- -
- 100%
- +
Sie wußte sich zu schützen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte sie keine Spielfilme zum Thema Judenverfolgung mehr sehen. Ich glaube, der Pianist von Polański war der letzte. Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday, diesen Film verweigerte sie; aber auch Pane e tulipani (»Brot und Tulpen«), trotz der Paraderolle von Bruno Ganz. Dieser Film erinnerte sie wohl zu sehr an ihr eigenes Land. Den Untergang über Hitlers letzte Tage hingegen sah sie mit großem Interesse.
Francesca war eine hochemotionale Frau, deren Gefühlshaushalt zwar ihre Lebenslust und den Arbeitseifer antreiben, aber auch ihre Entscheidungen und Überlegungen bestimmen konnte. War sie erst einmal in Rage, konnte sie zu schnell reagieren und machte Fehler, die sie bei besonnenerer Haltung vermieden hätte. Francesca fehlte das Abgebrühte und Ausgebuffte. Sie war ein klarer Kopf, kein kühler. Sie hatte nicht das lebenserleichternde Privileg, intellektuell oder emotional zu sein. So konnte sie, wenn sie sich, weniger im Berufs- als im privaten Leben, angegriffen fühlte, aggressiv und launig werden. Es kam auch zu unschönen Szenen. Francesca war alles andere als ein Mensch ohne Schwächen. Sie kam aus der Spur, wenn es nicht so klappte, wie sie es vorbereitet hatte.
Francesca war von schnellem Urteil und von großem Selbstbewußtsein in ihren Ansichten. Was »man« denkt, war für sie niemals eine Größe. Sie lebte ihre »determinazione«, ihre Bestimmtheit. Sie war nicht arrogant in der konkreten Begegnung mit einem Menschen, konnte aber vernichtende Urteile fällen und abfällige Meinungen bilden. Im Sommer 1999 war sie auf einer berühmt gewordenen Tagung auf Schloß Elmau, zu der Bernhard Casper sie mitnahm. Sie kam zurück und erzählte lebhaft. Als ich in der Zeitung las, daß auch Peter Sloterdijk aufgetreten war, und sie danach fragte, warum sie denn diese Berühmtheit nicht erwähnt hatte, wurde sie energisch: »Was, dieser Schwätzer, dieser aufgeblasene Pseudophilosoph soll berühmt und anerkannt sein? Das kann ich nicht glauben!« Sie hat späterhin ihre Ansicht nicht geändert. Hatte sie einmal jemanden »gefressen«, so die Ministerin Ursula von der Leyen, war jedwede Diskussion vergebens.
Verlief das Leben hingegen, wie sie es sich eingerichtet hatte, dann war sie relativ ruhig und berechenbar. Dabei konnte sie sehr wohl Melancholie befallen, und das nicht erst, seit die Krankheit ihr Leben zur Gänze umwarf. Francesca litt mit, wenn im Privaten oder Politischen Unglücke passierten. »Ich fühle mich schwach und zerbrechlich«, schrieb sie an Freunde nicht nur einmal. Allein, diese Schwächen sind – fast trivial zu sagen – menschlich, die Melancholie gehört zu allen tiefsinnigen Menschen, und ohne das Leiden ist Kreativität kaum vorstellbar.
»Kollektive haben in meiner Lebensphilosophie keine Bedeutung: Ich betrachte jeden Menschen als ein singuläres, einmaliges Phänomen, das zwar seinen besonderen kulturellen, sozialen und anthropologischen Hintergrund hat, aber mit der Auseinandersetzung mit diesem Hintergrund zu einem einmaligen, besonderen, individuellen Geschöpf wird.« Damit erklärte Francesca ihr Menschenbild. Mir ist das sehr früh aufgefallen: Sie hatte keine Probleme mit »normalen« Menschen, zeigte mithin genau dasjenige Verhalten nicht, das bei Intellektuellen häufig zu beobachten ist, deren Unfähigkeit zu umgangssprachlicher Kommunikation in der Normalsprache. Es gibt Bilder, da sitzt sie inmitten ihrer Tauchergruppe in einer Blockhütte und strahlt. Ich möchte nicht wissen, mit wie vielen Menschen sie per Du war. Es ging schnell. Ihre Freiburger Zimmervermieterin sagte nach der Beerdigung, sie sei die einzige Studentin gewesen, mit der sie sich geduzt hatte. Statussymbole waren Francesca absolut gleichgültig. Sie kommunizierte auf Augenhöhe, war stets extrem höflich und fragte lieber einmal zuviel als zuwenig. Sie war ein Exemplar der sprichwörtlichen jüdischen Herzlichkeit, Weltoffenheit und Gastlichkeit.
Das zeigte sich am deutlichsten in Berlin und Potsdam, an ihrer Arbeit, an ihrer Wirkungsstätte zusammen mit den Kollegen und Studenten. Dort verschränkte sie das Persönliche mit dem Universitären. Es sei ein längeres Zitat wiedergegeben, Ausschnitte aus einer studentischen Rede. Sarah Pohl, die eine Freundschaft mit ihrer Professorin Francesca verband, sprach auf der akademischen Trauerfeier der Universität. Sie beschreibt die Lehrerin, die stets nicht nur eine Lehrerin war. Gewiß, auf einer Abschiedsfeier wird nur Gutes gesagt, aber was hier steht, ist authentisch und könnte von mir nicht besser formuliert werden.
»Ich werde die Gespräche mit ihr vermissen, die italienischen Sprichwörter und Redewendungen. Ich werde mich an ihre Kindheitsanekdoten erinnern, die sie in ihre Vorlesungen und Seminare einwob, an ihre manchmal weltfremden und um so intellektuelleren Witze und Vergleiche. Ihre Energie, die übermenschlich wirkte, die auch bei einer spontan einberufenen Zweimann-Vorlesung an einem Samstagmorgen acht Uhr jede Müdigkeit vertrieb und immer den Wissenshunger auf mehr versprach. Ganz besonders jedoch werde ich das persönliche und oft private Gespräch mit ihr vermissen, ihre aufmunternden und, Zitat, ›aufpumpenden‹ Worte. Ihren Optimismus, dessen Herkunft mir unersättlich und unergründlich zugleich schien. Ihren enorm starken Willen, um den ich sie nicht nur einmal beneidete, Francescas unglaubliche Lebensfreude.
Ich kann und möchte euch, liebe Studenten und Kommilitonen, dazu aufrufen, dies in euren Herzen zu bewahren, diesen enormen Willen nach Fortschritt und Erkenntnis. Bewahrt euch diesen Willen und das Streben nach Weisheit und gleichzeitiger Menschlichkeit. Das, was von Francesca Albertini in uns allen weiterlebt, ist ihre Lehre. Sie war ein Mensch der unvergleichlichen Sorte, eine Frau und Dozentin, die ihre Arbeit lebte, wirklich lebte. Sie lebte ihre Ethik, ihren Anspruch an Moral und Wahrheit. Für sie gab es schlicht keine Grenzen, sie nahm ihre Arbeit, wenn man überhaupt davon sprechen kann, stets mit nach Hause. So war es Tatsache und Beruhigung zugleich, daß sie stets erreichbar war, stets und wirklich immer (!) auf E-Mails, SMS oder Telefonanrufe antwortete und reagierte. Hin und wieder verteilte sie sogar ihre private Telefonnummer, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Auch im Ausland war sie stets zu erreichen und sorgte sich um den individuellen, bestmöglichen Erfolg eines jeden einzelnen Studenten.
Es geschah oft, daß ihre Sprechstunden neben der offiziellen zum Beispiel in einen Freiblock gebettet wurden, vor oder hinter einen Kurs geschoben wurden oder gänzlich außerhalb der universitären Maßstäbe stattfanden. Ich erinnere mich an sehr lange und erschöpfende, doch zufriedenstellende Sprechstunden und Termine, die nicht selten in einem mehrstündigen Gespräch endeten. Sie wurde nicht müde, Literaturlisten zu versenden, Hinweise auf Zeitungsartikel und Gedanken zum zuvor Besprochenen.
Sie wurde nicht müde, ihr Engagement für ihre Lehre und ihre Studenten auch in Zeiten schwerer Krankheit oder auch nur unvorhergesehener Situationen und Pannen aufrechtzuerhalten. Mit einem Lächeln und allergrößter Hochachtung erinnere ich mich an den Beginn des letzten Sommersemesters im April 2010, als dieser unaussprechliche Vulkan auf Island ausbrach. Francesca war zu dieser Zeit in London gestrandet, machte aber das Beste aus der Situation und versuchte unerbittlich, nach Berlin bzw. Potsdam zurückzukehren. Statt das erste Seminar wegen ›höherer Gewalt‹ und unvorherzusehender Umstände ausfallen zu lassen, konnte sie eine Fahrkarte für die Fähre Dover-Calais ergattern und fuhr ungefähr 24 Stunden nonstop nach Berlin zurück. Ihr erster Halt war dabei nicht etwa ihr Bett oder ihre Wohnung, wie wir Studenten es erwartet hätten, sondern der Seminarraum, in dem sie uns müde, aber zufrieden und voller Optimismus und Freude auf den Unterricht begrüßte. Diese Situation ist eine von vielen. Sie zeigt das unglaubliche Pflichtgefühl Francesca Albertinis, das ein Teil von ihr war, das sie lebte und gleichzeitig auch so menschlich und vorbildhaft erschienen ließ.
Sie war ein so nahbarer Mensch, grenzenlos freundlich, offen, bestimmt. Trotz ihres stets so engen Terminkalenders hatte sie stets Zeit für einen Kaffee oder einen Gang um das Unigebäude, stets ein Ohr und erhellende Ratschläge, die jedwede Sorge in die Ferne rückten. Im Sommer verlagerte sie die Seminarsitzungen ob der unerträglichen Raumhitze zumeist hinaus auf die Campuswiese, ›frei nach Aristoteles‹, wie sie gern scherzte. Intensiv konnte sie uns ihre Lehre vermitteln. Dabei ging sie stets frei jeden Skriptes in ihre Seminare, und ließ uns teilhaben an ihrem lexikonumfassenden Wissensschatz. Francescas Ansichten waren dabei allzu oft sehr überraschend und neuartig, sehr nachvollziehbar und perspektivisch einfach einzigartig.
Ihre Ansichten haben Augen geöffnet, zum Nachdenken und Nachfragen angeregt und immer wieder Hunger auf mehr gemacht. Sie versuchte stets, sich in die Reihe der Studenten zu stellen und auf Augenhöhe mit ihnen zu kommunizieren, indem sie zum Beispiel beinahe nach jeder Vorlesung anbot, mit Seraphina, ihrem roten Auto, nach Berlin zurückzufahren.«
Francesca, die keine Kinder wollte, sah in ihren Schülern die Kinder, die sie nicht hatte. Sie sorgte und umsorgte. Das war schon früher so. Aus Frankfurt erreichte mich ein Kondolenzbrief einer ehemaligen Studentin, die Francescas Unterricht nur im Superlativ beschrieb. Ich selber war ja ihr Schüler, anfangs, auf der Villa Massimo, ich spürte etwas von der erzieherischen Kraft eines Menschen, der sich mit dem ihm Anvertrauten gänzlich identifiziert, damit das, was gelehrt wird, auch in die Gesamtpersönlichkeit einwandert.
Für sie waren Theorie und Praxis, also Forschung und Lehre, eine Einheit. Warum? Einfach weil es für die jüdische Ethik der Mitzwot, der guten Taten, keinen Bruch gibt zwischen den Sachen und ihrer unmittelbaren Bedeutung für das Leben der Menschen. Ich hatte sie mehr als einmal auf die Möglichkeit angesprochen, angesichts der meschugge gewordenen Verwaltungsarbeit an der Universität, das pädagogische Engagement zurückzunehmen, um die Forschung zu schützen. Sie widersprach sofort. Das wäre unverantwortlich gegenüber denen, um die es geht, den Studenten, sagte sie. Ihr Büro in Potsdam, obwohl 25 Kilometer entfernt, war wie ein Außenposten ihrer Wohnung. »Ich halte mich für einen sehr glücklichen Menschen, weil Leidenschaft und Arbeit bei mir zusammenfallen«, erklärte sie einmal in einem Interview.
Hatte Francesca Hobbys? Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Sicherlich hatte sie keine im Sinne regelmäßiger Freizeitbeschäftigungen, für die bestimmte Zeiten der Woche vorbehalten waren. Auch war sie keine Sammlerin, sieht man von den vielen Büchern ab. Sie war eine Frühaufsteherin, die durcharbeitete, um gegen Abend rasch zu ermüden und dann erschöpft ins Bett zu fallen. Sie hatte jedoch Hobbys im Sinne der Leidenschaft von sehr persönlichem Zuschnitt. Tauchen zum Beispiel. Francesca war unsportlich. Sie fuhr zwar Fahrrad und schwamm gerne, aber körperliche Anstrengung, und sei es um der Fitneß willen, war ihr unangenehm. Erst in den Wochen vor ihrem Tode wurde sie, unter einem medizinischen Standpunkt, »vernünftig« und kaufte sich Trainingskleidung fürs Joggen.
Im Wasser war sie überglücklich. »In einem früheren Leben war ich ein Fisch«, sagte sie. Auf einer Karte nannte sie sich eine »Delphinin«. Im Frühjahr 2005 entdeckte sie, trotz des Diabetes, das Tauchen und schloß sich einem Verein in Freiburg an. Ende April tauchte sie zum ersten Mal, für 35 Minuten in neun Meter Tiefe. Bis zum Sommer 2007 sollte sie noch 66 Mal unter Wasser gehen. Sie machte regelmäßige Ausflüge ins Freiburger Umland, aber auch ins Salzkammergut, ins Tessin und nach Mallorca mit zwölf Tauchgängen im offenen Meer. In einem Tauchvideo aus diesem Urlaub sieht man Francesca vorbeischwimmen und in die Kamera winken. Wie immer strahlte sie. Unter Wasser fand sie buchstäblich Ruhe. Auch hier war sie ehrgeizig. Sie bestand die Prüfungen, erwarb die Brevets in Bronze und Silber, das Goldbrevet strebte sie an. Dafür mußte sie viel lernen, auch Technik und Theorie, mithin etwas, was ihr sonst überhaupt nicht lag. Aber sie biß sich durch und war danach sehr stolz, wenigstens auf einem technischen Gebiet es geschafft zu haben. In ihrem Tauchbuch hielt sie immer fest, was sie alles sah, Oktopusse, Fische, auch solche, die sich gegenseitig fressen, Felsformationen, die Szenerie bei Nacht oder Nebel. Tauchreisen auf die Malediven und Seychellen waren angedacht.
Ein anderes Hobby, dem sie vor allem in der Freiburger Zeit frönte, waren Krankenhausserien im Fernsehen, aber nicht etwa die spießigen deutschen à la Schwarzwaldklinik mit ihrem gutmenschelnden Touch, sondern die actionreiche amerikanische Serie Emergency Room, wo auf der Notaufnahme ein Notfall in größter Hektik den nächsten jagt. Genau diese Katastrophenstimmung brauchte sie. Abende, an denen sie gezeigt wurden, waren tabu für alles andere. Francesca saugte die Episoden auf wie Kinder, die spannende Bücher verschlingen. Sie liebte daran die Mischung aus Gefahr und Rettung. Sie, die Tochter eines Intensivmedizinpflegers, interessierte sich für Medizin in all ihren Facetten. Die Ironie ist, daß, als ihre chronische Krankheit ausbrach, auch bei ihr der Notarzt nicht nur einmal gerufen werden mußte.
Eine andere »Heilige Kuh« war Star Trek. Francesca war ein Trekki par excellence. Sie kannte alle Folgen und wußte alles. Sie las die entsprechenden Bücher, so von Leonard Nimoy, dem Darsteller des legendären Mr. Spock, sowohl das Buch I am Spock als auch das Buch I am not Spock. Als in Berlin der neue Star Trek-Kinofilm Premiere hatte, kaufte sich Francesca Monate vorher eine Karte. Nachdem ich es einmal versäumt hatte, den Videorekorder zu programmieren, gab es einen Ehekrach. Im Herbst 2010 hielt sie auf dem Gründungskongreß der Deutschen Fantastikforschung einen Vortrag über die Religiosität in Star Trek. Sie überlegte sich ernsthaft, von Cincinnati nach Los Angeles zu fliegen, nur um endlich die Paramount Studios besuchen zu können, wo die Serien gedreht wurden.
Francesca liebte die Tiere, ging gerne in den Zoo, wollte sich lange Zeit einen Hund zulegen und erwarb schlußendlich eine Katze. Beim Tauchen faszinierte sie die Unterwassertierwelt. Mit jener Sarah Pohl wurde ein Forschungsvorhaben zur jüdischen Tierethik vereinbart. Tierbabys in natura oder im Fernsehen, vor allem von Großtieren wie Elefanten, entzückten sie; Francesca kam ins Schwärmen und Schmachten, wie Großeltern beim Anblick ihrer neugeborenen Enkel. Im Zoo in Guilin, wo die Affen sich frei bewegten und durchaus das Gelände verließen, in der Vogelabteilung auf Madeira hatte sie ihre helle Freude.
In ihre Katze Samira, eine Britische Kurzhaarkatze, verliebte sie sich auf den ersten Blick. Sie erwarb im Frühjahr 2010 die drei Monate alte Zuchtkatze und kaufte daraufhin alles nur Erdenkliche, was eine Katze eventuell brauchen könnte, manches doppelt, manches Sinnlose. Sie schloß eine Krankenversicherung ab, meldete sich bei der GPS-Ortung verlorener Katzen an und war Samira gegenüber mindestens so hypochondrisch wie zu sich selbst. Der Kinderwunsch, der ab und an latent in der Psychoanalyse eine Rolle spielte, war mit diesem Haustier endgültig erledigt. Francesca hatte ein Baby, etwas zum Schmusen und Umhätscheln. Wenn das Ersatzbaby sich nachts zu ihr aufs Bett legte und schnurrte, war für Francesca die Welt heil, wie in der Kindheit. Auf dem Potsdamer Schreibtisch stand eine Postkarte mit einer lebhaft spielenden Katze und einem Satz von Rilke: »Das Leben und dazu eine Katze, das ergibt eine unglaubliche Summe!«
PARTNERIN
Francescas Geschichte läßt sich nicht zweigeteilt erzählen. Hier die Person, das Leben, das Schicksal ihres kurzen Lebens. Dort ihr Werk, ihre Philosophie, ihre Überzeugungen. Es muß ein Buch geschrieben werden, das der Einheit dieser beiden Seiten nachgeht. Francesca war eine authentische Jüdin genau darin, daß ihr Leben und ihr Werk ineinandergreifen, ihre Abstammung aus Rom und dem Judentum, ihre Emigration nach Deutschland, ihre Krankheit und ihr früher Tod auf der einen Seite, ihre Forschung, ihre Politik, ihr Verhalten den Menschen gegenüber, ihre Ethik auf der anderen. Ihr Politikbegriff verlangte diese Einheit ihres Lebens, ihres Menschlichseins und ihrer Arbeit. So hatte ihr kurzes Leben den Charakter eines Projekts, Aussöhnung auf verschiedenen Ebenen zu leben, es zumindest zu versuchen. Zu diesem Projekt gehörte unverbrüchlich ihre Ehe mit mir. Daß sie einen Deutschen mit sehr ähnlichen kulturellen Absichten wählte, ist kein Zufall und entfaltet sein Gewicht. Ich kann daher nicht anders, als ihre Geschichte immer auch aus dem Blickwinkel meines eigenen Lebens zu erzählen. Wir hatten ein gemeinsames Projekt.
Der künftige Mann meiner größeren Schwester bekam Ende der 1960er Jahre einen Studienplatz für Medizin in Freiburg. Nachdem beide dorthin zogen, war ich regelmäßig in den Ferien Gast in dieser Stadt. Ich partizipierte als Teenager an den akademischen Kreisen, vor allem des Instituts für Medizingeschichte, an dem mein Schwager Assistent wurde. Ich gewöhnte mich an die »ökologische« Stadt des Südens, die mir zur zweiten Heimat war, nachdem ich im häßlichen und proletarischen Mannheim niemals recht heimisch geworden war. Anfang der 80er Jahre entdeckte ich, daß Freiburg, die Musikhochschule, genauer das dortige Institut für neue Musik, das Mekka des fortschrittlichen Komponierens war, sozusagen eine Freiburger Schule in sich barg wie einst die österreichische Hauptstadt die Zweite Wiener. Dort lernte ich im Sommer 1984 Brian Ferneyhough kennen, einen Jahrhundertkomponisten, einen der luzidesten Lehrer seiner Zeit. Freiburg bot mir mithin das optimale Klima, Musik zu studieren, zu komponieren und die berufliche Laufbahn aufzubauen.
Francesca wiederum begegnete auf der Suche nach einer Promotionsmöglichkeit, die das korrupte und mafiöse italienische System ihr vorenthielt, im Herbst 1998 auf Vermittlung des römischen Universitätsprofessors Marco Maria Olivetti dem deutschen Religionsphilosophen Bernhard Casper, der nicht zögerte, Francesca die Promotion zu vermitteln: Der Privatdozent Hans-Helmuth Gander wurde Erstgutachter an der Philosophischen Fakultät, der Casper als Theologe nicht angehörte. Dieser wurde zum väterlichen Mentor und zum Zweitgutachter. Und wieder war es Freiburg: Casper war Ordinarius für Religionsphilosophie an der dortigen Universität. Was wäre gewesen, wenn er in Flensburg, Eichstätt, Trier oder Stralsund gelehrt hätte? Wohin hätten wir, von Rom kommend, gehen sollen? Eine Fernbeziehung? Ein Neustart an einem für Francesca zwar günstigen, für mich freilich gänzlich unpassenden Ort? Zum Glück stellte sich diese Frage nicht. Unser gemeinsamer Beginn war perfekt. Francesca wuchs in eine Familie hinein, die ihr die härtesten Anpassungen ans tägliche Leben abnahm, in die meine. Das ist für jemanden, der aus dem Ausland einwandert, von nicht zu unterschätzendem Wert.
Am Tage nach unserer Hochzeit fanden wir eine Wohnung an dem kleinen Flüßchen Dreisam, gelegen zwischen Berg und dem Wasser, quasi in der Natur, in jener Kartäuserstraße, in der auch der Südwestrundfunk mit einem der weltbesten elektronischen Studios, dem legendären Experimentalstudio, das mit Nono berühmt wurde, seinen Sitz hatte, an dem ich für Jahre arbeiten sollte. Die Wohnung gehörte einem alten Zahnarzt aus Breisach, der sie für seinen Freund, den Philosophen Max Müller, gekauft hatte, der dort starb, wo Francesca dann ihre philosophische Doktorarbeit schrieb.
Freiburg war also perfekt. Von dieser Stadt aus konnte sie ihre temporären Lehrverpflichtungen in Frankfurt, Heidelberg und Fribourg in der Schweiz problemlos erpendeln. Wenn ich im folgenden über die perfekte Partnerschaft nachdenke, dann sollte immer diese wundersame und zugleich ganz wunderbare Rolle, die diese Stadt spielte, im Gedächtnis behalten sein. Ich ging von Freiburg nach Rom, Francesca ging von Rom nach Freiburg. Bis 2007 war diese Strecke unsere Achse, später erweitert um die Achsen Freiburg/Berlin und Leipzig/Berlin.
Gibt es eine perfekte Partnerschaft? Bei uns waren die elementaren Voraussetzungen der Lebensführung die gleichen. Das hieß, daß wir beide keine Kinder wollten. Von Anfang an nicht. Francesca hatte das bereits in der Teenagerzeit für sich entschieden. Ich empfand ebenfalls niemals diesen Wunsch. Wir widmeten unser Leben der Arbeit. Der Selbstverwirklichung als Forscherin und Dozentin, als Komponist und Intellektueller galt unsere Priorität. Das war auch der Grund, warum wir uns nicht gegenseitig als Besitz betrachteten, auch wenn die tiefe Liebe, die uns verband, derlei erheischen könnte. Wir waren uns einig darin, dem anderen, um dessen beruflicher oder kreativer Laufbahn willen, die Freiräume zu gewähren, die er benötigte. Das betraf vor allem die Wahl des Ortes, an dem man lebt. Da Francesca so schnell wie möglich Professorin werden wollte, bewarb sie sich auch außerhalb Deutschlands und wurde alsbald in den USA und nach Großbritannien eingeladen. Aus meiner Sicht kann ich sagen: gottlob erfolglos. Aber ich wäre diese räumliche Distanz, einer zukünftigen Alternative im Blick, ihr zu konzedieren sehr wohl bereit gewesen, so wie ich wie selbstverständlich ihr den langen Israelaufenthalt gönnte, obwohl die terroristische Gefahr während der zweiten Intifada nicht zu unterschätzen war, was Freunde veranlaßte, mir einzuflüstern, ich solle doch ein eheliches Machtwort sprechen. Wir führten eine moderne Ehe. Wir waren beide emanzipiert. Wir ergänzten uns: Francesca war meine Fremdsprachensekretärin, Reiseleiterin, Museumsführerin und nicht selten das lebende Lexikon. Ich war ihr Steuerberater, Handwerker, Computerspezialist und Führer durch die deutsche Sprache.
Gibt es eine perfekte Verbindung? Waren wir nicht grundverschieden? Wie häufig wurde ich auf meinen musikalischen Reisen gefragt, ob denn meine Frau auch Musikerin (oder Komponistin) sei. Stets wies ich das zurück, mit Stolz und mit Freude. Nicht, daß ich etwas gegen Musikerinnen oder Komponistinnen hätte, aber ich war überglücklich, jemanden an meiner Seite zu haben, die eine ganz andere Welt mitbrachte. Äußerlich konnte man meinen, daß wir genau nicht zusammenpaßten. Ich bin nicht religiös, ja geradezu atheistisch und meide kollektive Rituale, zu denen nun einmal auch die religiösen gehören. Francesca wiederum war zwar musikalisch und sang gerne, Musik gehörte aber nicht zu ihren Wissensgebieten (alle Bücher, die ich ihr schenkte, wurden geflissentlich ignoriert); sie konnte mit Musik ohne Worte kaum etwas anfangen. Sie liebte es, mir zuzuhören, wenn ich die Aria der Goldbergvariationen spielte. Aber danach war es auch schon wieder vorbei. Wir besuchten Opern, aber keine Konzerte. Außer denen mit meiner Musik natürlich.
Wie konnte das gutgehen? Ein Mann, dem die Religion fremd ist, eine Frau, für welche die Musik, ähnlich Kant, kaum mehr ist als reizvolle Proportionen, aber kaum einen Geist enthält? Es mag banal klingen: gerade deswegen. Wir ergänzten uns. Es klappte wunderbar, es war niemals wirklich ein Problem. Zumal sie, nicht einfach aus Liebe, sondern mit guten Gründen, meiner Musik Geist zumaß. Es war ja nicht so, daß Francesca nicht die großen Klassiker kannte. Aber sie war Verdianerin, ich Wagnerianer, wenn man das zuspitzen darf. Sie blieb hier Italienerin. Während meiner Zeit als Konsultant der Stuttgarter Oper bei deren Jahrhundert-Ring besuchten wir alle Premieren. Obwohl sie etwa die Siegfried-Inszenierung unter einem theatralischen Blickpunkt hoch lobte, war ihr der schwere, der blechlastige Ton dieser Musik wesensfremd, ohne daß sie sofort die Antisemitismuskeule schwingen mußte.
Francesca war musikalisch und hätte wohl gerne in der Jugend ein Instrument erlernt. Sie hatte eine schöne, sonore Altstimme, die sie aber aus Scham versteckte. Ich hatte sie immer wieder vergebens ermutigt, Gesangsunterricht zu nehmen. Francesca kannte unzählige Lieder auswendig und konnte die Texte rezitieren. Sie liebte, neben jüdischen Gesängen, vor allem die italienischen Cantautori, jene hochgebildeten italienischen politischen Liedermacher wie Fabrizio de André, Francesco de Gregori oder Francesco Guccini. Sie wollte über die »Kritische Theorie der italienischen Cantautori« einen Text für Musik & Ästhetik schreiben. Der italienischen Popmusik à la Ti amo von Eros Ramazzotti schämte sie sich hingegen. Francesca hatte Kontakt zu Künstlern: Für den in Rom lebenden Künstler Andrea Battantier schrieb sie einen Text, dieser widmete dem »child Francesca« ein Video über Konzentrationslager.