- -
- 100%
- +
Das Beste an der Reise nach Nevers war der Gebetsstuhl, den ich mit nach Hause schleppte. Marc war bei den Pfadfindern. Sie trafen sich einmal pro Woche in der örtlichen Kirche. Ich begleitete ihn und sah mir die Kirche an. Plötzlich entdeckte ich unter der Treppe eine kleine, alte Gebetsbank. Sie war total verdreckt und voller Spinnweben. Doch sie faszinierte mich. Die Sitzfläche war aus Nussbaumholz geschnitzt, darin Rosenranken und ein Kreuz. Die Füßchen sahen aus wie gedrechselte Säulen. Die Fläche, auf der man kniete, und die Stütze für die Hände waren mit rotem Gobelinstoff bezogen. Ich war wie besessen von dem alten Stück und wollte es unbedingt haben. Der Leiter von Marcs Pfadfindergruppe meinte, das ginge nicht. Aber ich könne, wenn ich wolle, ein kleines Gebetsbüchlein oder ein Bild der Kirche als Andenken mit nach Hause nehmen. Ich wollte aber kein olles Büchlein, ich wollte den Gebetsstuhl. Ich bot ihm Geld. Wir einigten uns auf 20 Mark, dann gehörte der Stuhl mir. Stolz wie Oskar kam ich mit dem guten Stück zurück zu meiner Gastfamilie. Marcs Mutter war schier aus dem Häuschen und wollte mir den Gebetsstuhl unbedingt abkaufen. Aber ich ließ mich nicht überreden. Bevor meine Klassenkameraden und ich mit dem Bus nach Koblenz zurückfuhren, rief ich meine Eltern an und erklärte ihnen: „Bitte räumt den Kofferraum des Autos leer. Ich bringe etwas mit.“
Als sie mich und mein Souvenir am nächsten Tag in Empfang nahmen, schlugen meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammen. Meine Mutter sagte nur: „Warum kommt unser Sohn eigentlich immer auf solche Ideen?“ Das gute Stück steht heute noch im Haus meiner Eltern. Wir haben ihn mal schätzen lassen. Er stammt aus dem Jahr 1815 und ist noch mit dem Originalstoff bezogen.
***
1979 musste ich nach den Sommerferien die Schule wechseln, da unser Gymnasium in Münstermaifeld geschlossen wurde und die Oberstufenschüler auf andere Gymnasien verteilt werden sollten. Ich hatte mir das Eichendorff-Gymnasium in Koblenz ausgesucht, denn dort gab es einen Musikleistungskurs. Wie immer war ich ein bisschen spät dran, die Anmeldefrist für das neue Schuljahr war bereits abgelaufen. Mein Vater fuhr also mit mir zum Direktor und schaffte es, mich doch noch einzuschleusen. Kaum hatte ich die Zulassung, bahnte sich jedoch schon die nächste Katastrophe an. Im Verhältnis zu unserem kleinen Gymnasium in Münstermaifeld mit seinen 300 Schülern gingen auf das Eichendorff-Gymnasium 900 Jungen und Mädchen. Jeder beäugte jeden. Mich kannte niemand. Ich war ein Schüler aus der Provinz, mehr nicht. Natürlich freundete ich mich mit Gleichgesinnten an. Mitschüler, die auch Musik als Hauptfach gewählt hatten. Doch von meiner großen Passion für die Musik wusste zunächst niemand etwas. Es war auch in dem Alter nicht gerade besonders hip, deutschen Schlager zu hören oder sogar selbst zu singen. Neu am städtischen Gymnasium, ein Landei und dann noch ein Schlagerheini, das überschritt bei vielen meiner Mitschüler einfach die Toleranzgrenze. Morgens nahm mich mein Vater, der in Koblenz arbeitete, im Auto mit. Am Nachmittag fuhr ich mit dem Zug nach Hause, und meine Mutter holte mich am Bahnhof ab.
In der Oberstufe gab es keine Klassen mehr, sondern jeder Schüler belegte Kurse, drei Hauptfächer und verschiedene Nebenfächer. In den ersten Wochen hatte ich erst einmal genug damit zu tun, mich an der neuen Schule zurechtzufinden. Das neue Kurssystem, die komplett neuen Lehrer. Eine Woche nach Schulbeginn hingen am Schwarzen Brett auf dem Schulhof die Listen für unsere Sportkurse aus. Alle Schüler hatten bei der Anmeldung an der Schule ihre Lieblingssportarten angeben müssen und wurden nun in die jeweiligen Sportkurse eingeteilt.
Doch wo stand mein Name? Okay, wir waren insgesamt über 110 Schüler in der 11. Jahrgangsstufe, da kann man sich schon mal verlesen. Aber auch beim dritten und vierten Durchsehen war kein Bernd Weidung auf der Liste zu entdecken. Was war passiert? Ich ahnte es. Weil ich mich erst sehr spät, im Grunde schon nach Ablauf der Frist, auf dem Eichendorff-Gymnasium angemeldet hatte, legte man mir keine Sportwunschliste vor. Klassischer Fall von „durchs System gerutscht“! Ich dachte mir: Tja, wenn ich nicht auf der Liste stehe, muss ich ja auch nicht zum Sportunterricht. Logisch, oder?
Für mich begann das Wochenende also schon zwei Stunden früher als für den Rest meiner Klasse. Entweder ging ich in mein Lieblingscafé oder zum Einkaufen. Natürlich wusste ich, tief drin in meinem Herzen, dass es nicht richtig war, was ich tat. Aber da es keinem aufzufallen schien, dass ich beim Sportunterricht nicht dabei war, konnte es so schlimm ja nicht sein. Dachte ich. Denn einige Wochen später hatte mich ein Klassenkamerad beim Lehrer verpfiffen. Nach den Herbstferien musste ich bei unserem Sportlehrer, Herrn Harder, antanzen, der mir die Leviten lesen wollte. Nun gut, ich hatte einen Fehler gemacht, aber ich erklärte ihm, dass sein System ja auch Lücken aufweise, sonst hätte er mich spätestens beim Schülerabgleich zu Schuljahresbeginn namentlich erfassen müssen.
Mensch, ich und meine große Klappe! Einfach „Entschuldigung“ zu sagen, das hätte ja auch gereicht. Und nicht noch mehr Öl in die Flamme gießen. Doch es war bereits zu spät. Herr Harder hatte schon eine leicht rötliche Gesichtsfarbe. „Herr Weidung“, kam es gepresst aus Herrn Harders Mund, „ab kommenden Freitag spielen Sie Fußball.“ Fußball? Fußball?? Ich wurde blass um die Nasenspitze und schrie innerlich: „AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!“
Oh Mann, war das Zufall, oder sollte er tatsächlich so viel Menschenkenntnis besitzen, dass er wusste, wie man mich an meiner empfindlichsten Stelle treffen konnte?
Der Freitag nahte, und meine Laune sank auf den Gefrierpunkt. Ich stand auf dem Fußballplatz und sollte dribbeln, Pässe spielen, Dehnübungen und Sprint-Stopps machen. Hallo, ging’s noch? Ich war Sänger. Ich war schon fast 200 Mal auf der Bühne gestanden, sang das Repertoire der weltgrößten Künstler nach und hier, auf diesem piefigen Sportplatz, sollte ich Fußball spielen? Meine Entscheidung stand fest, und zu mir selbst sagte ich: „Sorry, Herr Harder, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Blutdruck durch die Decke schießt: Heute habe ich meine letzte Vorstellung auf diesem Fußballplatz gegeben.“
Das Argument, das ich mir bei möglicher Kritik von Lehrerseite an meinem Verhalten in Gedanken schon zurechtgelegt hatte, lief darauf hinaus, dass jeder außer mir die Chance gehabt hatte, seinen Sportkurs frei zu wählen. Nur mir war Fußball aufgezwungen worden. Das konnte nicht sein. Argumentativ fühlte ich mich völlig auf der sicheren Seite. Deshalb hatte ich auch kein schlechtes Gewissen – doch dazu später mehr.

Meine Eltern besaßen elf Jahre lang ein kleines Ausflugscafé im Ort vor der Burg Eltz. Ich liebe diese romantische, märchenhafte Burg bis heute. Immer in der Woche vor Ostern fand die große Eröffnung unseres „Café Weidung“ statt. So oft es ging, habe ich meiner Mutter dort geholfen. Am tollsten fand ich es immer, wenn der Laden proppenvoll war und richtig viel Hektik herrschte. Unser Café befand sich an der Durchgangsstraße zur Burg Eltz. Auf dem Weg nach oben hielten die Busfahrer bei uns an und reservierten für zwei Stunden später schon einmal Tische für ihre Reisegruppen. Das waren dann gerne um die 50 Personen auf einen Schlag, die innerhalb von fünf Minuten ihr Kännchen Kaffee und ihr Stück Schwarzwälder Kirschtorte serviert bekommen wollten. Ich habe dann serviert, meine Mutter stand an der Kuchentheke und kam aus dem Schneiden gar nicht mehr heraus. In der Küche hatten wir eine Aushilfe, die den Kaffee kochte und für das Geschirr zuständig war. Je voller, desto lieber war es mir. Im größten Trubel fing ich an zu singen, und so war jedes Mal eine Bombenstimmung bei uns im Café.
Auf der Kuchentheke hatte meine Mutter immer frische Blumen stehen. Daneben dekorierte sie eine meiner Singles, die ich neu produziert hatte. Die war nie zum Verkaufen gedacht, sondern einfach nur als Zeichen dafür, wie stolz meine Eltern auf mich waren. Eines Tages ging unsere Industriekaffeemaschine kaputt, die pro Stunde rund 400 Tassen Kaffee kochen konnte. Da so ein Teil locker 15 000 Mark kostet, konnten wir nicht mal schnell eine neue kaufen, sondern mussten einen Elektriker rufen, der sie reparieren sollte. Als der Mann fertig war, plauderte er noch ein wenig mit meiner Mutter. Als er meine Single entdeckte, erzählte er: „Ich mache auch Musik, habe eine eigene Band. Der Thomas Anders bewirbt sich ständig bei uns, doch wir wollen ihn nicht haben, weil er so schlecht ist und nicht singen kann. Ich habe auch gar keine Ahnung, wie der es überhaupt geschafft hat, eine eigene Single aufzunehmen.“ Meine Mutter schwieg. Erst als der Handwerker fragte: „Kennen Sie den Anders denn persönlich?“, antwortete meine Mutter mit eisigem Blick: „Ja, ich kenne ihn. Um es kurz zu machen: Er ist mein Sohn. Und eines gebe ich Ihnen noch mit auf den Weg – unsere Kaffeemaschine reparieren Sie ganz bestimmt nicht mehr. Auf Wiedersehen!“
In unserem Café hatten meine Eltern auch zwei Fremdenzimmer eingerichtet. Eines Tages kamen zwei Frauen zu meiner Mutter in den Laden, die eine war Anfang 30, die andere Ende 40, und fragten, ob sie ein Zimmer mieten könnten. Ich stand an dem Tag zufällig auch hinter der Theke. Meine Mutter sagte ja. Worauf eine der Frauen wissen wollte: „Ist das hier vorn der einzige Eingang?“ Meine Mutter: „Nein. Wir haben noch einen Hinterausgang.“ Die Frau: „Kann man die Rollläden im Zimmer so dicht schließen, dass kein Tageslicht ins Zimmer fällt?“ Meine Mutter: „Ich habe noch nie in unserem Gästezimmer geschlafen. Aber es sind ganz normale Rollläden.“ Die Frau: „Dürfen wir das vorher ausprobieren, bevor wir das Zimmer mieten?“ Meine Mutter: „Das können Sie gern tun.“ Dann wieder die Frau: „Ist das hier die Hauptstraße des Ortes? Wie weit ist es denn von hier bis zur Autobahn?“ Meine Mutter beantwortete sämtliche Fragen. Dann meinte die Frau, sie würden sich das mit dem Zimmer überlegen und sich wieder melden. Als sie weg waren, sagte meine Mutter zu mir: „Mit denen stimmt doch was nicht. Das sind sicher Terroristinnen.“ Ende der Siebzigerjahre war immerhin die Hoch-Zeit der RAF, und die Menschen waren sensibilisiert mit Blick auf verdächtige Personen. In sämtlichen öffentlichen Gebäuden hingen ja damals diese Fahndungsplakate. Wir dachten zwar, dass uns auf dem Lande nichts passieren könnte. Dennoch war meine Mutter sofort hellhörig geworden bei dem merkwürdigen Auftreten der Frauen. Sie rief die Polizei und erzählte von den beiden Frauen, die sich bei uns aber nie mehr blicken ließen. Monate später erfuhren wir, dass es tatsächlich gesuchte RAF-Mitglieder waren …

Wegen des großen Altersunterschiedes wurden mein Bruder, meine Schwester und ich quasi als Einzelkinder groß. Kaum war mein Bruder aus dem Gröbsten raus, kam ich. Als ich eingeschult wurde, kam meine Schwester zur Welt. Meine Mutter musste also jedes Mal wieder von vorn anfangen mit der Kindererziehung.
Bis heute verstehen wir drei Geschwister uns wunderbar. Auch wenn wir komplett verschiedene Charaktere sind. Kaum zu glauben, dass wir dieselben Eltern haben. Wir stehen uns zwar emotional total nahe, leben aber grundverschieden.
Mein Bruder Achim machte, wie mein Vater, Karriere beim Finanzamt. Er ist verheiratet mit Helga, hat zwei Söhne und baute in Mörz, ganz in der Nähe unserer Eltern, ein Haus. Sein älterer Sohn heißt Markus, und das Nesthäkchen, David, ist mein Patensohn. Während der „ersten Karriere“ von Modern Talking hatte ich manchmal ein schlechtes Gewissen Achim gegenüber. Ich dachte, wie sieht er mich? Als durchgeknallt? Als Show-Snob, der die Bodenhaftung verloren hat? Mein Leben bestand aus „heute hier und morgen da“. Eine Musikerexistenz zwischen Lear-Jet und 5-Sterne-Hotels, Gourmet-Futter und Designer-Klamotten.
Ich liebte und liebe meinen Bruder und wollte nie den Eindruck erwecken, dass ich etwas Besonderes sei. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber viele Jahre später, während meines USA-Aufenthaltes, rief ich ihn an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Wir plauderten, und nach einer Weile fragte er mich: „ Wo bist du eigentlich?“ Ich sagte: „In Los Angeles.“ „Hey“, meinte er, „das Telefonat kostet ja ein Vermögen.“ „Ja, aber ich bin so viel unterwegs, da ist es egal, von wo aus ich anrufe, es ist dein Geburtstag“, erwiderte ich. „Weißt du“, fing er an, „nimm es mir nicht übel, aber nie in meinem Leben möchte ich mit dir tauschen. Immer unterwegs, ständig im Flugzeug, permanent ein neues Hotel. Ich bin froh, dass ich mein beschauliches Leben habe.“
Was für eine Aussage! Und was für ein Befreiungsschlag. Ich war baff. Achim hatte mir gezeigt, dass ich zwar meinen Traum lebe, aber dass mein Traum für andere weiß Gott kein Traum sein muss. Mir wurde klar, dass nicht ich mit meinem bekloppten Beruf das Zentralgestirn im Universum bin. Nein. Jeder Mensch findet sein Glück auf seine Weise.
Meine Schwester Tanja wiederum lebt eine Mischung aus Achims und meinem Leben. Sie arbeitet heute als Grafikdesignerin in München, wohnt dort mit ihrem Mann Fritz, ihrer dreijährigen Tochter Coco-Jolie und ihrem Sohn Laurien, der im Februar 2011 das Licht der Welt erblickte. Tanja und ich standen uns von Anfang an besonders nah. Ich wollte ja immer eine Schwester – Sie erinnern sich an die Sache mit dem Zucker und dem Storch? –, und der Altersunterschied zwischen uns beträgt „nur“ sieben Jahre. Zwischen Tanja und Achim liegen dreizehn Jahre, was beinahe schon eine andere Generation ist. Ich will aber hier nicht analysieren, wie Geschwisterliebe sich in Jahren definiert. Ich liebe meine Schwester genauso, wie ich meinen Bruder liebe. Ohne Wenn und Aber!

Ich jobbte in den Sommerferien in einem Hotel an der Mosel. Das Hotel „Krähennest“ stand in der Ortschaft Kattenes, etwa 4 km von Mörz entfernt. Es war ein beliebtes Hotel in der Gegend und wurde besonders an den Wochenenden von Touristen aus dem Ruhrgebiet besucht.
Ich war die Hilfe hinter der Theke. Zitronen- und Orangenscheiben schnippeln, Gläser spülen, Bier anzapfen und, wenn Not am Mann war, den Service hinterm Tresen machen. So stand ich auch an einem Samstagnachmittag wieder am Bierhahn und war nicht ganz so gut gelaunt wie sonst. Am Abend vorher hatte ich in Koblenz an einem Talentwettbewerb (heute würde man Casting dazu sagen) teilgenommen. Es fand im Rahmen einer RTL-Sonntagssendung mit Lou van Burg statt. Freitags wurden die Talente „gecastet“, der Sieger durfte sonntags in der Livesendung auftreten – und es winkte ein Schallplattenvertrag. Ich sang die deutsche Originalversion des Grand-Prix-Siegertitels „Kisses for Me“ von Brotherhood of Man. Ich war gut, nein, ich war klasse gewesen! Ich sang einwandfrei und legte eine tolle Performance hin. Aber als die Entscheidung verkündet wurde, war ich noch nicht mal unter den ersten Drei. Das tat weh! Überschätzte ich mich? War ich doch nicht so gut, wie ich selbst empfunden hatte? Ich war verzweifelt.
Mein Vater versuchte mir auf der Heimfahrt Mut zuzusprechen und tröstete mich. „Du warst gut, aber vielleicht suchen sie einen anderen Typ“, bemühte er sich, die Situation zu retten. „Ich war halt einfach nicht gut genug“, motzte ich zurück.
Einen Tag später stand ich nun also, versunken in meine Gedanken an den Vortag, an der Theke und zapfte Bier. Mein Chef rief, ich solle ans Telefon kommen, er habe einen Anruf für mich. Mein Bruder war am Apparat. „Hallo, Bernd, es haben eben Leute von RTL angerufen und wollten dich sprechen.“ – „Und was hast du gesagt?“ – „Dass du im Krähennest jobbst. Sie meinten, sie würden eventuell bei dir vorbeikommen.“ Ich war verdattert. Mmmh, was sollte das denn? Vielleicht wollten sie sich einen schönen Nachmittag machen, aber warum ausgerechnet bei mir?
Ab sofort war ich angespannt und leicht unkonzentriert. Ich beäugte jeden Gast, der sich vom normalen Publikum unterschied. Man will ja einen guten Eindruck hinterlassen, wenn wichtige Menschen aus der Branche vorbeischauen. Der Thekenbereich und das angrenzende Lokal waren stark besucht, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Im Laufe des Nachmittags vergaß ich jedoch die eventuellen RTL-Gäste. Ein Bier hier, ein Wein dort, sieben Gläser Orangensaft und so weiter. Zwei Männer an der Theke orderten Apfelkorn. Nach fünf Minuten verlangten sie zwei weitere Schnäpse, und ich fragte keck, ob die Herren immer alleine trinken würden. „Was möchtest du denn?“, fragte der eine zurück. Einen „Asco“ bitte, also Asbach-Cola. Ich trank normalerweise nichts, aber es förderte den Umsatz, und irgendwann landete mein Getränk, von den Gästen unbemerkt, im Abfluss.
Nach ein paar weiteren Minuten sprach mich einer der beiden Herren an und sagte: „Mein Name ist Peter Krebs. Mein Kollege und ich kommen von RTL.“ Peng! Ich wurde von meinem Thekenuniversum in eine andere Galaxis geschleudert. „Ähhhhh“, stotterte ich, „ich bin nicht immer so!“ „So? Wie bist du denn sonst?“, wollten beide lachend wissen. „Nicht so vorlaut“, stotterte ich. Der zweite Mann hieß Michael Ahrens. Sie erzählten mir, dass sie mich bei dem Casting am Abend vorher gehört hätten und dass ihnen meine Stimme gefalle. Sie würden gerne mit mir zusammenarbeiten. Ich war einverstanden.
Peter Krebs und Michael Ahrens stellten den Kontakt zu Daniel David her, einem Frankfurter Produzenten. Er ging mit mir in ein Studio und testete meine Stimme. Er war so begeistert, dass er wiederum sofort Kontakt mit der Plattenfirma CBS in Frankfurt aufnahm und ich meinen ersten Schallplattenvertrag erhielt. Daniel David kam zu mir und versuchte mir vorsichtig zu erklären, dass ich einen Künstlernamen bräuchte. Er sagte, Bernd Weidung würde irgendwie nicht nach Star klingen und wäre ihm auch zu kompliziert. Außerdem würde ihn Weidung zu sehr an eine Kuh auf der Weide erinnern, und darauf habe er keine Lust. Damals war das so! Ein Künstlername musste sich sofort im Kopf der Menschen festsetzen: Bernd Clüver, Jürgen Marcus, Roy Black, Mary Roos, Lena Valaitis, Bernhard Brink, Michael Holm und viele andere mehr. Die Namen saßen und gingen den Menschen nicht mehr aus dem Kopf. Aber Bernd Weidung?
Der damalige Geschäftsführer der CBS hieß Anders mit Nachnamen, und mein Produzent dachte, wenn ich auch Anders hieße, würde das sicherlich dem Plattenboss schmeicheln, und wir bekämen ein höheres Budget zur Verfügung gestellt. Ob das geklappt hat, weiß ich bis heute nicht, aber der Nachname stand somit schon mal fest. Zur damaligen Zeit war Tommi Ohrner ein Superstar für die Teenies in Deutschland. Als „Tim Thaler, der Junge, der sein Lachen verlor“, war er der angesagteste Jungschauspieler der Nation. „Tommi“ bzw. „Tommy“ war ein geläufiger Name und in aller Munde. So kam die Idee auf, mich Tommy Anders zu nennen.
Darauf hatte ich aber keine Lust. Ich meinte: „Ich will nicht Tommy heißen. Wenn ich mal 30 bin, klingt das doch doof.“ Also einigten wir uns auf Thomas. Ab sofort war ich also Thomas Anders.
Meine erste Single als Thomas Anders hieß „Judy“ und war die deutsche Version des Randy-Vanwarmer-Songs „Call me“. Die Single brachte leider nicht den gewünschten Erfolg. Trotzdem hatte ich die Chance, mit dem berühmten Tommi Ohrner auf Tournee zugehen. Mein damaliger Manager Peter Krebs hatte mir ein Engagement in „Tommi Ohrners Teen Rock Show“ verschafft. Tommi war damals 18 Jahre alt, also nur zwei Jahre älter als ich. Auch mit den anderen Newcomern verstand ich mich prima. Jeden Freitag nach der Schule fuhr ich von Koblenz mit dem Zug nach Frankfurt, wo mich Peter Krebs ins Auto setzte und mit mir quer durch Deutschland zu den Auftritten mit Tommi Ohrner und Co. fuhr. Am Sonntagabend war ich wieder zuhause, so dass ich noch genügend Zeit hatte, um meine Hausaufgaben zu machen und für die Schule zu lernen. Beim großen Eröffnungskonzert in Frankfurt waren natürlich Journalisten von allen Jugendmagazinen vor Ort: Bravo, Popcorn usw. In der Bravo gab es eine Rubrik, die sich „Junge Talente“ nannte und immer auf Seite drei erschien. Wie sollte es auch anders kommen – plötzlich war ich der Junge von Seite drei. Ich wurde fotografiert und im Interview unter anderem auch gefragt, ob ich eine Freundin habe. Meine Antwort damals: „Nein. Ich habe noch keine Freundin. Das kommt noch.“
Als die Bravo im Handel war, habe ich sofort überschlagen, wie viel Geld ich auf meinem Konto hatte. Ich wollte die gesamte Bravo-Auflage aufkaufen, so sehr habe ich mich für den Artikel geschämt. Die Überschrift lautete: „Ich habe noch nie ein Girl geküsst!“ – Hat jemand eine Ahnung, wie demütigend das mit 16 ist? Die wahre Hölle kam aber erst noch. Der Hausmeister des Eichendorff-Gymnasiums, Goofy genannt, hatte sich nichts dabei gedacht und den Bericht inklusive Fotos ausgeschnitten und riesengroß ans Schwarze Brett gepinnt. Ich hätte nie geahnt, was für ein niederschmetterndes Gefühl das ist, wenn selbst ein Sechstklässler nur verächtlich an einem vorbeiblickt. Nach dem Motto, schlimm genug, dass der Anders vom Land kommt, jetzt ist er auch noch völlig zurückgeblieben und hat noch nie ein Mädel geküsst. Wie peinlich!
Ich sah den Artikel an der Pinnwand schon von weitem. Mein Kumpel Andreas, der neben mir lief, meinte nur: „Oh, was ist das denn?“ Worauf ich rief: „Halt die Schnauze.“ Dann schrie ich nach Goofy und befahl ihm, den Artikel sofort wieder abzuhängen. Aber natürlich hatten ihn längst alle 900 Schüler gelesen. Was für eine Schmach!
***
Etwas später war das erste Halbjahr an meiner neuen Schule geschafft, und es ging auf die Halbjahreszeugnisse zu. Ich machte mir nicht allzu viele Gedanken. Zum einen waren meine Noten gut, zum anderen zählte in unserem Schulsystem das erste Halbjahr der Oberstufe sowieso nicht fürs Abitur. Also alles ganz entspannt? Nicht ganz! Ich hatte in den vergangenen Monaten eine aufregende Zeit. Neue Schule, neue Schulkameraden, meine erste Single, eine kleine Tournee, die ersten überregionalen Presseberichte.
Am Tag nach der Zeugniskonferenz wurde ich mit zwei weiteren Schülern zu unserem Direktor zitiert. Während der Notenkonferenz war meinem Sportlehrer aufgefallen, dass ich nur ein einziges Mal zum Sportunterricht – Sie erinnern sich, der verhasste Fußballkurs? – erschienen war. Es stellte sich heraus, dass es insgesamt drei Schüler gab, die es so wie ich gemacht hatten. Unser Klassenlehrer informierte uns darüber, dass wir auf der Stelle beim Direktor anzutanzen hätten. Der liebe Herr Direktor Rahmann! Wir drei marschierten also in sein Sekretariat und warteten. Er rief uns einzeln zu sich. Ich kam als letzter dran. Ich hörte draußen die Maßregelungen von Direktor Rahmann und sein Geschrei. Beide Jungs kamen jeweils wie ein Häufchen Elend aus dem Büro des Direktors. Und dann war ich an der Reihe. Ich hatte in den zehn Minuten vorher Zeit gehabt, mir eine Strategie auszudenken: Ich fühlte mich immer noch irgendwie durch meinen Lehrer, Herrn Harder, unfair behandelt. Mir einfach den Fußballkurs aufzubrummen, ohne mir auch nur den Hauch einer Chance auf eine Alternative zu lassen, empfand ich als total diktatorisch.
Ich hatte kaum Rahmanns Büro betreten, da wollte der Direktor erneut losschreien. Doch bevor er dazu kam, stoppte ich ihn: „Moment, Herr Direktor. Bitte geben Sie mir eine Sekunde, damit ich Ihnen erklären kann, wie es überhaupt so weit kommen konnte.“ Rahmann riss die Augen auf angesichts von so viel Dreistigkeit, aber er ließ mich erzählen.
Also erklärte ich ihm die verfahrene Situation und sagte: „Wissen Sie, Herr Rahmann, es gibt Menschen, die haben zwei linke Hände. Und genauso habe ich zwei linke Füße. Fußball und ich, das geht gar nicht.“ Ich war so im Redefluss, dass ich gar nicht bemerkte, dass die linke Hand von Rahmann eine Prothese war. Oh, Mann! Bis er plötzlich losschrie: „Wie meinen Sie das mit den zwei linken Händen? Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Darauf ich: „Ähhhhh, ich meine, ich kann nicht Fußball spielen. Ich finde Fußball ätzend. Mich hat auch niemand gefragt, ob ich überhaupt Fußball spielen möchte. Ich wurde einfach dafür eingeteilt.“ Bevor er wieder laut wurde, unterbreitete ich ihm einen Vorschlag: „Ich habe mir etwas überlegt, wie ich mein Fehlverhalten wiedergutmachen kann.“ Bis dato hatte wohl noch kein Schüler die Chuzpe gehabt, dem Direktor einen Deal anzubieten. Doch Rahmann zeigte sich interessiert. „Was haben Sie vor?“ – „Ich singe. Ich kann gut singen. Ich habe sogar schon Schallplatten aufgenommen, die auch veröffentlicht wurden. Beim nächsten Schulfest gebe ich mit der Schulband ein Konzert.“ Er sah mich an: „Wie, Sie haben schon Schallplatten aufgenommen? Das ist ja interessant. Da haben wir also einen richtigen Künstler an unserer Schule?“ Ich nickte: „Verstehen Sie jetzt, warum ich nicht Fußball spielen kann? Wahre Künstler spielen nicht Fußball.“ Rahmann war kaum noch zu bremsen. Er wollte alles über meine Musik wissen. Nach einer dreiviertel Stunde waren wir uns einig. Er willigte in meinen Vorschlag ein und verabschiedete mich mit Handschlag.




