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Nach unseren beiden größeren Reisen nach China und Ägypten wollte Francesca so schnell wie möglich nach Krakau reisen, um Auschwitz zu besuchen. Ich stimmte dem sofort zu. Jeder, zumal jeder Deutsche, sollte dorthin fahren. Es gibt nicht nur Vergnügungs- und Bildungsreisen, sondern auch Bußreisen, oder sagen wir weniger pathetisch: Reisen, die einfach zur Allgemeinbildung gehören. Auschwitz-Birkenau ist eben nicht nur ein Symbol der grausamsten und perfidesten Tat der europäischen Geschichte, sondern ein realer Ort, ein empirisches Datum, etwas, das man gesehen haben muß. Wir hatten das Privileg, von dem katholischen Priester Manfred Deselaers, der am »Zentrum für Dialog und Gebet« in Os´wie˛cim arbeitete, persönlich einen Tag lang geführt zu werden. Er hatte über den Kommandanten Rudolf Höß promoviert und war auf Bitten Papst Johannes Pauls II. von seiner Diözese freigestellt worden, um dort Besucher zu begleiten; Bernhard Casper hatte uns das vermittelt. Es gab kein Entrinnen, sowohl im Stammlager wie in Birkenau. Das, was man von den Filmen und Dokumenten kannte, wurde hier Wirklichkeit. Der fürchterlichste Moment war, als unser Führer eine Handvoll Erde in die Hand nahm und kleine graue Splitter herausklaubte, die wie winzige Steinchen aussehen, in Wahrheit aber Knochenreste von den Verbrennungen sind.
Wir reisten im September 2001 nach Krakau und besichtigten diesen Ort des radikal Bösen am neunten des Monats. Die beiden darauffolgenden Tage galten den Sehenswürdigkeiten der Stadt Krakau mitsamt ihrem jüdischen Erbe. Am 11. September bewegten wir uns in ihr, ohne daß uns irgend etwas aufgefallen wäre, selbst im Restaurant beim Abendessen nicht. Abends im Hotel brannte im Fernseher New York. Ich dachte unwillkürlich an einen Dritten Weltkrieg und rief sofort Francesca, die allerdings auf der Toilette war und meinte, so dringend könne es nicht sein. Am nächsten Tag flogen wir nach Frankfurt; überall war Polizei. Die Welt hatte sich verändert, für uns war der 11. September mit diesem Besuch unauflöslich verknüpft. Francesca schrieb bald darauf einen Text zur Ethik im 21. Jahrhundert.
Von einer Indienreise sahen wir ob der veränderten Weltlage ab; außerdem bekam Francesca 2002 eine Einladung in die USA und ihr Israelstipendium. Wir blieben auf Achse. Die Reise in die USA war für uns nicht deshalb wichtig, weil es dort so vieles und Spannendes zu sehen gegeben hätte (das war nicht der Fall), sondern um das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, die Supermacht kennenlernen zu können. Wir kamen mit gemischten Gefühlen zurück. Francesca hatte in Sedona zu tun und besuchte den Slide Rock State Park sowie in San Diego die gigantische Sea World. Ich besuchte eine Kollegin, eine gute israelische Freundin von uns, und hielt einen Vortrag an der Universität von San Diego. Zwei Tage waren wir in Los Angeles. Francesca war extrem frustriert, wegen des 11. Septembers waren die Paramount Studios für Touristen geschlossen. Ihr war es verwehrt, die Studios für Star Trek zu besuchen. Vielleicht war das der Grund, warum wir danach alles so schal fanden: der doch letztlich schäbige Ort, wo der Oscar verliehen wird (mit dem Hollywood Walk of Fame – mehr Schein als Sein), Beverly Hills, wo die Reichen in geschmacklosen Häusern wohnen, das milliardenschwere Getty Museum mit seinen drittklassigen Werken aus der Zeit vor 1900, Hollywood mit seinem gigantischen Kitsch. Das Beste waren noch der Strand und das chinesische Essen. Mit der Familie der Kollegin fuhren wie nach Disneyland. Wenn wir uns schon im Land der Kulturindustrie bewegten, dann richtig. Ja, es hat Spaß gemacht, das Angebot ist tadellos. Aber wir dachten an den Satz von Jean Baudrillard, Amerika habe Disneyland erfunden, um zu kaschieren, daß es Disneyland ist. Wie wahr! Die Bilder, die wir empfingen, waren nicht zuletzt zu große Autos und überfette Leiber.
Als wir uns 2003 für eine Woche St. Petersburg entschieden, hatten wir Glück. Präsident Putin hatte zuvor seine Geburtsstadt herausputzen lassen. Wir konnten uns nicht beklagen. Für den Winterpalast, die berühmte Eremitage hatten wir zwei ganze Tage eingeplant. Wir haben uns wirklich alles angeschaut. Und zugleich etwas gespürt von der Atmosphäre, die wir zuvor in dem einzigartigen, nur mit einer einzigen Kameraeinstellung gedrehten russischen Film Russian Ark von Alexander Sokurow gesehen hatten. Die Massierung von Kunst und Malerei versetzte uns ins Entzücken. Der Reichtum hatte etwas Überwältigendes, auch im Katharinenpalast, wo wir das gerade originalgetreu nachgebildete Bernsteinzimmer sehen konnten, auf dem Schloß Peterhof mit den überwältigenden Wasserspielen und der Pawlowsk-Sommerresidenz. Wir bestaunten die Bausubstanz allerorten in der Stadt, die orthodoxen Kirchen, die kleineren Museen, auch dasjenige zur nationalsozialistischen Belagerung, die bekanntlich fürchterlich war, wir genossen die beginnende Prosperität auf dem Nevsky Prospekt, sprich die Cafés, diese sonderbare Mischung aus europäischer Weltstadt und russischer Seele. Francesca, die im Jahr zuvor schon Moskau besucht hatte, wo sie sich ihrer sozialistischen Ursprünge erinnert glaubte, fühlte sich dieser Kultur, deren Romane sie als Teenager verschlang, sehr zugewandt. Und doch rief sie am Flughafen »Lufti!«, als sie unsere Lufthansamaschine sah. Sie hatte sich mit den Jahren so sehr mit Deutschland identifiziert, daß sie es kaum erwarten konnte, zurückzufliegen, auch wenn sie von Frankfurt aus gleich nach Tel Aviv weiterreisen sollte.
Francesca wohnte seit Herbst 2002 in Jerusalem. Sie, die schon 2000 dort einen Sommerkurs besuchte, hatte bereits alles für sich entdeckt und einen Freundeskreis aufgebaut, als ich im April 2004 eine Woche bei ihr war, wir einen Wagen mieteten und das Land durchquerten. Vom Toten Meer mit dem Quell Ein Gedi, über die Festung Massada mit der römischen Rampe, Tel Aviv als die moderne, ja amerikanisierte Stadt bis hoch nach Haifa mit dem Bahai-Tempel und Akko, zum See Genezareth, zurück über Megiddo und Nazareth. Überall Geschichte, Religion, Überlieferung, überall jüdische, aber auch arabische Kultur, und über allem liegt der ganz große Konflikt zwischen den monotheistischen Religionen, zwischen Europa und der östlichen Welt, zwischen Aufklärung und Tradition und – innerjüdisch – zwischen Orthodoxie und Liberalität. Wie ein Motto las ich im Anflug auf Israel in Derridas Buch Marx’ Gespenster diesen gespenstischen, aber allzu wahren Satz: »Der Krieg um die ›Aneignung von Jerusalem‹ ist heute der Weltkrieg.« Das war der erste Schauder.
Am nächsten Morgen liefen wir in die Stadt hoch, am Haus von Martin Buber vorbei, und kamen zur Altstadt. Welch ein Anblick, welch erhebende Gefühle! Die Klagemauer, der Felsendom, die Aksa-Moschee, der Blick auf Ostjerusalem. Golgatha, das armenische Viertel, dieses Sprachgewirr, die unterschiedlichen Gerüche, und immer wieder christliche Pilger, aber auch Soldaten und Polizei. Dann die Universitätsbibliothek, dort die Privatbibliothek von Gershom Scholem, in die Francesca eingelassen wurde. Die Widmungsbücher von Adorno und Horkheimer, und das alles inmitten der vormaligen Wüste. Welche Kontraste! Gibt es ein widersprüchlicheres Land?
Francesca zeigte ein gespaltenes Verhältnis diesem Staat gegenüber. Auf der einen Seite fühlte sie sich heimisch, Israel war ihr, der Jüdin, Land, sie identifizierte sich mit der Aufbauleistung der Siedler und Einwanderer, mit dem Schicksal fast aller, die dorthin gelangt sind, mit dem Projekt einer jüdischen Heimat. Sehr stolz zeigte sie mir »ihr« Land. Zugleich kam sie mit der Mentalität nicht zurecht, einerseits die Arroganz und Borniertheit, andererseits das südliche Machogehabe, das sie sehr an Italien erinnerte. Hinzu kamen die politischen Spannungen, nicht nur die drohende Kriegsgefahr – bedrückend die Polizeipräsenz, an jedem Restaurant, an jedem Supermarkt –, sondern die Apartheidpolitik gegenüber den Palästinensern. Wir ließen uns von diesen in die Territorien des Westjordanlands fahren. Gespenstige Szenerie: teilweise schick, weil von EU-Mitteln gebaut, so Bethlehem, dann wieder bettelarm, wie aus den 1950er Jahren, so Jericho. Beschämend waren die Schikanen an den Kontrollposten. Das war der zweite Schauder. Am Donnerstag, dem 11. März, kreisten die Helikopter über Jerusalem. Sofort dachten wir, es müsse etwas Schlimmes passiert sein. Und in der Tat war es der Tag des verheerenden Terroranschlags in Madrid. Allein, es handelte sich um einen Marathonlauf. In Israel wird man paranoid.
Nach Auschwitz war Jad Vashem der nächste und nächstliegende Ort des Gedenkens. Sie, die deutsch gewordene Frau, führte ihren deutschen Mann dorthin. Ich gedachte und schwieg. Es war der dritte Schauder. Von dem, was vor allem die Künstler sich ausgedacht hatten, um der Erinnerung Tribut zu zollen, hatten wir großen Respekt, ihre Lösungen waren sehr überzeugend. Ich spürte bei allen, die wir trafen – aber es waren Freunde und Bekannte von Francesca –, keinen Groll gegen mich als Deutschen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich nicht eine solch polykulturelle Partnerin gehabt hätte.
Im Sommer 2006, nachdem wir ein Auto gekauft hatten, durchfuhren wir das Burgund, etwa vier Autostunden von Freiburg entfernt. Jede Nacht in einer anderen Stadt, stets morgens mit dem Handy ein Hotel in derjenigen Stadt buchend, die wir anvisiert hatten: Dijon, Cluny, Autun, Avallon, Sens, Montbard, Beaune. Wir waren sehr flexibel, fühlten uns zum ersten Mal als Autobesitzer. Auf diese Weise konnten wir pro Tag vier Sehenswürdigkeiten und mehr anschauen: Schlösser, Kirchen, Klöster, historische Städte. In einer Woche erreichten wir etwa dreißig Orte. Francesca war dabei die Reiseleiterin und Übersetzerin. Solch eine Bildungsreise war nach ihrem Geschmack.
Francesca war zu einem Vortrag nach Princeton eingeladen, ich konnte einen Vortrag an der Columbia University halten, und wir konnten endlich Carl Djerassi, den hochbetagten Erfinder der Antibabypille und nun Schriftsteller, der uns seit längerem kennenlernen wollte, treffen, weil er eine Theaterpremiere hatte. Grund genug, nach New York City zu reisen. Wir sagten immer, die USA sind die USA, und New York ist anders. Wir sollten im September 2008 recht bekommen. Unser Hotel lag in der Nähe des Times Square, mithin zentral. Am ersten Morgen betrachteten wir vom Bistro aus die Vorbeilaufenden. Welch eine Energie, welch ein Vielvölkergemisch, welch eine Geschwindigkeit, welch eine Eleganz (zumindest in diesem Teil von Manhattan). Wir spürten etwas von dem multikulturellen Ideal. Gerade die Frauen liefen mit »determinazione«, wie man auf Italienisch sagt. Das Panorama hoch oben auf dem Empire State Building war grandios. Wir ahnten etwas von der weiten Visions- und Pionierhaftigkeit der amerikanischen Existenz, so daß wir, an der Freiheitsstatue vorbeifahrend, nicht das Bedürfnis verspürten, auszusteigen und hochzulaufen. Überhaupt sind die hohen Gebäude so massiert (mehr noch als in Hongkong), daß wir unwillkürlich am Boden bleiben wollten.
Das Guggenheim-Museum war eher enttäuschend, nicht jedoch das Museum of Modern Art mit einer Dalí-Sonderausstellung. Wir waren erstaunt von der großen Professionalität der Museen, vor allem beim Museum of Natural History. Wieder kam uns in den Sinn: »Wenn die Amerikaner etwas tun, dann tun sie es richtig.« Das legendäre Metropolitan Museum of Art überforderte uns. Wie betraten den Seitenflügel und befanden uns in der antiken Welt. Als wir bei den Etruskern ankamen, fragten wir uns, wie groß das Museum denn sei, und beschlossen, nachdem wir uns über die Ausmaße erkundigt hatten, zwei ganze Tage zu reservieren. Dieser Ort allein schon ist eine Reise wert. Die altägyptische Sammlung versetzte uns in unsere Reise an den Nil, in der Musikinstrumentensammlung konnte ich Francesca das Staunen lehren. Und dann gab es noch ein Dutzend Sonderausstellungen, darunter eine sehr große zu William Turner. Wir waren begeistert. Überhaupt: Dieses Museum ist so gigantisch und enzyklopädisch, daß man den Eindruck gewinnt, die ganze Welt sei darin versammelt, einschließlich des europäischen Bürgertums des 18. Jahrhunderts. Tja, Amerika, die imperiale Macht, war auf »Einkaufstour« gewesen.
Es war die Woche des 11. Septembers. Wir fuhren zum Ground Zero erst gegen Abend, da tagsüber die beiden Präsidentschaftskandidaten auftraten. Eine sonderbare Stimmung. Einerseits diese gigantische Großbaustelle, die anscheinend so langsam vorankommt; sodann Tausende, die in der Rushhour zur U-Bahn nach New Jersey strömten und an dieser Baustelle vorbeidrängelten; dann wieder eine Gruppe Tiefreligiöser, die beteten und sangen; überall Poster und Aushänge, als ob das Attentat erst vor kurzem geschehen wäre; ein paar Halbstarke, die mit ihren großen Autos ankamen, deren Karosserien vollständig mit Bildern der Rocky Mountains und für uns Europäer schwer verständlichen Parolen bemalt waren: »We trust in God. God bless America.« Die Szenerie glich einem Film; es schien, als handelten diese Leute, damit sie ins Fernsehen kamen, aber sie meinten es ernst. Wir machten die Runde um die Baustelle und fanden, daß es genug sei.
Die Finanzkrise beschäftigte seit einiger Zeit die Weltöffentlichkeit. Wir spürten das Mißverhältnis. Auf der einen Seite ein schwacher Dollar, der uns Europäer zu kleinen Krösusse machte, auf der anderen Seite eine wahnwitzige Energiebilanz: viel zu große Autos, und das im überfüllten Manhattan, überall Wegwerfgeschirr, riesige Konsumhäuser für allerlei Waren, die mit »Made in China« etikettiert sind, überall penetranteste Reklame. Wir sagten uns, daß dies nicht gutgehen könne. Am Sonntag zwang uns eine Umleitung der U-Bahn zum vorzeitigen Aussteigen. Wir gingen die Treppe hoch und starrten auf die New Yorker Börse. Plötzlich und ohne jede Absicht standen wir in der Wall Street. Da sind wir also, im Zentrum der Macht, dachten wir und verließen schnell das Terrain. Wir wußten nicht, daß zu dieser Stunde das Ende von »Lehman Brothers« besiegelt wurde. Abends flog Francesca nach Cincinnati, ich nach Deutschland. Am nächsten Tag brach die Wall Street zusammen. Als ob wir das am Vortag ausgelöst hätten.
An Ostern 2009 reisten wir nach Granada. Es wurde höchste Zeit, das maurische Andalusien, die arabische Al-hambra zu besuchen, beschäftigte sich Francesca doch seit Jahren mit der arabischen Sprache und Kultur. Die Alhambra mit der Generalife war natürlich umwerfend, vor allem in ihrer filigranen Zartheit. Isabel, die Katholische Königin, liegt in der Kathedrale begraben. Als Francesca vorbeikam, zeigte sie ihr den Stinkefinger. Das mußte sein, hatte diese Regentin doch 1492 die Juden aus dem Land vertrieben und damit auch Francescas Vorfahren. Sie nahm das sehr persönlich. Wir machten Ausflüge nach Córdoba, Almería und Málaga und genossen die Überlandfahrten mit dem Bus. Córdoba war für Francesca ein besonderes Erlebnis. »Hier komme ich her«, sagte sie, auf ihre Familiendiaspora anspielend. Stolz und erfreut zugleich lief sie durch das jüdische Viertel. Als wir an Maimonides’ Geburtshaus vorbeikamen, war es um Francesca geschehen. Sie schielte auf das »venta«-Schild, das zufällig am Nachbarhaus hing, und kam ins Schwärmen – hier eine Zweitwohnung mit Blick vom Schreibtisch auf das Denkmal des größten jüdischen Philosophen aller Zeiten. Nach Venedig, New York und Paris war das die vierte Zweitwohnung, die sich in Francescas Phantasie festgesetzt hatte.
In dieser Zeit planten wir für die kommenden Jahre Dreierkombinationen: eine Städte-, eine Erholungs- und eine größere Bildungsreise. Die erstere, 2010, führte nach Budapest, wo wir Francescas Geburtstag feierten. Wir waren von den Herrlichkeiten der Donaumonarchie tief beeindruckt und kamen rasch zum Schluß, daß Wien nicht mithalten könne und Budapest die schönste Stadt Europas sei (von Italien abgesehen). Ausflüge ins Umland, wie wir es mit Prag und Theresienstadt vorhatten, planten wir nicht ein. Die Stadt bot uns genug, die Burg, die Museen, die Bäder und nicht zuletzt die umwerfend schmuckvolle Oper, wo wir Il barbiere di Siviglia sahen, nicht unbedingt unser Geschmack, aber es paßte zur launigen Ferienstimmung. Die taufrisch restaurierte Synagoge, die größte auf dem europäischen Kontinent, war so überwältigend, daß wir kurz meinten, sie sei Anlaß, nochmals zu heiraten. Am letzten Tag entdeckten wir die Antiquariate, denen wir aus dem Wege gehen wollten. Francesca kaufte wieder ein, darunter eine Leusden-Bibel auf Hebräisch von 1705.
Die letzte Bildungsreise mit Führer und Fahrer vor Ort führte uns, unmittelbar vor Francescas unerwartetem Tod, nach Jordanien, eine Reise, die wir seit langem geplant hatten. Letztlich ging es um die Nabatäerfelsenstadt Petra. Aber zuerst wohnten wir in Amman, wieder in einer arabischen Stadt, und das während des arabischen Frühlings. Tunesien und Ägypten hatten den Wechsel geschafft, die NATO-Unterstützung der libyschen Rebellen begann just während dieser Reise. Wir befanden uns auf der anderen Seite von Israel, das 93 Prozent des Jordanwassers für sich beansprucht. Wir erwähnten unserem hilfreichen Fahrer gegenüber unsere Israelerfahrungen nicht. Wir spürten den Nahostkonflikt, diesmal von der anderen Seite aus. Wir erlebten das Land und vor allem die Hauptstadt als ausgesprochen liberal, ja zweisprachig, das Englische war weit verbreitet. Hier scheint das Königtum eine integrierende Rolle zu spielen. Wir fuhren nach Jerasch, der riesengroßen Anlage aus der römischen Zeit. Francesca, die Römerin, erklärte mir alles en detail. Wir sahen den Mount Nebo, die Mosaiken von Madaba, die Anlage von Karak. Dann nach Gadara, dem heutigen Umm Qais, mitten in der Landschaft gelegen. Schließlich ging es über die Wüstenschlösser nach Süden. Am Vorabend kamen wir in Petra an.
Petra – wie häufig hatte Francesca davon in den zehn Jahren zuvor gesprochen. Nun waren wir eingetroffen. Wir nahmen uns einen ganzen Tag vor, neun Stunden waren wir auf den Beinen, das Gelände ist riesig. Früh morgens machten wir uns auf den Weg. Wir liefen ehrfurchtsvoll den Siq entlang, jene etwa 1500 Meter lange und bis zu 200 Meter tiefe und sehr enge Felsschlucht, gleichsam ein Läuterungsweg zur einer verwunschenen Welt. Dann, plötzlich, ein Platz mit dem Blick auf das berühmteste Denkmal, das Khazne al-Firaun. Es erschlug uns geradezu. Fassungslos bestaunten wir die Fertigkeiten der Nabatäer. Wir durchwanderten die Gegend und liefen sogar hoch zum Kloster mit dem Felsgrab Ed-Deir, von wo aus man einen Blick nach Westen auf das Jordantal hat und der sehr bizarren Bergformation ansichtig wird. Wir dachten unwillkürlich an Kants Definition des Erhabenen in der Natur als des Übergroßen. Erschöpft, aber zutiefst befriedigt begannen wir den Abstieg.
Am letzten Tag wohnten wir in einem luxuriösen Ressort am Toten Meer. Tief gelegen konnten wir auf der anderen Seite hoch oben die Heilige Stadt Jerusalem nächstens leuchten sehen. Wer kann, sollte in diesem Salzwasser baden. Alle Schwimmkünste versagen. Es ist, als habe man das Schwimmen nie gelernt. Das Wasser war thermalbadwarm, kein Wind, keine Wellen störten uns an diesem Tag. Es lag Frieden über uns. Mehr als eine Stunde lagen wir auf dem Wasser wie auf einer Luftmatratze und fühlten uns wie Kinder. Francesca, die sich in einem früheren Leben als Fisch glaubte, war überglücklich. Wir beschlossen, eines fernen Tages, im Alter, hierher zurückzukehren. Am Abend flogen wir über Wien nach Berlin, in Francescas Heimatstadt. Heimat? Sie erklärte einmal, wohl anspielend auf das Diasporaschicksal ihres Volkes, daß sie keine Heimat habe, außer Berlin und Jerusalem, wobei sie aber sofort hinzufügte, daß diese beiden Städte strenggenommen heimatlose wären. So hatte sie, die sich Yardenit, Tochter des Jordans, nannte, sich am Ende ihres kurzen Lebens sowohl den langgehegten Wunsch Petra erfüllt als auch, von der Ferne, nochmals ihre zweite Wahlstadt gesehen: Jerusalem.
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