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In diesen jungen Jahren setzte sie ihre Interessen und Fertigkeiten ein, um nebenbei Geld zu verdienen. Während der gymnasialen Oberstufe arbeitete sie für Rezensionen, Veranstaltungen und Beratungen mit der Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea »Il Logogramma« und der Kulturzeitschrift »Quadri e Sculture« zusammen, im Studium an der Biblioteca di Filosofia »Villa Mirafiori«, unterrichtete von 1996 bis 1999 Italienisch an der Accademia Tedesca »Villa Massimo«, wurde nach ihrem Abschluß kurzzeitig Philosophiedozentin am Centro Universitario »Universitalia« und arbeitete als Lektorin und Übersetzerin bei dem jüdischen Verlag »Giuntina« in Florenz. Außerdem unterrichtete sie privat einige Deutsche in der Stadt.
Von 1997 bis 2001 studierte sie Evangelische Theologie an der Facoltà Teologica Valdese in Rom, mit dem Schwerpunkt auf Theologie und Exegese des Alten Testaments, und schloß mit dem Diplom ab. Dieses Studium verdankte sie einer Sondergenehmigung für nicht-christliche Studenten. Dies war nötig, weil Francesca während ihres Universitätsstudiums sich zum Judentum bekannte. An der Gregoriana, der päpstlichen Universität, wäre sie nur als Gasthörerin zugelassen worden.
Als Francesca im Januar 1999 nach Deutschland ging, lebte sie sich relativ schnell ein, natürlich auch dank der Tatsache, daß sie einen Mann hatte, der eine ganze Infrastruktur mitbrachte. Sie knüpfte nicht nur rasch Kontakt mit der Universitätswelt, sondern auch mit der jüdischen Gemeinde – sie ging damals regelmäßig in die Synagoge –, baute systematisch Freundschaften auf, so zu einigen Italienischschülern, zur Dermatologin, zu ihrem Rechtsanwalt und natürlich zu etlichen italienischen Kommilitonen; sie spendete, wie zuvor in Rom, Blut beim Roten Kreuz. Sie etablierte sich peu à peu und wurde – man kann es so sagen – eine richtige Deutsche. Am 6. Februar 2002 wurde sie schließlich eingebürgert.
Hier, in Deutschland, macht sie eine elementare Lebenserfahrung: Sie braucht keine Angst mehr zu haben. Angst, die alltägliche, ist durchaus ein Markenzeichen in Italien. Man kann dort nie wissen, ob nicht im nächsten Augenblick etwas Irrationales, Gesetzloses, Chaotisches, Abgefeimtes passiert. Man ist sich nie sicher. In Deutschland hingegen, auch wenn die Deutschen gerne jammern und stöhnen, kann man im Regelfall davon ausgehen, daß es mit rechten Dingen zugeht. Ein Beispiel: Gingen wir ins Kino, war Francesca viel zu früh fertig und drängte mich zum Aufbrechen. Ich sagte ihr, der Verkehr, die Straßenbahn, der Kartenverkauf, die Sitzverteilung, all das würde hier funktionieren. Das sei in Italien anders, deswegen müsse man sich auf die Eventualitäten einstellen, wobei natürlich viel Zeit verschwendet wird. Francesca weiß es zu schätzen, daß auf die deutschen Verhältnisse, zumindest im Vergleich zu ihrem Heimatland, Verlaß ist. Sie kann sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ansonsten das Leben genießen.
Ihr Promotionsstudium in Freiburg – mit dem Vorlauf sind es drei Jahre – war extrem arbeitsintensiv. Man muß bedenken, daß Francesca sich zuallererst in der deutsche Sprache zurechtfinden mußte; immerhin war diese neue Sprache das Medium ihrer schriftlichen Arbeit an der Universität. Ihre Dissertation schrieb sie auf Italienisch und übersetzte sie dann eigenständig ins Deutsche, wonach ich als Lektor eingriff. In dieser Zeit mußte sie aber auch noch »ordentlich« studieren, denn offiziell befand sie sich im Hauptstudium eines altehrwürdigen, heute meist abgeschafften Studiengangs der Direktpromotion ohne Abschluß. Dafür besuchte sie philosophische Seminare und solche der Katholischen Theologie, für die sie neun Hausarbeiten schrieb. Parallel dazu absolvierte sie ihr Studium der Evangelischen Theologie in Rom. Zwischendurch perfektionierte sie ihr Englisch mit dem Zertifikat »very good« des höchsten Levels des »Cambridge Institute« und gab, um ihre Finanzen aufzubessern, fleißig privaten Italienischunterricht. Damit aber nicht genug: In diesen Jahren übersetzte sie zwei Bücher von Martin Buber ins Italienische für den Florentiner Verlag Giuntina, eine Art Hobby und Ferienbeschäftigung.
Francescas finanzielle Situation verbesserte sich von Jahr zu Jahr. Vom Wintersemester 1999/2000 bis Wintersemester 2001/02 erhielt sie ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die erste Zeit davor in Deutschland bestritt sie mit Ersparnissen, Sprachunterricht und einem kleinen Unijob. Das Sommersemester 2002 wurde auf ähnliche Weise überbrückt. Auch hier hatte Francesca Ersparnisse, weil sie auch während des Promotionsstipendiums weiterhin Italienischunterricht gab. Außerdem war sie ab diesem Semester Lehrbeauftragte an der Universität Freiburg, eine Tätigkeit, die sie mit Blockseminaren auch dann ausübte, als sie in Israel wohnte. Für das Wintersemester 2002/03 erhielt sie ein großzügiges, zweijähriges Auslandsstipendium der Minerva-Stiftung. Im akademischen Jahr 2003/04 hatte sie eine kleine Dozentur in der Schweiz, einem Land, das bekanntlich seine Lehrkräfte ausnehmend gut bezahlt, und einen Lehrauftrag an der Universität Frankfurt (am Main). Im Wintersemester 2004/05 wurde es wieder enger. Dafür hatte sie ab dem Sommersemester 2005 bis zu ihrer Ernennung zur Professorin in Potsdam Festanstellungen als Lehrstuhlvertreterin in Heidelberg und Frankfurt, außerdem eine Gastprofessur in Graz. Auch wenn Francesca zuweilen panische Angst befiel, sie könne, so wörtlich, verhungern, hatte sie immer ausreichend Geld, um das Leben zu führen, das sie führen wollte. Luxus war ihr ohnehin völlig gleichgültig.
Ab September 2002 – wenige Wochen, nachdem bei ihr die chronische Krankheit des juvenilen Diabetes (Typ 1) diagnostiziert worden war – lebte sie in Jerusalem, um an der dortigen Bibliothek über ihr Habilitationsthema zu forschen. Es war nicht ihr erster Aufenthalt im Heiligen Land, die Dauerresidenz war freilich eine Phase größter Intensität. Es war die Zeit des täglichen Terrors in Israel. Auch Francesca, die auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war, mußte auf Busfahrten mit dem Schlimmsten rechnen. Die Anspannung im Land war unerträglich. Francesca flüchtete sich in die Arbeit, las von morgens bis abends, lernte Ivrit und nahm gründlich Arabischunterricht. Auch hier suchte sie zielstrebig Freundschaften, nicht zuletzt zu deutschen Juden, die diese neue Heimat gewählt hatten. Als ich 2004 Francesca besuchte, war ich erstaunt, wie sehr sie in gewissen Kreisen integriert war. Sie war ein Kommunikationstalent. Sie flog nach Hause, wenn sie Termine hatte. Ab dem akademischen Jahr 2003/04 nahmen ihre Lehrtätigkeiten in Europa derart zu, daß sie ihre Zeit in Jerusalem öfters und länger unterbrechen mußte. Sie wuchs in den akademischen Betrieb hinein und war bald eine gefragte Dozentin.
Im Frühjahr 2002 war Francesca zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Immer wieder forschte sie dort, besuchte Kongresse, hielt Vorträge und stellte sich für Stellen vor. Sie genoß die großzügigen Selbstverständlichkeiten des akademischen Lebens in den USA, die üppig ausgestatteten Bibliotheken, die Ungezwungenheiten des sozialen Austauschs unter den »scholars«. Vor allem das Hebrew Union College mit der Klau Library in Cincinnati war seit 2005 der Ort, an dem sie für mehrere Wochen am Stück arbeitete. Dort war sie in die amerikanische jüdische Community integriert und pflegte, auch von Deutschland aus über Mails und Skype, intensive Freundschaften. Späterhin, als sich ihre Position in Deutschland festigte, klärte sich ihr Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Dort arbeiten und forschen, das sicher, aber für immer leben, dorthin zu ziehen, das kam nicht in Frage. »Die Arbeitsbedingungen«, sagte sie, »sind phantastisch, aber wenn du den Campus verläßt, beginnt die kulturelle Leere.« Sie war und blieb eine Europäerin, und das sowohl kulturell wie politisch. Mit Deutschland wollte sie kein Land tauschen.
2007 nahm Francesca sich eine Zweitwohnung in Frankfurt, wo sie eine Professur vertrat. Die Universität hatte ihr ein Gästeappartement zur Verfügung gestellt. So konnte sie sich besser auf die Arbeit konzentrieren und mußte nicht, wie bisher, wöchentlich pendeln und im Hotel nächtigen. Das hatte zudem den Vorteil, daß sie auch in dieser Stadt, in der das jüdische Leben viel reger und geschichtsträchtiger ist als im kleinen Freiburg, ein Netz von Kontakten aufbauen konnte.
Ab Herbst 2007 bezog sie, nachdem der Ruf an die Universität Potsdam erfolgt war, eine Wohnung in Berlin, natürlich in der Hauptstadt und nicht in der benachbarten, kleineren Stadt. Sie, die Römerin, die immer erklärte, »man« könne in keiner Stadt leben, die weniger als vier Millionen Einwohner hat, war endlich in der Metropole angekommen. Frankfurt war bis dahin die Stadt, in die wir fast gezogen wären. 2004 hatte die Universität ihr eine Vertretungsprofessur mit Gästewohnung angeboten, die Stelle mußte dann aber anderweitig vergeben werden. So blieben wir zunächst in Freiburg, von wo aus jedoch Francesca immer wegstrebte; dabei war Frankfurt ihre erste Wahl. Später räumte sie ein, daß Berlin natürlich die bessere sei. Frankfurt war definitiv zu klein und längst von einer linksintellektuellen Hochburg zu einer kalten Kapitalismusstadt mutiert. Ihre lange Odyssee fand ins neue Zuhause, von Rom über Freiburg nach Berlin, mit den Zwischenstationen Jerusalem, Frankfurt und Cincinnati. In Kairo erklärte sie mir 2001, daß ihre Reise viel verschlungener war: von der ägyptischen Gefangenschaft über Kanaan, die sephardische Diaspora mit Spanien und dem Elsaß nach Rom und von dort nach Deutschland. Wer sonst kann auf eine fünftausend Jahre lange Reise zurückblicken als das jüdische Volk?
Man fragt sich, ob Francesca arbeitswütig war, ob sie überhaupt das Leben genießen konnte, ob sie so etwas wie Hobbys kannte. Immerhin: In den zwölf Jahren in Deutschland schrieb sie zwei Bücher, übersetzte zwei, veröffentlichte etwa 30 Aufsätze, hielt über 50 Vorträge und bestritt gut 60 Lehrveranstaltungen zu stets unterschiedlichen Themen. Nach Francescas Tod fragte mich einer ihrer Kollegen, wie denn Francescas unglaublicher Ehrgeiz bei gleichzeitiger Höchstgeschwindigkeit zu erklären sei. Ich konnte eine mehrschichtige Antwort geben. Zunächst besaß Francesca eine unstillbare Neugierde und Freude am Entdecken, einen Wissensdurst, der nicht zu stillen war. Sodann wußte sie im Inneren (oder ging davon aus), daß sie nicht lange leben sollte. Schließlich, und das dürfte der tiefere Grund sein, war diese Art von geistiger Existenz eine Lobpreisung Gottes. Der letzte Grund für Francescas enzyklopädisches Verhalten war ein religiöser, und zwar ein zutiefst jüdischer.
Ich fragte sie einmal: »Hast Du wirklich den ganzen Shakespeare gelesen?« Sie antwortete: »Natürlich, das ist doch eine Mitzwa.« Mithin eine Pflicht, eine gute Tat im jüdischen Denken. Gott habe uns Menschen auferlegt, daß wir uns mit der Schöpfung ausgiebig beschäftigten, und dazu gehört alle Kunst, alle Weltkultur, alle Musik, und so auch die Weltliteratur mit ihrem Shakespeare. Ein umfassendes Bildungsideal, aber grundiert von der emphatischen Idee einer universalen Gelehrsamkeit. Und diese ist prinzipiell unendlich, also unerreichbar. Francesca schrieb mit zwanzig in eines ihrer Notizbücher, wie sehr sie darunter litt, so wenig zu wissen, so unreif zu sein, gerade weil sie so viele Bücher gelesen habe, wisse sie von ihren Defiziten und Lücken. Schon damals verkörperte sie die sokratische Weisheit, daß mit dem Wissen das Nichtwissen zunehme. Auch noch in Freiburg glaubte sie in Augenblicken der Niedergeschlagenheit, die »schlimmste Lehrerin der Welt« zu sein, was nun wirklich reiner Unsinn war.
Francesca hielt nichts von Halbheiten oder Schummellösungen. Bereits im ersten Studienjahr in Rom ging sie aufs Ganze. Seminare zur Theoretischen Philosophie mußten alle Studenten besuchen, sie aber schrieb eine Hausarbeit über Hegels Wissenschaft der Logik – sicherlich das ungenießbarste seiner Werke – und darin über das Kapitel des Grundes. Sie verkörperte das genaue Gegenteil einer gewissen populären Pädagogik, die glaubt, junge Menschen langsam an die Dinge heranführen zu müssen, um sie bloß nicht zu überfordern. Francesca, die dafür nur Spott übrig hatte, bevorzugte das Gegenmodell: ins kalte Wasser springen, sich dem Größten aussetzen, sich von den letzten Maßstäben herausfordern lassen.
Gewiß, ihre Intelligenz half dabei – oder umgekehrt, diese bedurfte der entsprechenden geistigen Nahrung. Francesca besaß ein phänomenales Gedächtnis, vor allem für Sprache und Geschichte. Sie konzentrierte sich beim Lesen so sehr, daß selbst ich, ihr Lebensgefährte, staunte: Betrat ich das Zimmer, in dem sie las, bemerkte sie das nicht und erschrak aufs Heftigste, wenn sie meiner, vor ihr stehend, gewahr wurde. Sie hatte eine extrem schnelle Auffassungsgabe. Man mußte nicht lange erklären. Wenn Francesca einmal etwas nicht verstand, dann weil sie es nicht wollte, weil sie ihren Kopf freizuhalten suchte. Deswegen hatten wir auch kaum längere Diskussionen, der Dissens, wenn er denn bestand, war in wenigen Schritten erkannt und benannt. Und sie besaß ein sicheres, zumindest für ihr eigenes Denken sicheres Urteilsvermögen, das ich nicht anders denn als Ausdruck einer äußerst starken Intuition erklären kann.
Francesca, das würde man von außen blickend sagen, war eine Workaholikerin. Eine Frau, die immer arbeiten mußte und dabei von einem Perfektionismus angetrieben wurde, der zuweilen dazu führte, daß dieser sie beherrschte. Dazu kam Francescas Ungeduld. Alles mußte rasch und möglichst sofort geschehen. Häufig mußte ich sie ermahnen, niemand könne erwarten, daß sie, die Frühaufsteherin, die nach acht Uhr abends zu größeren geistigen Anstrengungen kaum in der Lage war, am Samstag- oder Sonntagabend nach einem Besuch des Theaters oder eines Konzertes noch E-Mails beantworte. Aber so war sie nun einmal. Hatte sie erst einmal einen Blick in ihre Mailbox geworfen, konnte sie gar nicht anders, als die Briefe zu bearbeiten, sie hätte keinen Schlaf gefunden, obwohl sie todmüde war.
Workaholismus ist auch der Name für ein Krankheitsbild, eine Symptomatik, die bis zum Tode führen kann, weil Menschen zu Dauerhyperaktiven werden, zu kleinen Hamstern, die sich im Laufrad drehen, bis sie umfallen. In diesem Sinne war Francesca definitiv keine Workaholikerin. Sie konnte sehr wohl einen zweckfreien Fernsehabend verbringen, mit Freunden in Cafés und Restaurants Stunden geselligen Zusammenseins genießen oder zehn Tage am Strand des Lago Maggiore (und noch mehr im Whirlpool) faulenzen. Offen gesagt, eine Workaholikerin an meiner Seite hätte ich nicht ertragen. Nein, was Francesca tat, machte ihr Spaß. Sie sagte mit großem Ernst und aller sachlichen Richtigkeit, daß wir, die Professoren, das unbeschreibliche Glück hätten, für unsere »sinnlosen Hobbys« auch noch gut bezahlt zu werden. Francesca war somit durchaus der Ferien fähig. Allerdings mußte das Gehirn stetig gefüttert werden, wenn nicht mit Arbeit, dann mit Romanen oder Sightseeing, Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen. Dolce far niente, »das süße Nichtstun«, war ihr fremd. Schließlich, und das macht Francesca in der Rückschau sehr menschlich, wurde sie auch von Depressionen, von Melancholie, ja Defätismus befallen. Dann litt sie, und sie litt auch darunter, nichts zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Dann fehlte ihr die Arbeit.
Trotz ihrer beeindruckenden Karriere war Francesca das genaue Gegenteil einer Karrieristin, zumindest, wenn man darunter eine Person versteht, die jede Minute durchplant und jeden menschlichen Kontakt unter einem strategischen Gesichtspunkt betrachtet. Francesca war viel zu individualistisch, als daß sie sich einem, auch unter Frauen, immer verbreiteteren Typus von Managerverhalten angepaßt hätte. Es wäre ihr wie ein Verrat am Leben vorgekommen. Sie war hier wie eine Schriftstellerin, die ihre Einsamkeit braucht, um zu Sinnen und zur Besinnung zu kommen. Francesca hatte stets Zeit für zwanglose Treffen mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, Gemeindemitgliedern. »Laß uns einen Cappuccino trinken«, war fast so etwas wie ihr Lebensmotto.
Gewiß, sie reagierte gereizt, wenn man ihr Zeit stahl, sie haßte sinnlos vergeudete – ihr Gehirn hatte dann nichts zu tun oder, schlimmer noch, wurde von unnötiger Verwaltungsarbeit und Bürokratie fremdbestimmt. Da konnte sie wild und fuchtig werden, regelrecht ungerecht, unerträglich – besser, man ging ihr aus dem Wege. Doch sie arbeitete schnell, faßte rasch Entschlüsse und ging konsequent vor. Sie zauderte nicht und hatte eine präzise Auffassungsgabe. Das sparte ihr Zeit, und diese hatte sie dann auch. Für die Weihnachtsferien 2010/11 kündigte sie ein großes Arbeitspensum an, das keinen Aufschub duldete. In der Tat machte sie sich gleich ans Werk, vollführte das aber so schnell, daß sie dann mehrere Tage einfach nur frei hatte.
Bevor ihr Ehemann allzu sehr ins Schwärmen kommt, sei eine vergleichsweise neutrale Stimme wiedergegeben, die Francesca nur einmal, für wenige Tage am Stück, erlebte. Tamara Albertini, Professorin für Philosophie an der Universität Honolulu, lud sie nach Hawaii ein, um dort für eine Woche zu weilen und Vorträge zu halten. Im Sommer 2008 flog Francesca von Cincinnati auf die Pazifikinsel. Trotz des gleichen Namens sind die beiden Damen nicht verwandt. Francesca hatte eines Tages im Internet Tamara entdeckt und über E-Mail Kontakt aufgenommen, wie sie das mit Hunderten von Kollegen oder anderweitig interessanten Menschen zu tun pflegte. Francesca war begeistert von dieser Vulkaninsel, die sie mit einem Leihwagen durchquerte. In einem Kondolenzbrief erzählt Tamara: »Francesca hat einen kolossalen Eindruck auf meine Kollegen und unsere Studenten gemacht. Sie war sehr professionell, zeigte aber anders als deutsche Akademiker keine Arroganz. Ihre römische Seele schien immer durch. Sie konnte sehr technisch sein und zugleich große Flexibilität zeigen. Sie besaß intellektuelle Demut und wußte sich doch zu verteidigen, wenn sie unfair angegriffen wurde. Ich konnte das hautnah erfahren, nachdem sie ein orthodoxer Jude nach einem Vortrag des Verrats am Judentum beschuldigt hatte. Francesca antwortete souverän, daß man das Judentum nicht auf Kriterien der Bronzezeit reduzieren könne.«
NATURELL
Die meisten, die Francesca im öffentlichen Raum erlebten, würden sie als eine Sanguinikerin, eine Optimistin beschreiben. Und sie war es. Sie war eine Italienerin, eine Römerin, eine Frau des Mittelmeerraums, auch dann noch, wenn sie so deutlich deutsch war. Sie konnte lachen, strahlen, mit den Augen funkeln, sie konnte auf die Menschen zugehen, war präsent, direkt, sie konnte schauspielern, theatralisch sein. Ihr Auftreten hatte etwas von Inszenierung, nur daß es authentisch war. Es war ihre Lebendigkeit, ihr Feuer. »Love and compassion appeared to me as the most natural connection to the world«, erklärte sie einmal.
Die Menschen beschrieben Francesca als warmherzig, gesellig, begeisterungsfähig, sympathisch, fröhlich, konzentriert, heiter, engagiert, klug, voller Zukunft, lebendig, quirlig und belegten sie mit Attributen wie Herzensgüte, Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit, unbedingter Leidenschaft, Freude; es hieß, sie sei eine »eindrucks- und ausdrucksvolle Person ganz besonderer Art« gewesen; eine religiöse Stimme sprach von »einer von Gottes Wort durchdrungenen und bewegten Frau«. Ein hervorragender Menschenkenner unter den Komponisten beschrieb Francesca, die er nur ein paar Mal kurz erlebte, mit einer »Art Schweben«, als »einen Menschen voller Helligkeit und dabei von freundlichem Dunkel, etwas Ernstes und Heiteres zugleich war um sie …« Das trifft es.
Die positiven Attribute dominieren. Aber sie decken nur eine Seite ab. Francesca konnte immer auch wieder zusammenbrechen, weinen, sich unter der Bettdecke verkriechen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das konnte sich rasch abwechseln. Ich habe Jahre erlebt, in denen sie auch deprimiert, ja depressiv war und Tabletten nehmen mußte. Dann strengte sie sich an, daß die Außenwelt davon nichts bemerkte, verlangte doch ihre Ethik den Respekt vor dem Anderen. In diesen Augenblicken war der Schatten ihrer Existenz ganz auf den Partner und die Familie gerichtet. Sie hat immer wieder betont, daß sie im Verhältnis zu mir die Pessimistin sei, und zwar sowohl was die private, ihre ganz persönliche Zukunft anbelangt, als auch die zukünftige Weltentwicklung. Andererseits ging sie wie selbstverständlich davon aus, daß die Menschheit eines Tages andere Planeten bewohnen wird, was ein hohes Maß an Zukunftsoptimismus unterstellt. Francesca, eine Frau voller Sehnsüchte, war extrem widersprüchlich. Das muß man immer im Auge behalten.
Sergio war einer ihrer Lehrer am Gymnasium, ein sehr linker Römer mit großem Vermögen. Er entdeckte Francescas Hochbegabung, war von ihrer sozialkritischen Wachheit fasziniert und wurde ihr väterlicher Freund. (Genaugenommen war er der Lehrer für Maschinenschreiben, ein Fach, das er jedoch nicht beherrschte, was die Schulbehörde freilich ignorierte. So bat er Francesca, die diese Fähigkeit in kurzer Zeit erwarb, informell den Unterricht zu übernehmen, und bezahlte sie dafür aus eigener Tasche, womit diese wiederum, ganz typisch, Bücher kaufte.) Sergio sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben keine Frau kennengelernt, die wie Francesca zugleich so stark und so zerbrechlich sei. Das muß man wörtlich nehmen. Francesca war stark in ihren Ansichten und Handlungen. Aber sie konnte auch zusammenbrechen, und dies ziemlich unerwartet. Dann half nur, wie sie sagte, daß ich sie in den Arm nehme und einfach nur drücke. Francesca konnte eine beispiellose Empathie entwickeln. Als in der letzten Zeit wieder einmal in Israel eine Bombe hochging, schrieb sie sofort allen Freunden und Bekannten vor Ort und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Zugleich war Francesca nicht frei von Wutausbrüchen, auf die schwere Anschuldigungen folgen konnten, und Projektionen, die ihr Umfeld in ungebührlicher Weise belasteten.
Wie erklärt sich dieses Doppelwesen? Sicherlich lag eine bestimmte charakterliche Grundprägung vor. Diese aber wird in der Entwicklung abgeschliffen oder verschärft. Wenn man mit der zartesten Poesie, den erhebendsten Romanen, der hehrsten Philosophie lesend und im Umfeld der weltweit beeindruckendsten Kunstschätze aufwächst, zugleich jedoch mit der politischen und gesellschaftlichen Realität eines durch und durch korrupten Landes, das Italien nun einmal ist, konfrontiert wird, stumpft man ab und läßt es mit der Literatur und den großen Gedanken oder, wie Francesca es tat, entwickelt diese eigentümliche, fast schizophrene Doppelexistenz, die viele an ihr bewunderten. Eine Doppelexistenz führen auch die Juden. Sie sind Teil der Gesellschaft und doch wieder nicht. Sie sind auserwählt, exklusiv, mit hohem universalistischem Impetus und zugleich eine Minderheit, die Haß auf sich zieht. Eine Doppelexistenz führte sie auch als Italienerin, die Deutsche wurde, und als Frau in einer immer noch von Männern dominierten Wissenschaftswelt. Eine Doppelexistenz führte sie als Kind, als sie nicht wie die anderen draußen spielte, sondern sich hinter ihren Büchern fast versteckte. Und natürlich führte sie eine Doppelexistenz als chronisch Kranke unter »Gesunden«. Doppelexistenzen befördern Komplexität, die sich bei Francesca als Vielseitigkeit und extreme Schnelligkeit artikulierte. Und es führt zum »humani nihil a me alienum puto« (»nichts Menschliches ist mir fremd«), wenn man das ganze Auf und Ab des Lebens durchmißt.
Man denke aber nicht, daß Francesca mit der Welt eins gewesen wäre. Sie litt auch unter Einsamkeitsgefühlen, unter Verlassenheit, was selbst ich nicht immer ausgleichen konnte. Hinzu kam die Todesangst wegen des Diabetes. Manchmal schien sie wie verloren. Ich erinnere mich, wie sie einmal am Bahnsteig auf dem Berliner Hauptbahnhof auf mich wartete. Eine große Menschenmenge, nichts Ungewöhnliches. Und doch stand sie dort, als ob sie nicht dazugehörte, und erwachte zum Leben erst in dem Augenblick, als sie mich erblickte. Wieder eine Doppelexistenz. Als ob sie aus einer zweiten, nur ihr zugehörigen Welt gekommen wäre.
Diese zweite Welt, verstärkt durch die diversen Doppelexistenzen, ist typisch für Sonderbegabungen, die – etwas kitschig formuliert – eine intensivere Welt in sich tragen, als es die äußere ist. Francesca blieb auch ein Kind bis zum Schluß, typisch für Wunderkinder und Hochbegabte, die keine Zeit, sprich keinen Willen und keine Energie aufbringen, »normal« zu werden. Sie verweigern sich der Anpassung an die ordinäre Welt, an das Realitätsprinzip. Letztlich ist das auch sehr vernünftig, wenn es darum geht, Kreativität zu bewahren und zu steigern. Für eine juvenile Diabetikerin kann es freilich fatal sein.