden, dass sich eine vollständig kausal determinierte Wirklichkeit mit ihren zahlreichen Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwar postulieren, aber nicht nachweisen lässt, weil Prozesse nicht beliebig genau registriert werden können („Chaostheorie“; Kriz, 1992).
Merksatz
Der Widerspruch zwischen der Annahme einer kausal determinierten Welt und dem subjektiven Empfinden eines freien Willens kann gelöst werden, indem Letzterer als Ausmaß der Einsicht in kognitiv begründete Entscheidungsalternativen und damit partieller Unabhängigkeit von situativen Zwängen interpretiert wird.
Im Gegensatz zu radikal deterministischen Standpunkten könnte Freiheit allerdings auch das Erkennen von Handlungsalternativen bedeuten. Je mehr Möglichkeiten des Handelns bewusst erkannt werden, desto größer sind der Freiheitsgrad und die Selbstverantwortlichkeit beim jeweiligen Individuum. Goschke (2004, 188) meint dazu: „Im Laufe der Evolution unterschiedlicher Formen der Verhaltenssteuerung ist es zu einer zunehmenden Abkoppelung der Reaktionsselektion von der unmittelbaren Reizsituation und Bedürfnislage gekommen, womit gleichzeitig ein Zuwachs an Freiheitsgraden der Verhaltenskontrolle verbunden war“, und weiter: „Die Freiheitsgrade, die sich aus der Fähigkeit zur antizipativen Verhaltensselektion und Selbstdetermination ergeben, begründen insofern die einzige Form von Willensfreiheit, die wir wollen können, wenn wir einem naturalistischen Weltbild verpflichtet sind“. Die Handlungsfreiheit eines Menschen ist demnach umso größer, je mehr Einsicht er in die Voraussetzungen, Bedingungen und Konsequenzen seines Handelns hat. Ein solcher Standpunkt wird heute wahrscheinlich von den meisten Psychologinnen und Psychologen vertreten.
Von dieser Warte aus erscheinen die Annahmen eines freien Willens und einer kausal vollständig determinierten Welt logisch nicht widersprüchlich, weil es sich im einen Fall um die Selbstbeobachtungsperspektive und im anderen Fall um die Fremdbeobachtungsperspektive handelt (Kuhl, 1996). Die Entscheidungen eines erwachsenen Individuums sind insofern prinzipiell frei, als sie mit dem Erreichen geistiger Reife und Mündigkeit bewusst reflektiert werden können (eine umfassende Diskussion dieser Thematik liefern Cranach & Foppa, 1996; auch Lukas, 2004).
2.3.5 |Bewusst – unbewusstMerksatz
Der Großteil psychischer Informationsverarbeitung erfolgt automatisch und wird nicht bewusst kontrolliert. Bewusstsein wird dann eingeschaltet, wenn unbekannte Informationen auftreten, genauere Analysen von Kognitionen anstehen oder neue Handlungen zu entwerfen sind.
Viele Menschen sind davon überzeugt, ihr Verhalten sei überwiegend bewusst kontrolliert. In welchem Ausmaß steuern jedoch auch unbewusste psychische Prozesse unser Erleben und Verhalten? Wenn man wie der Physiologe Keidel (1963) lediglich die neuronale Ausstattung des Menschen betrachtet und die „Kanalkapazität“ (Durchflussgeschwindigkeit) der menschlichen Informationsverarbeitung abschätzt, dann erhält man 109 bit/s für Sinnesorgane, 107 bit/s für die Verhaltensorgane, und nur etwa 102 bit/s entfallen auf das Bewusstsein. Exaktere Untersuchungen über die kontrollierte versus automatisierte Verarbeitung von Informationen stammen von Schneider und Schiffrin (1977), die ebenfalls die engen Grenzen einer bewussten Steuerung menschlicher Lebensäußerungen aufzeigen. Wir müssen also allgemein davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit psychischer Prozesse automatisch abläuft und dass sich nur dann das Bewusstsein einschaltet (als „psychische Lupe“ nach Mandler, 1979), wenn die automatischen Programme nicht mehr zum gewünschten Ergebnis führen, wenn neue Aufgaben gelöst werden müssen oder wenn gespeicherte Erfahrungen einer geistigen Analyse unterzogen werden (s. dazu auch Kap. 4).
Allgemeingültigkeit – Einzigartigkeit| 2.3.6nomothetisch: gesetzgebend, gesetzesfindend ideografisch: das Einzelne beschreibend
Merksatz
Eine Beschreibung der psychischen Beschaffenheit des Menschen erfordert sowohl generalisierende als auch spezifizierende Vorgehensweisen.
Sind alle Menschen gleichartig strukturiert, sodass sich für alle allgemeinpsychologische Gesetze formulieren lassen, oder sind Menschen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, ihrer Einstellungen und ihrer Denkweise so unterschiedlich, dass für jede Person ein eigenes theoretisches Modell erstellt werden muss? Die erste Annahme entspricht eher der nomothetischen, die zweite der ideografischen Betrachtungsweise in der psychologischen Forschung, wobei die erste eher für die naturwissenschaftliche und die zweite eher für die geisteswissenschaftliche Richtung steht. Bortz und Döring (1995, 274) meinen allerdings: „Diese Begriffsbestimmung gilt heute als wenig hilfreich, da rein ideografisches Arbeiten nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden kann“ (wegen des geringen Grads an Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse). Umgekehrt kann man in der Psychologie auch nicht auf den ideografischen Aspekt verzichten, weil man sonst etwa in der Beratung oder in der Therapie den konkreten Menschen zu verlieren droht. Zum Beispiel sind Diagnosen, Gutachten und Behandlungsprogramme ideografische „Produkte“, die allerdings unter Zuhilfenahme nomothetischer Kenntnisse entworfen werden.
Wertfreiheit – Wertbekenntnis| 2.3.7Die Diskussion der Wertfreiheit in der Wissenschaft hat mit dem sogenannten „Werturteilsstreit“ in der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt und erfuhr eine Weiterführung in den späten Sechzigerjahren mit dem „Positivismusstreit“ zwischen Anhängern der kritisch-rationalen und der kritisch-dialektischen Wissenschaftstheorie.
Die positivistische Haltung postuliert, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur Sachfragen aufgreifen und diese „ideologiefrei“ beantworten sollen. Werturteile würden sich einer empirischen Begründung entziehen, die wissenschaftliche Objektivität verletzen und der Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Aussagen schaden.
Merksatz
Die Meinung, Wissenschaft könne wertfrei betrieben werden („Wertneutralität“), wird heute kaum mehr ernsthaft verfochten, weshalb Forscherinnen und Forscher ihre Forschungsinteressen und Werthaltungen möglichst klar offenlegen und nach größtmöglicher Objektivität ihrer Erkenntnisse streben sollten.
Demgegenüber betonte man in der Kritischen Psychologie dialektisch-marxistischer Herkunft die Selbstbestimmung des Menschen und seine Fähigkeit, den bestehenden ungerechten „Herrschafts- und Produktionsverhältnissen“ „emanzipatorisch“ entgegenzuwirken. Obwohl die Kritische Psychologie das zweckrationale Vorgehen, die gesellschaftliche Instrumentalisierbarkeit und das experimentellstatistische Vorgehen der sogenannten „Bürgerlichen Psychologie“ heftig kritisierte, gelang es ihr nicht, den positivistisch ausgerichteten „Mainstream“ der Psychologie zu verdrängen. Dennoch darf sie als erfolgreich gelten hinsichtlich einer Sensibilisierung der Psychologie für weltanschauliche und gesellschaftliche Einflüsse auf das Wissenschaftstreiben, wie sie etwa von Kuhn (1976) in seiner Analyse der Entstehung und Entwicklung von Wissenschaften näher beschrieben wurden. Als ebenfalls stark wertorientiert dürfen die Humanistische Psychologie (Maslow, 1943) und die Positive Psychologie (Seligmann & Csikszentmihalyi, 2000) gelten.
2.3.8 |Objektivität – SubjektivitätMerksatz
Der Gefahr, psychologische Phänomene „reduktionistisch“ zu beschreiben, d.h., sie nur durch die Brille der jeweils vertretenen Theorie zu betrachten, sollte man durch wiederholte Versuche einer unmittelbaren, möglichst unvoreingenommenen Konfrontation mit den Phänomenen begegnen.
Besonders die Phänomenologie – eine Philosophieströmung, in der eine unvoreingenommene, durch Denkgewohnheiten möglichst unverfälschte Herangehensweise an Erkenntnisobjekte gefordert wird – weist kritisch auf die Künstlichkeit der Subjekt-Objekt-Trennung in vielen human- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen hin (s. Slunecko, 2002). Die Kritik am Objektivitätsideal richtet sich auch hier wieder gegen die oft implizierte Annahme, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nur als „reine“ Beobachtende auftreten könnten, die den untersuchten Prozess nicht beeinflussten, und somit keine Artefakte erzeugten (s. auch 2.2.1).
Zergliederung – Ganzheitlichkeit| 2.3.9Hier geht es um die prinzipielle Frage, ob zur Aufklärung psychischer Phänomene diese in Einzelheiten zerlegt werden dürfen (z.B. Wahrnehmungen, Vorstellungen, Einstellungen, Emotionen, Motive) oder ob man den psychischen Phänomenen nur dann gerecht wird, wenn man sich ihnen ganzheitlich nähert, wie z.B. vonseiten der Gestaltpsychologie argumentiert wird.
Es ist kaum zu bestreiten, dass mit der ersten, der analytischen Methode, in der Physik, Chemie, Biologie, aber auch in der Biologischen Psychologie, Wahrnehmungspsychologie, Lernpsychologie und Denkpsychologie bahnbrechende Leistungen erzielt wurden (s. etwa Anderson, 1996). Eine zergliedernde Forschungsmethodik scheint sich in der Psychologie immer dann zu bewähren, wenn Systeme untersucht werden, die in weitgehend autonome Untersysteme unterteilbar sind, welche miteinander entweder parallel oder seriell interagieren.
Merksatz
Ob eher eine zergliedernde („atomistische“) oder ganzheitliche („integrative“) Herangehensweise an Forschungsphänomene angebracht ist, hängt vom Ausmaß ihrer Vernetzung bzw. Modularität ab.
Wenn man allerdings in der Forschung mit Phänomenen konfrontiert ist, in denen zahlreiche Wechselwirkungen und Rückkoppelungen wirksam sind („autopoietische Realität“ nach Schülein & Reitze, 2002), dann wird man kaum ohne Modelle auskommen können, die in stärkerem Ausmaß ganzheitlich orientiert sind. Man muss dabei allerdings nicht unbedingt den geisteswissenschaftlichen Weg mit dem Einsatz qualitativer Untersuchungsmethoden beschreiten (Phänomenologie, Hermeneutik etc.), sondern kann sich unter Verwendung entsprechender Computerprogramme auch einer kybernetischen Analyse psychischer Prozesse bedienen („Kognitive Modellierung“; PSI-Programm, Dörner, 1999; ACTModell, Anderson & Lebiere, 1998; Sun, 2009).
Statik – Dynamik| 2.3.10Merksatz
Phänomene der Psychologie lassen sich sowohl hinsichtlich ihrer Merkmalsstruktur als auch hinsichtlich ihrer Merkmalsdynamik untersuchen.
Grundsätzlich können sich Gesetzmäßigkeiten auf strukturelle Zusammenhänge oder auf zeitliche Abläufe beziehen. Deshalb können auch psychologische Phänomene auf zweierlei Art analysiert werden: Einerseits lassen sich darüber Informationen an verschiedenen Sachverhalten sammeln (wie z.B. durch einmalige Vorgabe eines Intelligenztests bei verschiedenen Personen) und andererseits an einzelnen Sachverhalten mehrmals zu verschiedenen Zeiten (wie z.B. bei der kontinuierlichen Ableitung von Gehirnströmen im Schlaf einzelner Personen). Im ersten Fall – bei Querschnittanalysen – erfährt man Näheres über das gesetzmäßige Nebeneinander der Merkmale von Phänomenen (z.B. über die Struktur von Intelligenzmerkmalen), während im zweiten Fall – bei Längsschnittanalysen – mehr das gesetzmäßige Nacheinander der Zustände von Phänomenen zu erforschen ist (z.B. die Aufeinanderfolge von Schlafphasen oder Entwicklungsstadien).
2.3.11 |Quantitativ – qualitativAuch die Kontroverse zwischen den Befürworterinnen und Befürwortern einer quantitativen Erfassung von psychischen Phänomenen einerseits und jenen einer qualitativen, d.h. in diesem Zusammenhang einer nicht auf Quantitäten basierenden Erfassung andererseits, lässt sich in der Psychologie über mindestens hundert Jahre zurückverfolgen. Sie mündet in der Grundsatzfrage, ob sich psychische Phänomene überhaupt quantifizieren oder nur sprachlich beschreiben lassen. Dass in bestimmten Bereichen, wie etwa der Wahrnehmung, eine Quantifizierung gelingt, hat bereits Fechner (1860) mit seinen Ergebnissen zur „Psychophysik“ bewiesen. In welchem Ausmaß aber auch komplexe kognitive Prozesse quantifizierbar sind, ist immer noch Gegenstand von Forschungen. Eine moderne Variante des Quantifizierungsansatzes sind mathematische Modelle zur Simulation psychischer Abläufe („kognitive Modellierung“, engl. cognitive modeling), die in Bereichen der Kognitiven Psychologie etwa bei Denk-, Urteils- oder Handlungsmodellen erprobt werden (z.B. ACT-R-Modell von Anderson, Matessa & Lebiere, 1997; Sun, 2009; Farrell & Lewandowsky, 2019).
Die Vorteile qualitativer Erhebungsmethoden (z.B. durch sprachliche Schilderungen, Fotos, Videos) sind vor allem in folgenden Punkten zu sehen:
• Sie verfremden die Befragungssituation weniger (als z.B. eine Laborsituation).
• Die Beobachtungen können uneingeschränkt gewonnen werden (z.B. ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten).
• Die Interaktionen zwischen Forschenden und beforschten Personen werden explizit gemacht.
• Die subjektiven Eindrücke der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in die Auswertung miteinbezogen.
Es handelt sich hier um eine hermeneutische, d.h. sinn- und kontextbezogene, „verstehende“ Art der Interpretation von Daten. Als Nachteile qualitativer Methoden werden ein Mangel an Vergleichbarkeit mit anderen einschlägigen Untersuchungen, eine geringere Generalisierbarkeit der Ergebnisse und ein Mangel an Objektivität angeführt, d.h. eine geringere Übereinstimmung von Interpretationen gleicher Daten durch verschiedene Forscherinnen und Forscher (s. Flick et al., 1995; Döring & Bortz, 2016). Eine pointierte Gegenüberstellung von Merkmalen quantitativer und qualitativer Methoden gibt Lamneck (1995), ein prononcierter Vertreter qualitativer Auswertungsverfahren.
Merksatz
Der Gegensatz zwischen „quantitativer“ und „qualitativer“ Forschung dürfte sich im Sinne einer komplementären, einander ergänzenden Anwendung beider Ansätze immer mehr auflösen.
Ähnlich wie Karl Bühler vor etwa achtzig Jahren eine methodische Integration für die Psychologie vorgeschlagen hat, empfehlen nun auch Bortz und Döring (1995, 281) – ein Autor und eine Autorin, die den quantitativen Methoden verpflichtet sind – in ihrem weithin beachteten Werk „Forschungsmethoden und Evaluation“ eine Zusammenführung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden. Nicht nur seien diese im Sinne eines interdisziplinären Arbeitens parallel einzusetzen, sondern es sollten auch Erhebungs- und Auswertungstechniken entwickelt werden, „die qualitative und quantitative Operationen vereinigen“. Die vermehrte Nutzung von Computern und elektronischen Arbeitsmitteln in der Forschung fördert in der Tat nicht nur den Einsatz mathematisch-statistischer Verfahren (z.B. statistischer Programmpakete), sondern eröffnet auch für die Weiterentwicklung qualitativer Verfahren große Chancen (Beispiele für qualitativ orientierte Auswertungsprogramme: ATLAS.ti, RQDA, MAXQDA, QDA Miner).
2.4 |Gegenwärtige Forschungsorientierungen der PsychologieInnerhalb von Wissenschaften existieren zumeist unterschiedliche Grundkonzepte (wissenschaftliche Paradigmen) darüber, welche Forschungsfragen aufgegriffen, welche wissenschaftlichen Instrumente für Untersuchungen herangezogen und welche Erklärungsmodelle bevorzugt werden. Die häufigsten in der Fachliteratur genannten derartigen Forschungsperspektiven sind folgende:
Biologische Perspektive: Bei dieser Forschungsausrichtung werden psychologische Phänomene hauptsächlich durch die Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems oder anderer biologischer Systeme erklärt.
Merksatz
Die Erforschung eines psychischen Phänomens kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen, die sich hinsichtlich der theoretischen Annahmen, der verwendeten Untersuchungsmethoden und der bevorzugten Erklärungsmodelle unterscheiden.
Psychodynamische Perspektive: Ein Erklärungsansatz, bei dem psychische Prozesse auf die Verarbeitung vergangener Erfahrungen (z.B. Kindheitserlebnisse, Elternbeziehungen), auf teils unbewusste motivationale Kräfte (Triebe) oder auf die Anpassung an soziale Zwänge (Kultur) zurückgeführt werden.
Behavioristische Perspektive: Ein auf das „objektiv“ beobachtbare Verhalten (amerikan.: „behavior“) des Menschen (und von Tieren) ausgerichteter Ansatz, bei dem die gesetzmäßige Aufklärung von Reiz-Reaktions-Beziehungen im Vordergrund steht und der auf Aussagen über „innere“ – bewusste oder unbewusste – Prozesse verzichtet.
Humanistische Perspektive: Eine Strömung, welche den Menschen als freies und aktives Wesen interpretiert, das sich von selbst entwickelt, wenn man sich ihm nur wertschätzend, empathisch, ehrlich und „non-direktiv“ zuwendet („Selbstaktualisierung“).
Kognitive Perspektive: Hier sind Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Denken, Problemlösen, Emotion und Motivation als informationsverarbeitende Prozesse gesetzmäßig zu beschreiben („Computer-Metapher“).
Evolutionäre Perspektive: Die Struktur der Psyche sowie ihre Dynamik werden als Resultat der evolutionsgeschichtlichen Entwicklung des Menschen betrachtet, bei der das Verhaltensrepertoire (z.B. Erbkoordinationen, Ritualisierungen) durch Selektion und Mutation an die jeweiligen (frühmenschlichen) Umweltbedingungen angepasst und genetisch weitergegeben wurde.
Kulturvergleichende Perspektive: Dabei stehen Einflüsse von Kulturen (z.B. ihre Normen, Medien, Religionen) auf das Erleben und Verhalten des Menschen im Zentrum der Betrachtung, eine Richtung, die auf fast alle psychischen Phänomene anwendbar ist.
| Abb 2.2

Von Coan (1968) wurden 34 Merkmale psychologischer Theorien so in einen geometrischen Raum projiziert, dass das Ausmaß ihrer inhaltlichen Verwandtschaft durch ihre räumliche Nähe wiedergegeben wird. Die Schwerpunkte von sechs Bündelungen solcher Merkmale wurden als „Faktoren“ dargestellt, welche inhaltlich als oberbegriffliche Charakterisierungen der Merkmalsbündel aufzufassen sind. Diese sechs Faktoren konnten dann selbst wieder über zwei Faktoren (Koordinaten) beschrieben werden, von denen der eine (A) die naturwissenschaftliche und der andere (B) die geisteswissenschaftliche Forschungsorientierung symbolisiert.
Idealerweise sollten die Forschungsergebnisse der verschiedenen Ansätze zusammengeführt und zu einheitlichen Theorien integriert werden. Leider wird dieses Vorhaben durch die große Menge an empirischen Resultaten erschwert. Jährlich erscheinen weltweit nicht weniger als 2.500 psychologische Zeitschriften und etwa 40.000 wissenschaftliche Publikationen zu psychologischen Themen (Schönpflug, 2013).
Zusammenfassung
Die Psychologie befasst sich mit menschlichem Verhalten, Erleben und Bewusstsein, deren Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und eventuelle Veränderung sie anstrebt. Wie in jeder anderen Wissenschaft finden sich auch hier zwischen den Fachangehörigen Diskrepanzen hinsichtlich axiomatischer Annahmen (z.B. Leib-Seele-Dualismus, Anlage-Umwelt-Einfluss, Forschungsmethoden), aus denen sich unterschiedliche Präferenzen für theoretische Erklärungen und Forschungsthemen ergeben. Der Theorienraum der Psychologie lässt sich grob in eine naturwissenschaftliche und in eine geisteswissenschaftliche Orientierung gliedern, eine Unterscheidung, die sich auch in den gegenwärtigen Forschungsperspektiven widerspiegelt, die aber als wechselseitig befruchtend angesehen werden können.
Fragen
1. Woran orientieren sich Definitionsversuche für das Wissenschaftsfach Psychologie?
2. Wie lautet eine möglichst umfassende Definition der Psychologie, bei der auch die Hauptforschungsthemen berücksichtigt sind?
3. Wie lassen sich Psyche und Bewusstsein in ihrem Wechselbezug charakterisieren?
4. Welche allgemeinen Zielsetzungen gelten für die Psychologie als Wissenschaft?
6. Mit welchen Verfälschungen (Artefakten) muss man bei Befragungen rechnen?
7. Was versteht man in der Psychologie unter Objektivitäts-, Reliabilitäts- und Validitätsproblem?
8. Nennen Sie Möglichkeiten des Einsatzes psychologischen Wissens zur Veränderung und Optimierung menschlichen Erlebens und Verhaltens!
9. Welche gegensätzlichen Grundannahmen lassen sich in psychologischen Forschungsfeldern unterscheiden?







