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In einem Dorf, in dem gerade mal 130 Menschen leben, davon höchstens vier, fünf Kinder im selben Alter, ist jeder potenzielle Spielkamerad, der keine Lust hat auf Fußball oder Räuber und Gendarm, natürlich ein Totalausfall für die anderen. Ich wundere mich heute noch, wie ich es geschafft habe, kein verschrobener Einzelgänger zu werden. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass meine Stimme durch dieses damals ja noch spielerische Training für meine spätere Karriere gefestigt und ausgebildet wurde. Das ist eine meiner Erklärungen dafür, weshalb ich so gut singen kann.
Selbstbewusst, ich gebe es zu, war ich schon als Kind. Ich wusste immer, wer ich bin und was ich wollte, und das habe ich auch deutlich gesagt. Ich hatte auch nie Angst vor fremden Menschen. Je mehr in einem Raum waren und mir beim Singen zuhörten, desto mehr Spaß hatte ich. Unseren Nachbarn muss ich heute noch danken. Sie bekamen meine Gesangsübungen ja quasi live mit. Vor allem im Sommer, wenn in allen Häusern die Fenster offen standen, war ich beinahe im ganzen Dorf zu hören. Und zwar täglich.
Als unser örtlicher Schützenverein 2003 sein 100jähriges Gründungsjubiläum feierte, gab ich in Mörz ein großes Konzert und bedankte mich bei allen Einwohnern dafür, dass sie meine Gesangsübungen jahrelang so tapfer ertragen hatten. Ein Mann rief: „Zum Glück hat es sich ja gelohnt.“ Natürlich fingen sofort alle an laut zu lachen.
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Ich war wohl ein extrem liebes und pflegeleichtes Kind. Zumindest erzählt das meine Mutter immer. Ich hätte meinen Eltern nie großartig Schwierigkeiten gemacht, sagt Mama. Ich weiß nicht, ob das an meinen Genen liegt. Ich war von klein auf sehr gewissenhaft und diszipliniert. Für ein Kind vielleicht schon fast zu vernünftig und brav. Wenn mir jemand sagte, was ich machen solle, tat ich das anstandslos. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Eltern etwas zu verheimlichen. Lügen war mir viel zu anstrengend. Ich machte meiner Mutter auch nie Vorwürfe, dass sie wegen des Ladens keine Zeit hatte, mit uns in den Urlaub zu fahren oder ins Schwimmbad zu gehen. Ich vermisste das alles nicht, da ich meine persönliche Erfüllung in meiner Musik gefunden hatte. Was jedoch dazu führte, dass ich mich sportlich nicht besonders engagierte.
Mit zehn Jahren konnte ich immer noch nicht richtig schwimmen. Mein Bruder war da ein ganz anderer Typ. Er war DLRG-Schwimmer. Eines Tages meinte ein Kumpel zu mir: „Du, ich habe gestern meinen Freischwimmer gemacht. Lass uns ins Schwimmbad gehen, dann mache ich dir das mal vor.“ Ich ließ mich breitschlagen und ging mit. Als wir im Wasser waren, packte er mich und schwamm mit mir los. An der tiefsten Stelle ließ er mich plötzlich los. Da ich nicht schwimmen konnte, ging ich unter wie ein nasser Sack. Ich schluckte literweise Wasser, bekam keine Luft mehr und strampelte um mein Leben. Der Bademeister sah, was los war, sprang ins Wasser und zog mich an den Beckenrand. Ich war völlig panisch und ließ mich nur schwer beruhigen.
Seitdem hatte ich das absolute Trauma im Hinblick auf Schwimmbäder und weigerte mich jahrelang, überhaupt auch nur den großen Zeh ins Wasser zu stecken. Das galt auch fürs Schulschwimmen. Jede Woche hatte ich Streit mit meinem Lehrer, weil er einfach nicht verstehen wollte, dass ich im Wasser Angst hatte.
Als ich 20 war, nahm ich mir einen Schwimmlehrer. Ich hatte keine Lust mehr darauf, stets als Spielverderber zu gelten, wenn ich mit Freunden im Urlaub war oder beruflich in einem schönen Hotel mit Pool wohnte. Also engagierte ich einen privaten Schwimmtrainer. Doch jeder Versuch des armen Kerls, mir das Schwimmen beizubringen, endete in einem Fiasko. Kaum nahm ich im Wasser die Schwimmhaltung ein, spielten sich vor meinem geistigen Auge wieder die Szenen im Freibad ab, und sofort hatte das Trauma mich erneut im Griff. Mein Schwimmlehrer und ich gaben entnervt auf. Zwei Jahre später wollten Nora und ich mit unserer Clique in den Urlaub fahren. Natürlich wussten alle, dass ich nicht schwimmen konnte. Einer aus der Clique, ein Schwimmbesessener, meinte zu mir: „Ich bringe dir das Schwimmen bei!“
Diese Vorstellung war für mich gleich das nächste Drama: Ich fahre in den Urlaub, und da ist einer, der mich jeden Tag mit diesem blöden Schwimmen nervt. Nein, darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Ich war so wütend, dass ich beschloss, mir selbst das Schwimmen beizubringen. Noras Schwester hatte in ihrem Haus einen Indoor-Pool. Ich kaufte mir orangefarbene Schwimmflügelchen und trainierte jeden Tag allein. Etwa zwei Wochen lang stand ich täglich im Wasser und machte Schwimmbewegungen. Erst im Stehen, irgendwann richtig. Tag für Tag ließ ich ein bisschen mehr Luft aus den Schwimmärmelchen. Bis ich mir irgendwann selbst sagte: „Alter, bist du eigentlich bescheuert? Du hast da zwei Plastiklappen an den Armen, die dich eigentlich stören. Jetzt zieh endlich diesen Scheiß aus und schwimm.“ Von dem Moment an konnte ich schwimmen.
Ich bin zwar bis heute kein Michael Phelps, aber im Pool unseres Hauses auf Ibiza schwimme ich jeden Morgen meine 25 Bahnen. Bei einer Maximaltiefe von 1,60 Metern fühle ich mich sicher. Nur mein Kopf darf nicht unter Wasser, da bekomme ich sofort Panik. Auch ins Meer oder in einen See traue ich mich nicht. Mir macht die Strömung zu schaffen, außerdem kann ich nicht sehen, wie tief es da ist und wohin ich trete. Das finde ich eklig. Fazit: Schwimmen wird garantiert nie meine Lieblingsbeschäftigung werden. Dafür ist mein Kindheitstrauma einfach zu groß.
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Mein Talent als Kinderstar hatte sich in Mörz und Umgebung schnell herumgesprochen. Plötzlich bekamen meine Eltern immer mehr Anfragen, ob ich Lust hätte, bei einem Firmenjubiläum oder einem runden Geburtstag zu singen. Ein Weinfest hier und eine Kirmes dort. Ob ich Lust hatte? Und wie, das stand wohl außer Frage! So wurde quasi über Nacht aus mir eine Art Kinderstar. Zwar auf niedrigem Niveau, aber immerhin durfte ich vor Publikum singen. Meine Eltern waren stolz darauf, einen Sohn zu haben, der sich freiwillig auf eine Bühne stellte und losschmetterte. Allerdings haben sie mich nie zu etwas gezwungen. Im Gegenteil. Meine Mutter sagte immer: „Wenn du das möchtest, darfst du auftreten. Wenn du keine Lust hast, lässt du es bleiben.“
Und mittlerweile gab es dafür auch keine Süßigkeiten mehr, sondern 50 oder 60 Mark, also so um die 25, 30 Euro.
Mit meinen acht bis zehn Auftritten pro Jahr peppte ich mir mein Taschengeld auf. Ich war damals wohl das glücklichste arbeitende Kind in ganz Deutschland! Noch ahnte ich nicht, dass mein nächster Karrieresprung bereits vor der Tür stand.
Anfang der Siebzigerjahre baute unser Schützenverein eine neue Halle. Da mein Vater ja Vereinsvorsitzender war, kam ein Journalist von der Lokalzeitung zu uns nach Hause. Er hieß Hans Stein und wollte mit meinem Vater ein Interview führen. Während dieses Gesprächs kam die Rede auch auf mich. Herr Stein hatte gehört, dass ich singen könne, und erzählte meinen Eltern, dass seine Frau einen Kinderchor leite. Mein Vater wurde sofort hellhörig und sagte zu ihm: „Hören Sie sich unseren Bernd doch einfach mal an. Vielleicht kann Ihre Frau ja noch Verstärkung im Chor gebrauchen.“ Mein Vater wollte nie einen Star aus mir machen. Er hat mein Singen auch nie zu stark glorifiziert. Vielmehr hoffte er, dass ich im Kinderchor Gleichgesinnte treffen würde, mit denen ich auch mal was anderes außer Musik machen könnte.
Ich wurde also ins Wohnzimmer zu den Erwachsenen gerufen und sollte ihnen etwas vorsingen. Herr Stein saß im Sessel und lauschte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sein Gesichtsausdruck immer ernster wurde. Als ich fertig war, starrte er mich einfach nur an. Irgendwann fragte meine Mutter in die Stille hinein: „Und, hat Ihnen unser Bernd gefallen?“ Herr Stein schüttelte den Kopf: „Der Junge kann unmöglich in den Kinderchor. Das passt nicht.“ Ich sah meinen Eltern an, wie enttäuscht sie waren. Da erklärte Herr Stein: „Ihr Sohn muss alleine singen. Seine Stimme ist zu gut für einen Chor. Auch seine Ausstrahlung und seine Bewegungen sind viel zu professionell. Man kann ihn nicht in eine Gruppe integrieren. Da würde er stets herausstechen.“ Herr Stein war so begeistert von mir, dass er mir versprach, einen professionellen Bühnenauftritt zu vermitteln. Ich war damals acht Jahre alt.

In Koblenz gab es zu dem Zeitpunkt ein großes Tanzhaus mit integrierter Gaststätte, den „Mosel-Tanzpalast Hommen“. Heute würde man so etwas „Event-Gastronomie“ nennen. In diesem „Tanzpalast“ gab es einen großen Tanzsaal für 1 000 Personen, eine Speisegaststätte, eine Kellerbar, eine Kegelbahn und eine einfache Kneipe.
Herr Hommen buchte mich auf Empfehlung von Herrn Stein für eine Weihnachtsfeier an einem Dezembernachmittag. Ich fuhr mit meinem Vater und einer „UHER“-Bandmaschine (UHER war eine professionelle Firma für Tonequipment) nach Koblenz, wir machten einen Soundcheck, und ich stand zwei Stunden später, Weihnachtslieder singend, auf der Bühne. Und die Bandmaschine lieferte die Musik dazu.
Kaum war ich fertig, kam auch schon Herr Hommen auf meinen Vater zu und sagte: „Herr Weidung, Ihr Sohn hat aber eine tolle Stimme. Auch sein Auftreten ist für das Alter erstaunlich. Hätte er vielleicht Lust, bei unserer diesjährigen Silvestergala aufzutreten?“ Mein Vater fühlte sich geschmeichelt und fragte mich, wie ich das sehe. Mir war nicht bewusst, was Silvestergala bedeutete. Aber auf einer Bühne zu singen, war für mich immer ein Muss. „Mmmmhhh“, sagte ich und nickte mit dem Kopf. „Welche Lieder soll ich denn singen?“, fragte ich.
„Oh“, sagte Herr Hommen, „ich habe eine elfköpfige Band. Du suchst dir ein paar Titel aus, und ich lasse die Arrangements schreiben. Einen Tag vorher findet die Probe statt, und an Silvester singst du dann gegen 21 Uhr, damit du wieder früh ins Bett kannst.“
Elfköpfige Band, Silvester und großes Publikum fand ich klasse. Aber früh ins Bett, was war das denn? Dies war ein Meilenstein in meiner Karriere, und ich sollte dann ins Bett? Na ja, es gab Wichtigeres zu entscheiden, welche Songs und welche Tonlage etwa.
Mein Repertoire bestand an diesem Abend dann aus:
Wenn wir alle Sonntagskinder wär’n (Heintje)
Après toi (Vicky Leandros) (Ich sang tatsächlich auf Französisch.)
Ein Indiojunge aus Peru (Katja Ebstein)
Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (Tina York).
Ich gebe zu, als ich kurz vor meinem Auftritt stand, war mir schon etwas mulmig. Mal 50, mal 200 Leute, ok, aber 1 000 in festliche Garderobe gewandete Zuhörer, das war eine andere Hausnummer.
Meine Mutter hatte mir speziell für diesen Abend einen Smoking gekauft, was gar nicht so einfach war. In meiner Größe, 140, gab es keinen Smoking. Zumindest nicht in Koblenz! Also wurde er eine Nummer größer gekauft und von meiner Mutter auf meine Maße verkleinert.
Eine „Kinderfliege“ gab es erst recht nicht. Höchstens die aus der Karnevalsabteilung. Aber bitte, das ging ja gar nicht. Es existieren heute noch Bilder meines damaligen Outfits. „Bernie“ mit Smoking und einer Fliege, die so breit war wie mein Kopf. Ich sah jedoch schnell ein: Wer im Musikgeschäft nach oben will, muss modische Opfer bringen.
Der Auftritt war ein Knaller. Das Publikum tobte und wollte mich gar nicht von der Bühne lassen. Herr Hommen strahlte, und meine Eltern waren stolz. Wer wäre das nicht gewesen!?
Nach der Show sprach Herr Hommen mit meinen Eltern über weitere Engagements in seinem Tanzpalast. Es fanden dort, über das Jahr verteilt, sehr viele Firmenfestlichkeiten statt. Herr Hommen suchte für sein Nachmittagsprogramm immer wieder Künstler, die bei ihm auftreten sollten. Vielleicht hätte ich ja Lust, nachmittags aufzutreten, schlug er vor.
Lust? Natürlich! Ich wollte unbedingt und am liebsten sofort!
In der ersten Januarwoche rief mein Vater Herrn Hommen an, um die Dinge mit ihm noch einmal in aller Ruhe zu besprechen. Natürlich kam auch das Thema Gage auf den Tisch. „Was wollen Sie denn für einen Auftritt Ihres Sohnes haben?“, fragte Herr Hommen meinen Vater. „Ich weiß es nicht, was zahlt man denn so?“, kam die Antwort. „Mmmmh, ich setze mal das Honorar bei 300 bis 400 Mark an, ich glaube, das ist angemessen“, schlug Herr Hommen vor. „Gut, dann probieren wir’s!“
Ich wollte natürlich wissen, wie viel von dem Geld mir zustehen würde. Mein Vater erklärte mir, dass mir selbstverständlich das ganze Geld gehöre. Er wollte es aber auf ein Konto einbezahlen und davon dann bei Bedarf eine neue Gesangsanlage und weiteres musikalisches Equipment kaufen. Ich war damit einverstanden, handelte aber von jeder Gage einen Anteil von zehn Prozent für mich aus. Das fand ich nur fair, denn schließlich arbeitete ich ja auch dafür. Mein Vater willigte ein. Er ging von drei bis vier Auftritten im Jahr aus und rechnete sich schnell aus, dass etwa 120 bis 140 Mark als Taschengeld an mich gehen würden. Damit konnte er leben. Doch es kam völlig anders!
In den kommenden Wochen nervte ich meine Mutter mit der ewig gleichen Frage. Kaum war ich aus der Schule zurück, wollte ich wissen: „Hat Herr Hommen schon angerufen?“ Ihre Antwort lautete stets: „Neeeiin.“
Es war Ende März, als eines Nachmittags bei uns zu Hause das Telefon klingelte. „Weidung“, sagte meine Mutter. Ich hörte dann nur, wie sie antwortete: „Ach, Herr Hommen, ja danke, uns geht es gut.“ – „Frau Weidung, ich wollte Ihnen ein paar Termine für Ihren Sohn durchgeben.“ – „Kein Problem, schießen Sie los.“ – „Nein, holen Sie sich besser einen Stift und ein Blatt Papier.“ – „Ach was, die paar Termine kann ich mir schon merken.“ – „Nein, Frau Weidung, es sind ein paar mehr. Genauer gesagt, fünfzehn Termine für die nächsten sechs Wochen.“ Damit hatten weder meine Eltern noch ich gerechnet. Fünfzehn Termine in sechs Wochen! Das hieß, ich durfte endlich zurück auf meine geliebte Bühne – und ich malte mir schon die Höhe meines fürstlichen Taschengeldes aus.
In den kommenden drei Jahren hatte ich im Tanzpalast dann etwa 150 Auftritte. Dort lernte ich auch Kurt Adolf Thelen alias „Der singende Kellermeister“ kennen. Er trat dort regelmäßig auf und sang diese typischen Schunkellieder, „Schütt’ die Sorgen in ein Gläschen Wein“ oder „Oh Mosella“ und solche Sachen. Ende der Siebzigerjahre waren das richtige Stimmungslieder. Der Kurt fand mich so klasse, dass er unbedingt ein Album mit mir aufnehmen wollte. Ich war neun Jahre alt und fand das natürlich wahnsinnig spannend. Ich sang mal wieder eine Auswahl von Heintje-Titeln, aber auch neu komponierte Lieder. Produziert wurde das Album von Hellmuth Rüssmann, dem musikalischen Ziehvater von Schlagerstar Wolfgang Petry. Das Ergebnis war richtig gut. Doch leider lehnten alle Plattenfirmen eine Veröffentlichung ab, weil sie in der Nach-Ära von Heintje erst einmal die Schnauze voll hatten von niedlichen Kinderstars. Das Projekt war damit gestorben, und ich habe nie wieder etwas von meiner ersten Schallplatte gehört.
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1976 gab es beim Südwestfunk-Radio einen Wettbewerb, bei dem man als nichtprofessioneller Musiker eine Kassette mit selbst gesungenen Titeln einreichen konnte. Jeden Samstag wurde dann ein Wochensieger gekürt, dann der Monatssieger, der Halbjahressieger und der Jahressieger. Ich hatte in allen Kategorien gewonnen, dennoch verlief eine mögliche Karriere im Sande, da ich noch zu jung war. Der zuständige Herr beim Radio teilte mir mit, dass sich meine Stimme erst noch festigen müsse. Ich sei einfach noch zu jung. Einen dreizehnjährigen Sänger konnte man damals nicht erfolgreich vermarkten. Da laufen die Uhren heute ganz anders, je jünger, desto besser. Doch ich gab nicht auf und konzentrierte mich weiterhin auf mein Hauptziel, meine Musik. Im Deutschunterricht wurden wir einmal von unserem Lehrer gefragt, was wir später beruflich machen wollten. Voller Überzeugung erklärte ich ihm, dass ich Sänger werden würde. Ein Klassenkamerad, den ich ohnehin nicht besonders gut leiden konnte, kam nach der Stunde zu mir und meinte: „Du redest so einen Müll, und bist so was von bescheuert! Sänger ist doch kein Beruf, den man einfach so wählen kann. Dafür muss man richtig gut sein.“
Ich ließ den Idioten einfach stehen, was wusste der schon. Ein paar Wochen später hörte mich derselbe Junge bei einer Chorveranstaltung in der Schule. Ich hatte einen Solopart, der beim Publikum großartig ankam. Als die Vorstellung vorbei war, kam der Junge zu mir und entschuldigte sich bei mir, weil er mich ausgelacht hatte, und meinte: „Aus dir wird tausendprozentig mal ein richtiger Star.“
Damals machte mich die Musik des amerikanischen Sängers Barry Manilow tierisch an. 1974 landete er mit „Mandy“ einen Welthit. So etwas hatte ich vorher noch nicht gehört. Anfang der Siebzigerjahre spielte man in Deutschland „Schöne Maid“ von Tony Marshall und „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ von Jürgen Marcus. Plötzlich schwappten diese leicht angejazzten Akkorde aus Amerika zu uns herüber. Auch die Karriere von ABBA begann damals. Aber der Sound von Manilow war etwas ganz Besonderes für mich. Für mein musikbegeistertes deutsches Ohr verkörperten seine Songs eine unglaubliche Internationalität, obwohl er in seiner Heimat eher als Schnulzenheini galt. Auch der Hit „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“ von Middle of the Road gefiel mir. Diese Sounds läuteten langsam, aber sicher die Disko-Ära in Deutschland ein, und auch ich sang nicht mehr Heintje oder Mary Roos nach, sondern die englischen Songs.
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Durch meine vielen gut bezahlten Auftritte im Tanzpalast hatte ich schon als Schüler immer genügend Geld in der Tasche. Es kam immer wieder vor, wenn mal die letzte Stunde des Unterrichts ausfiel, dass ich nicht auf den Bus wartete, sondern mir ein Taxi bestellte, das mich die zwei Kilometer nach Hause brachte. Das kostete damals vier Mark. Um zehn nach zwölf stand ich bei meiner Mutter vor der Haustür. Sie bekam regelmäßig einen halben Herzinfarkt und schimpfte: „Bernd, das geht nicht. Du bist ein Kind. Kinder fahren nicht mit dem Taxi von der Schule nach Hause, sondern nehmen den Bus.“ Ich: „Aber Mama! Der Bus fährt erst in einer Stunde.“ – „Dann musst du die Stunde eben warten, so wie das alle Kinder tun.“ – „Dazu habe ich keine Lust.“ Das Argument, wer meine Taxifahrten bezahlen solle, zog bei mir nicht. Ich verdiente ja schließlich längst mit meiner Musik eigenes Geld. Also fuhr ich weiterhin Taxi.
Ich liebte auch Lakritze. Ganz besonders Veilchenpastillen, die ja nun wirklich nicht jedermanns Geschmack sind. Ich ging in Münstermaifeld in einen kleinen Supermarkt und fragte also nach meinen Veilchenpastillen. Die Verkäuferin, die mich kannte, erklärte: „Bernd, die führen wir nicht mehr, weil wir zu wenig davon verkaufen. Ich muss immer einen ganzen Karton ordern, das lohnt sich nicht.“ „Aha, wie viele sind denn in so einem Karton“, fragte ich schon mit Hintergedanken. „36“, lautete die Antwort. „Tja, dann bestellen Sie bitte einen Karton für mich.“ Ich weiß nicht, was die Verkäuferin von mir dachte, aber zwei Tage später hatte ich meine 36 Beutel Veilchenpastillen.
Nach meiner Grundschulzeit wechselte ich in Münstermaifeld auf das Kurfürstliche Balduin-Gymnasium.

Schule war für mich ein notwendiges Übel. Ein Schicksal, dem ich nicht entkommen konnte. Hätte es irgendeine Chance gegeben, diese Lebensphase zu überspringen, ich hätte sie sofort genutzt. Dementsprechend war ich nur ein mittelmäßiger Schüler. Es gab Fächer, die ich liebte, wie Deutsch, Geschichte, Erdkunde. Aber Mathe und Physik oder Chemie waren der Albtraum. Ich war viel mehr auf meinen Lifestyle bedacht. Gepflegtes Aussehen, schicke Kleidung und stilvolles Benehmen waren mir schon als Kind unheimlich wichtig. Das ist damals nicht anders als heute gewesen. Auch meine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel war bereits als Schüler voll ausgeprägt. Ich brauche Abstand zu fremden Menschen, mag keinen Körperkontakt. Ich kann schlecht ertragen, wie es im Bus oder in der U-Bahn riecht. Grundsätzlich mag ich den Duft von Menschen, die mir am Herzen liegen. Aber wenn sich die Gerüche von fremden Menschen auf engem Raum vermischen, dreht sich mir der Magen um. Wenn der Fahrer dann noch bremsen muss und so ein schwitzender Mensch auf mich drauf fällt, halte ich die Luft an.
Das war auch der Grund, weswegen ich als Schüler an keiner Klassenfahrt teilgenommen habe. Nicht mal bei der Abi-Fahrt war ich dabei. Höchstens mal bei einem Tagesausflug. Ich habe auch noch nie in meinem Leben in einer Jugendherberge geschlafen.
Bis heute bin ich nur ein einziges Mal U-Bahn gefahren. Das war mit Claudia vor 15 Jahren in London. Nach der Landung wollten wir uns in ein Taxi setzen, doch es herrschte totales Verkehrschaos, und wir hätten mindestens zwei, drei Stunden bis in die Innenstadt benötigt. Für Claudia gab es überhaupt keine Diskussion. Sie sagte: „Ich setze mich doch nicht stundenlang in eine Taxe. Wir fahren jetzt mit der U-Bahn. Punkt.“ Wir also mit unseren Koffern rein in die Underground – und ich hätte mich sofort übergeben können in dem schmutzigen, mit Menschen vollgestopften Waggon. Es war absolut nicht meine Welt! Ich nölte während der kompletten Fahrt bis in die City herum und gab Claudia ganz deutlich zu verstehen, dass ich das nie mehr machen würde, selbst ihr zuliebe nicht.
Auch bei meiner Kleidung ließ ich schon als Junge nicht mit mir verhandeln. Mitte der Siebzigerjahre war bei meinen Freunden und mir die C&A-Jeansmarke „Palomino“ total angesagt. Ich wollte gar keine anderen Hosen mehr tragen und kaufte mir ständig Palomino-Jeans in allen erdenklichen Farben. War meine Mutter der Meinung, ich hätte genug anzuziehen und eine neue Hose sei jetzt nicht nötig, kaufte ich mir die Hose eben von meinem eigenen Geld.
Wenn wir auf dem Kurfürstlichen Balduin-Gymnasium eine Freistunde hatten, hingen meine Klassenkameraden am liebsten im Freizeitraum der Schule ab. Dort lümmelten sie auf Matratzen herum und tranken für 20 Pfennige pro Plastikbecher aufgebrühten Pfefferminztee oder lauwarmen Filterkaffee. Mir war das alles nicht fein genug. Ich bevorzugte ein gepflegtes und ruhiges Ambiente. Also ging ich in das beste Café der Stadt und bestellte mir heiße Schokolade mit handgerührter Schlagsahne für 2,80 Mark. Mein Vater konnte das überhaupt nicht verstehen, wenn ich abends am Essenstisch von meinen Erlebnissen erzählte. Sein Spruch lautete stets: „Junge, Junge, wenn du später auch auf so großem Fuß leben willst, dann musst du mal richtig viel Geld verdienen.“
Als ich 13 Jahre alt war, schlug unser Französischlehrer vor, dass wir uns Brieffreunde an unserer Partnerschule in Nevers in Lothringen suchen sollten. Ich fand die Idee prima. Man wurde dadurch nicht dümmer und konnte auf angenehme Art sein Französisch verbessern. Also meldete ich mich freiwillig. Es gab nur 15 Schüler, die mitmachen durften. Als die Adressen der Brieffreundschaften verteilt wurden, war ich der einzige Junge, der ein Mädchen abbekam. Erst dachte ich, mein Lehrer hätte sich verlesen. Hatte er aber nicht. Es war definitiv ein Mädchen. Sie hieß Clothilde und war zwölf Jahre alt. Clothilde hatte sich wohl auch schon gewundert, weshalb ich mich für sie beworben hatte. Meine Mutter meinte nur: „Was ist denn daran so schlimm? Mit dem Mädchen kannst du dir doch auch Briefe schreiben.“ Was ich dann auch tat. Im Jahr darauf plante unsere Schule einen Besuch in Nevers. Ausgemacht war, dass wir acht Tage lang in der Familie unserer Brieffreunde wohnen sollten. Zwei Monate vor der Abfahrt bekam ich einen Brief von Clothilde. Es täte ihr ganz schrecklich leid, aber ihr Vater sei beim Militär und werde versetzt. Deshalb würden sie aus Nevers fortziehen.
Nun war ich also wieder mal der Einzige aus meinem Französischkurs, der plötzlich ohne Gastfamilie dastand. Kurzfristig wurde mir Marc, 13, zugeteilt. Ich schrieb ihm also einen Brief, um mich ihm vorzustellen. Schnell merkte ich, dass Marc und ich komplett verschieden waren – in etwa so, wie es viele Jahre später bei Dieter Bohlen und mir der Fall sein sollte. Marc spielte Fußball, war bei den Pfadfindern und liebte es, im Dreck zu wühlen und ordentlich einen draufzumachen. Er und ich passten überhaupt nicht zusammen.
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Die Familie von Marc war okay. Sie lebten in einer kleinen Wohnung, und ich hatte ein eigenes Zimmer für mich. Da wir Deutschen nicht mit zur Schule mussten, sondern bis nach dem Mittagessen Zeit mit unserer Familie verbringen sollten, blieb ich morgens bewusst lange im Bett liegen, um den anderen die Chance zu geben, sich in Ruhe in dem kleinen Badezimmer fertig zu machen. Ich stand nie vor neun, halb zehn Uhr auf. Um zehn Uhr kam Marcs Mutter und machte für mich alleine Frühstück, da der Rest der Familie längst unterwegs war. Sie setzte sich zu mir, und wir unterhielten uns ganz wunderbar miteinander. Danach ging sie zur Arbeit. Mittags kam sie zurück und machte Mittagessen. Am letzten Tag erzählt sie mir, dass mein Aufenthalt eigentlich ganz anders geplant gewesen sei. Da sie berufstätig war und schon um sieben Uhr bei der Arbeit sein musste, hatte sie gedacht, dass ich zusammen mit Marc aufstehen und zur Schule gehen würde und wir uns dann mittags zum Essen wieder träfen. Da ich aber so lange schlief, hatte die arme Frau wahnsinnigen Stress und rannte ständig zwischen ihrem Arbeitsplatz und mir hin und her. Mir war das schrecklich peinlich, zumal ich ja gedacht hatte, ich würde der Familie einen Gefallen tun, wenn ich lange schlafen würde. Als ich sie fragte, warum sie mir das nicht gleich gesagt habe, antwortete sie: „Als ich dich sah, war mir sofort klar, dass ich anders mit dir umgehen muss.“




