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Eine warme, ruhige Präsenz begegnet mir. Die Stimme einer Frau erklingt: „Na du, schon lange nicht gesehen.“ Es ist Tina. Ich bleib fassungslos vor ihr und sage nichts. „Willkommen am Choicepoint, von hier aus kannst du verschiedene Wege gehen.“, sagt sie, als wäre keine Sekunde vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich bleibe stumm und starre sie an. Sie strahlt eine Ruhe aus, die ich zu ihren Lebzeiten nie gesehen hatte.
„Du warst schon immer ein tiefes Gewässer, sehr still.“ – „Tina, wieso … wieso hast du dich umgebracht?“ – „Aus dem gleichen Grund, aus dem sich alle Menschen umbringen, so wie du auch. Schmerz, Leid und die Einsamkeit, die dein Kummer dir bereitet.“
„Wieso haben wir nie über solche Sachen miteinander geredet?“ – „Weil wir nie gelernt haben, dass eine Beziehung impliziert, dass wir über Sachen reden, die unangenehm sind. Wir dämonisieren Unannehmlichkeiten bis zu dem Punkt, an dem wir vergessen, dass Leid und Tod Bestandteil dieser Welt sind. Ich habe mich jeden Tag geschämt für meine Unfähigkeit, Glück zu empfinden. Du hast alles dafür getan, mich glücklich zu machen, selbst wenn es dich selbst zerstörte. Nur die eine Sache ist uns nie eingefallen, wir wussten einfach nicht, wie man mit Leid präsent sein soll.“ – „Was meinst du damit? Präsent mit dem Leid? Was bedeutet dies?“ – „Alles, was wir wirklich wollen, ist angenommen werden in jedem Moment, so wie wir sind. Wir machen eine Menge Sachen, um uns abzulenken, nicht, dass es falsch ist, sich gut fühlen zu wollen, jedoch begehen wir einen Fehler, wenn wir meinten, dass wir jedem Leid auf der Welt entkommen könnten. Wir können verdrängen, lügen, schauspielern, Drogen nehmen, Geld anschaufeln, so wie wir es gemacht haben. Nichts davon ist falsch, dennoch ist nichts davon auch wirklich richtig.“ – „Du klingst wie ein buddhistisches Hörbuch.“ – „Du hast selbst gesagt, dass von hier aus dein Leid irgendeine Bedeutung hat. Wie lautet jene?“
„Nun ja, von hier aus kann ich sehen, dass ich mehr litt aufgrund der Sachen, die nicht passiert sind. Ich hatte keine tiefe Auseinandersetzung mit dir. Ich dachte stets, dass ich eine selbsterfundene Heldenrolle spielte wie im Theater. Ich gewann einen Sinn der Großartigkeit dadurch und wer Großartigkeit ist, wird belohnt.“ – „Und wieso wolltest du belohnt werden?“ – „Dumme Frage, weil es sich gut anfühlt.“ – „Und wieso fühlt es sich gut an?“
Stille zwischen uns. „Weil wir etwas näher an uns heranlassen, wenn es sich gut anfühlt. Wir werden berührt, es entsteht eine Verbindung. Der Sinn des Leidens soll uns unter anderem lehren, wie wir Dinge an uns heranlassen können. Wo unsere Grenzen sind wird damit gezeigt und ob wir uns bereit erklären wollen, diese Grenzen zu durchbrechen oder zu erhalten. Aber kehren wir zu deinem Leid zurück. Wieso hast du lieber Theater gespielt?“ – „Ich dachte die ganze Zeit, es gäbe keinen Sinn in meinem Leben. Wenn ich nicht stark genug bin, um dieser Welt standzuhalten, was bin ich dann?“
„Wie hätte dein Leben ausgesehen, wenn du dich tragen ließest? Welche ist die größte Stärke von allen?“
„Sich in jeder Situation anpassen zu können, wie es Wasser macht.“ – „Tina, jetzt bitte! Was soll dieser ganzer Weisheitskram … Ich will ja nur sterben und bei dir sein.“ – „Ich bin schon lange weiter gegangen. Ich bin wiedergeboren im Klang der Kirchenglocken am Morgen, als kleiner Junge, der mal Architekt werden will, als Mönch, der seine Rituale täglich wiederholt, als Mörder, der aus Einsamkeit und Angst seine Opfer an sich nagelt. Du bist aber stehen geblieben. Du bist stehen geblieben und steckst fest, so fest, dass du nicht mehr weißt, dass du frei geboren bist. Also gut, du willst sterben und mit mir weiter gehen? Auch du wirst neue Formen annehmen, dich verwandeln und die gleichen oder ähnlichen Situationen auswählen. Immer und immer wieder, bis an den Tag, an dem du die Bedeutung deines Leidens nicht nur erkennst, sondern auch durchlebst.“
Wieder diese Stille. „Wieso spielen wir eigentlich dieses Sauspiel? Wieso um alles in der Welt entscheiden wir uns willkürlich, Schreckliches zu erleben? Das kann doch nicht sein.“
„Vor einem Augenblick erkanntest du noch die Bedeutung deines Leidens und jetzt ziehst du dich zurück?“ – „Wieso bist du nicht geblieben? Wieso hast du dich entschieden, weiter zu gehen und neue Formen anzunehmen und so?“ – „Weil mein Leiden etwas anderes bedeutete als deines.“ – „Und was soll das sein?“ – „Die meisten Menschen, die sich umbringen, leiden an einer Art innerlicher Einsamkeit, die unbeschreiblich ist, dies ist dir bewusst.“ – „Ja, und?“ – „Ich habe mich im Glauben, nicht genug zu sein, isoliert. Egal, was ich für Fortschritte vollbrachte, egal, wie viele Drogenentzüge ich durchmachte, alles wurde aus dem Blickwinkel vollzogen: Ich bin nicht genug. Egal, wie viel Liebe ich erhielt und von wem auch immer, es würde nie genügen.“ – „Also hätte man dir nur das Gefühl geben sollen, gut genug zu sein?“ – „Nein, selbst das wäre nie genug gewesen. Meine Identität basierte darauf, nicht genug zu sein. Dies aufzugeben bedeutete, mich aufzugeben. Wenn ich meine Perspektive hätte ändern können, wäre es anders abgelaufen. Wir möchten stets ein Happy End wie es in Hollywood gezeigt wird, doch die Wahrheit ist, dass es nicht jeder schafft. Nicht alle werden glücklich und zufrieden, aber Menschen wehren sich irgendwie dagegen. Wie würde dein Leben aussehen, wenn du akzeptieren könntest, dass es für uns kein glückliches Ende geben konnte?“ – „Will ich das wirklich wissen?“
In mir steigt das eiskalte Gefühl von Trauer auf.
Trauer, dies ist das zentrale Thema meiner Geschichte. Ich kann entweder sterben oder mein Leid durchleben, um zu sehen, was auf der anderen Seite dieses Prozesses liegt, falls es überhaupt eine andere Seite gibt. Tina löst sich langsam auf, ihre Konturen verblassen langsam im warmen, angenehmen Licht. Mir ist warm, Frieden herrscht in mir, sterbe ich jetzt? Ist es schon vorbei? Kann ich bitte noch mein Leben im Flashback sehen? Die Küsse meiner Eltern, als ich ein Baby war, möchte ich noch einmal spüren dürfen. Bevor sie sich scheiden ließen war alles in Ordnung. Zumindest mein eigenes Alles war intakt. Ich möchte nochmals diese Wut spüren dürfen, als ich erfahren habe, dass wir keine Familie sein werden, den Zorn, der mich dazu gebracht hat, alles und jeden an mich zu klammern, bevor es mir entwischt. Egal, wie das Feuer in mir die Menschen um mich herum verbrennt, sie brennen nicht nach Leben, so wie ich es gerade tue. Ich will nochmals leben, auch als Brandopfer meiner eigenen Gefühle und ich will alles mit mir zu Asche vernichten.
Kapitel 1
Schock
Mein Hals ist zu und das Atmen fühlt sich an wie eine Strafe. Alles in meinem Körper pulsiert und schmerzt. Aber ich atme. Ich lebe noch. Wie der Schrei einer Mutter, die ihr Kind zur Welt bringt, bohrt sich das Gefühl von Achtsamkeit durch meinen Schädel. Ich achte auf meine Beine, eines davon spüre ich weniger, ist es überhaupt noch da? Bin ich noch da? Und wo befinde ich mich jetzt? Hier riecht es nach Desinfektionsmittel, Klänge sind hörbar, Menschen, die sprechen, ich bin nicht allein. Wage ich es, die Augen aufzumachen? Das ist egal, denn irgendwann starren wir der Realität ins Gesicht. Ich bin in einem Krankenhaus, natürlich bin ich das, ich Idiot habe versucht, mich umzubringen. Ein Plastikrohr steckt in meinem Hals und ich kann mich kaum bewegen. Hier stinkt es. Hier stinkt es nach Tod und ich liege hier, wie eine Fliege in der Suppe. Welcher Tag ist heute? Dieses Rohr ist unerträglich, aber ich kann mich nun mal nicht bewegen. In welchem Krankenhaus bin ich eigentlich? Wie lange war ich weg? Wo war ich? Habe ich zuhause abgeschlossen? Wenn nicht sind bestimmt Leute rein und haben die gebrauchten Kondome und das restliche Chaos in der Wohnung gesehen. Sie haben mich gesehen. Oh Gott, meine Nachbarn wissen bestimmt schon, dass ich versucht habe, mich umzubringen. Ist das Wasser zuhause zugedreht? Ich muss mich waschen. Plötzlich bleibt mein Geist stehen, die Decke starrt mich an und ich starre zurück. Stunden vergehen, ohne dass ich irgendwohin kann, mit irgendjemand sprechen dürfte oder diesen Gestank von mir waschen könnte. Ich glaube, ich habe mich vollgeschissen und nun liege ich hier. Gibt es so etwas wie Krankenschwestern hier? Verdammt, ich möchte schreien, aber der Schrei erstickt in mir drin, so tief in mir drin, dass eine Träne meine Augen verlässt. Meine Tränen sind freier als ich selbst. Stille herrscht, doch diese Stille bewegt sich. Sie pumpt Adrenalin durch meinen Körper, mein Herz rast, ich will hier weg, doch ich kann nicht. Habe ich jetzt eine Panikattacke? Mein Gestöhne wird vom Beatmungsrohr in meinem Rachen abgedämpft. Was, wenn ich für immer so liegen muss? Warum wollte ich denn zurück zu diesem Scherbenhaufen? Mein Herz springt gleich aus meiner Brust, so stark schlägt es, dass es mein Gejammer wie eine Trommel begleitet. Und auf einmal nichts mehr, mein inneres Ausrasten verlässt mich schlagartig. Auf einmal wird mir klar, dass ich lebe, wenn auch regungslos an ein Bett gebunden. Dennoch lebe ich. Ich lache hysterisch, Tränen fließen und verdunsten, meine Angst verflüchtigt sich mit ihnen. Die Tür vor mir öffnet sich, endlich eine Menschenseele, die mich hier rausholen kann, einen Seufzer der Erlösung gebe ich von mir. Der Seufzer wird zu Schock, sobald ich sehe, wer den Raum betreten hat. Ein älterer Mann im schwarzen Mantel, ich weiß, wer das ist, tue so, als läge ich noch im Koma, denn wenn man nicht flüchten oder kämpfen kann, soll man sich künstlich belebt stellen. Er kommt auf mich zu, wenn man lange genug mit einer Person gelebt hat, erkennt man diejenige an ihrem Gang. Meine Brust wird hart und Schweiß staut sich genau an dieser Stelle an. Ich tropfe vor Angst. Er setzt sich neben mich, ich kann noch spüren, wie er meine Hand nimmt. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, DASS ich noch etwas spüren kann oder vor Ekel sterben soll aufgrund dessen, was ich spüre. Ruhig bleiben, ich muss nicht mal atmen, die Maschine macht das für mich, ich bin eine Maschine, meine Funktion ist es, Ruhe zu bewahren. „Du warst so ein süßes Kind, bis du mich verpfiffen hast. Kinder sollten gesehen werden und nicht gehört und siehe da, jetzt bist du still. Nächste Woche schalten wir dich komplett aus, tja so spielt das Schicksal. Zuerst schreist du Wolf und dann wirst du gefressen, denn es gibt niemanden, der dich hört.“ Er streichelt mein Bein entlang, das Bein, welches weniger beschädigt ist. Natürlich genau das Bein, das sich nicht regen darf. Er geht immer höher und höher, stoppt, sobald er meinen Kot riecht. Ich stecke wortwörtlich in der Scheiße und genau das rettet mich vor einem Übergriff. Oder geht er jetzt weiter? Dieses Biest könnte problemlos Scheiße fressen, er kennt keine Limits. Was passiert jetzt? Durch meine geschlossenen Augenlider kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Ist er angeregt? Angewidert? Ich spüre seinen Atem auf meiner Stirn. „Leider kann ich nicht dabei sein, wenn sie dir den Stecker rausziehen, also verabschiede ich mich jetzt schon bei dir und bedanke mich für den Spaß, den wir in den letzten zwei Jahren hatten. Du warst schön willig, so hättest du als Kind auch bleiben sollen. Still.“ Er setzt sich wieder hin, ich spüre, wie seine Körperwärme weniger intensiv wird. Er drückt auf einen Knopf, der Piepston soll wahrscheinlich eine Krankenschwester rufen.
Jetzt bloß nicht die Augen öffnen, du hast es bald geschafft, bloß still bleiben. Nur noch einen winzigen Moment. Ich höre Schritte, er ist bald weg. Die nackte Hand der Schwester berührt mein Gesicht und ich schreie auf wie ein Huhn, das gerupft wird. Mist, ich wäre fast in Sicherheit gewesen. Fast. Meine Augen sind weit auf, niemand spricht. Die beiden bleiben fassungslos stehen, als stünde Hitler Ukulele spielend im Zimmer. Die Schwester befreit sich aus ihrer Erstarrung und rennt aus dem Zimmer, um einen Vorgesetzten zu holen. Ich bin allein mit meinem Stiefvater im Zimmer. Stille herrscht, nichts wird gesagt, nicht mal die Vergangenheit wird ausgesprochen. Als stünde ein Fremder vor mir und kein Vergewaltiger. Auch wenn ich schreien wollte, würde kein Ton rauskommen. Er könnte ganz einfach über mich herfallen, mich erwürgen, doch wir sind in einem öffentlichen Krankenhaus und er tut es nicht. Stattdessen lächelt er mich an, lange und unangenehm, bis er Schritte hört. Da beschließt er, sich umzudrehen und zu gehen. Die Schwester und der Arzt, die ins Zimmer fast hineinstürmen, werden von ihm ignoriert. Wie ein Geist schlendert er den Spitalflur entlang, zwischen den Kranken verabschieden sich seine Schritte. Ob er wiederkommt? Das tun Schatten immer.
Das Beatmungsgerät wird aus meinem Hals entfernt, ich kann atmen. Grelles Sonnenlicht scheint mir ins Gesicht, seine Wärme taut mich langsam auf. Ich werde gesäubert, bevor man mir Fragen stellt und meine Reaktionsfähigkeit testet. Wie heiße ich? Wo sind wir? Weiß ich noch, was passiert ist? Die Stimme des Arztes ist beruhigend tief, er spricht langsam wie mit einem Kind. Wie ein Mensch, der Hilfe braucht, werde ich zwar behandelt, wie ein kaputtes Spielzeug fühle ich mich aber an. Ich kann auf keine der Fragen Antwort geben, nicht, weil ich nicht mehr weiß, dass wir in Berlin sind oder dass ich versucht habe, mich umzubringen, sondern weil ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Ich kenne diesen Körper nicht mehr und bin nicht mehr der Sprache mächtig. Auch wenn ich wollte, könnte ich den Leuten, die vor mir stehen, nichts mitteilen. Eine Wand aus Eis hat sich zwischen mir und meiner Umwelt gebaut, ich kann die Figuren hinter dieser Wand erkennen und doch nichts mit ihnen anfangen. Bin ich ganzkörperparalysiert? Ja, wahrscheinlich auch geistig. Ich beobachte, wie der Arzt jemanden per Telefon benachrichtigt. Wird er meiner Mutter sagen, dass ich noch lebe? Und wenn sie herkommt, was dann? Soll sie in Tränen ausbrechen vor Freude, dass ihr Kind einen Körper halbwegs noch bewohnt? „Können Sie mich hören, wenn ja, dann blinzeln Sie einmal.“, sagt der Arzt zu mir, nachdem er sein Telefonat beendet hat. Kann ich die Wand zum Schmelzen bringen? Was, wenn sie mich mehr fragen, sobald ich Antwort geben kann? Sie könnten mich nach meinem Stiefvater fragen und ich wüsste nicht, was ich sagen soll. Doch ich blinzle aus Reflex, der Drang nach Verbundenheit mit der Außenwelt ist jetzt wichtiger als meine Angst vor dem Ungewissen.
„Gut, Sie reagieren. Ihre Mutter ist auf dem Weg ins Krankenhaus, wir werden einige Tests mit Ihnen durchführen müssen. Sie sind jetzt in Sicherheit, haben Sie mich verstanden?“ Ich starre ihn an, blinzle einmal, denn sagen, dass es nicht so ist, bringt mir nichts.
Allein in einem leeren Zimmer, regungslos in falscher Sicherheit warte ich ab, welcher schlechte Scherz als Nächstes kommt. Wie kann eine Mutter reagieren auf ein Kind, das jenes Leben nicht wollte, das ihm geschenkt wurde? Wird sie entsetzt sein, gar schockiert, so wie ich es bin? Wird Freude durch ihren Körper strömen angesichts der Tatsache, dass nicht beide ihrer Kinder tot sind?
Ich tauche lieber in die Stille des Krankenzimmers mit meinen Gedanken, die Antwort ist auf dem Weg und ich gehe nirgendwo hin. Wie friedlich der Klang der Stille doch ist, regungslos gehen Qualen doch am ehesten vorbei. Ob Eric, mein Stiefvater, mich deswegen besucht hat? Damit mein Leid bittersüß über mich ergehen soll? Diese Gedanken stören schon wieder meinen Frieden, doch was will man tun, wenn der eigene Geist alles ist, was einem zur Verfügung steht? Man bleibt unter Schock, zählt die vielen runden Bällchen am Verputz und verzählt sich dann wieder.
Hier war kein Vergewaltiger, das hast du dir nur ausgedacht, weil du einen Gehirnschaden vom Sturz trägst, hier ist kein böser Mann, Mama, die haben nur gespielt. Hier gibt es keine Monster, nur Patienten, die lügen, sie sind ja krank und kranke Blicke trügen.
Summend balanciere ich mich zwischen Schlaf und Wachsein. Eins, zwei, drei, hier kommt die Polizei, vier, fünf, sechs, sieben, Flucht den Dieben, acht, neun, zehn, Papa sagt, er will mich sehen. Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern kann mich in Sicherheit wiegen, solange ich mag.
Zu früh gefreut, ich höre Schritte. Mutter ist da.
Sie sagt nichts, starrt mich nur an, fassungslos, als stünde sie vor einem Wunder. Ihr Herzschlag ist von meinem Bett aus spürbar. So verbunden waren wir zuletzt bei meiner Geburt. Sie muss mich nicht mal berühren, muss kein Wort sagen, dennoch fühle ich dieses uralte Gefühl von Heimlichkeit.
Ich sehe dich. Deine Taten und alles, was du mir sagen möchtest. Ich sehne mich nach deiner Hand auf meiner Wange, die mir Trost und Mut schenken soll. Mutter, mach nun Schritte auf mich zu und erlöse mich meines Leidens, verzeih den Hass, den ich einst hatte, ich mach es auch nie wieder.
„Frau Stätter, ich lasse Sie nun etwas allein, der Arzt wird später vorbeikommen, um mit Ihnen zu sprechen.“ Die Krankenschwester verlässt den Raum. Ich werde lang umarmt, die Tränen meiner Mutter befeuchten mein Haar, sie reinigen mich. Mutter seufzt ganz stark, ihr warmer Atem riecht nach Zimt, wie an Weihnachten.
„Ich kann nicht glauben, dass du aufgewacht bist, ich weiß nicht, was ich sagen soll, oh mein Gott, wir hätten fast, wir hätten fast … die Hoffnung aufgegeben.“ Ihre Tränen färben ihre Worte, während Mutter spricht. Was für ein sinnliches Bild die Liebe abgibt. Grell, intensiv, tiefgehend ist jeder Atemzug, den wir nehmen, weil wir jetzt beieinander sind, Mutter und Kind. Ich möchte wieder in der sicheren Gebärmutter sitzen. Warm, dunkel in den Verbunden zu einem anderen Lebewesen, zwei Körper in einem und dieses Mal werde ich richtig geboren.
Du wirst mich nicht mit einem fremden Mann betrügen, meine Sicherheit für deine Geilheit und Abenteuerlust auf Spiel setzen. Und ich werde im Gegenzug mit dem richtigen Geschlecht zur Welt kommen. Es wird keinen Streit zwischen dir und Vater geben und jeder Festtag kann gemeinsam gefeiert werden. Wir feiern weder Jesus noch die anderen Heiligen, sondern unsere Einigkeit.
„Frau Stätter, wir müssen einige Untersuchungen durchführen, tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, aber es geht jetzt gleich los, könnten Sie ins Wartezimmer gehen? Ich zeige Ihnen, wo es ist.“
„Natürlich, ist gut, ich komme gleich wieder.“ Mutter küsst meine Hand und sagt, dass sie bald wiederkommt. Das tut sie oft. Solange ich denken kann, verspricht sie mir, dass sie da sein wird. Mein Geist wehrt sich gegen die Vorstellung, sie könnte lügen und noch einmal gehen. Spannung staut sich im Magen an und klettert zu den Stimmbändern hoch, doch zum Schreien bin ich zu müde. Also schenke ich dir Glauben, Mutter, vielleicht aus Erschöpfung, vielleicht, weil du es verdienst, vielleicht, weil es leichter ist, so von dir getrennt zu werden.
Der Gestank von Desinfektionsmittel liegt zwischen uns, die Distanz wird immer größer. Die Fachleute schauen mich bemitleidend an und repetieren mir, dass wir das schon hinbekommen. Ich frage mich, was wir hinbekommen wollen. Werden wir meinen Körper wieder funktionstüchtig machen? Werde ich springen? Werde ich lachen? Können wir Eis essen gehen und wieder Karussell fahren? Dieses Mal springe ich nicht davon und breche mir auch nichts, ich verspreche. Ob Vater sich wundert, wo ich bin? Wenn er mich findet, verliere ich das Versteckspiel. Er gewinnt meistens, denn er weiß, wie sein Kind tickt. Er weiß es bestimmt. Er weiß, dass ich unglücklich bin, hier mit Mutter und Eric, telepathisch, ganz magisch. Ganz bestimmt, bestimmt. Vater kommt gleich und holt mich ab, er nimmt Mama mit und Eric lassen wir hier, der darf mit dem anderen Pfleger weiterarbeiten.
Wir fahren ans Meer und verbuddeln mich im Sand. In der kühlen Dunkelheit wird mein Körper zu Wasser und die Zellen bilden sich neu. Ein neues Gesicht, neue Haare, bessere Augen, ein größeres Lächeln, das meine Eltern zusammenhalten wird. Erstmal ausgebuddelt werden sie mich lieben.
Ganz bestimmt.
Ich werde bis zum Oberkörper in ein Rohr gesteckt, das Geräusch der Untersuchungsmaschine klingt wie eine sterbende Meerjungfrau, zumindest stelle ich mir das so vor. Ich muss meine Fantasie über die Realität stellen, um es hier auszuhalten. Wegrennen kann ich nicht, doch mein Geist kann mich forttragen. Eins, zwei, drei, atmen – eins, zwei, drei, atmen – eins, zwei, drei, atmen. Liegend auf meinem imaginären Meer, atme ich tiefer und tiefer in die Minuten hinein.
Tiefes, kraftvolles Blau umhüllt mich. Darf ich dieses Mal versinken, Mutter? Ganz sanft wird mir dann die Luft aus den Lungen entzogen, aber es kommt keine Panik auf. Hier im Reich der Fantasie gibt es keine Angst, keine Furcht und keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ich kann mit Haien schwimmen, ohne dass sie mich beißen, mit Kraken reden, ohne dass sie nach mir greifen. Ich kann hier das Kind sein, das ich nie sein durfte. Endlich darf ich auch krank sein.
Zwischen dem Geräusch der Untersuchungsmaschine – keine Ahnung, wie das Ding heißt, ist mir auch egal – und meiner idealen Welt kommen Erinnerungen auf. Wie viele Stunden habe ich damit verbracht, in einem Büro zu sitzen? Stundenlang habe ich auf der Tastatur gehämmert und mit jedem Schlag habe ich mich geweigert, in mich hinein zu hören. Doch die Schläge sind jetzt nach innen gerichtet. Ich kann eh nicht entkommen, also gebe ich mich hin. Der Hässlichkeit meiner Lebenserfahrung stehe ich gegenüber, denn ich wollte leben, stimmt.
Überraschenderweise sind nur die Erinnerungen an die Realität hässlich, den Rest meiner Gedanken mag ich, auch wenn sie lügen. Sie lügen für mich.
Komm, erzähl mir weitere Geschichten von schönen Landschaften, befehle ich meinem Gehirn. Spalte mich so oft, bis ich nur das Schöne in mir sehe. Lebensweisheit? Die ist egal. Erwachsen und selbstständig sein? Wollte ich denn das jemals wirklich? Ich erinnere mich an das Vorstellungsbüro der Anwaltskanzlei, in der ich gearbeitet habe, wie fest ich gelogen habe über meine Pläne und Ziele. Ich hatte nie vor, einen Fonds für arme Kinder zu errichten, es klingt so edel, wenn wir sagen, dass wir helfen wollen, als wären wir dann ein kostbares Mitglied der Gesellschaft. So kostbar und unentbehrlich, ja, solche Leute müssen wir einfach fördern, indem wir ihnen einen guten Job mit hohem Gehalt geben. Es ist völlig wurst, aus welchen Gründen wir Menschen wirklich helfen wollen, keiner kann meinen egoistischen Durst nach Ansehen und Anerkennung kennen. Nur ich kann es wissen, wie oft ich nur an mich selbst denke.
Die sterbende Meerjungfrau meiner Fantasie bringt den falschen Helden in mir um. Der Kopf wird abgebissen und ausgespuckt. Herrlich, diese Freiheit, die dir Wahnsinn gibt. Ich kann kein edler Ritter mehr sein, also bin ich es auch nicht. Nun darf ich das verdorbene Wesen sein, das ich immer schon war, denn ich bin krank – sieht man doch. Nur wissen die anderen nicht, was genau mit mir nicht stimmt, ob es der Körper oder die Seele ist. Um ehrlich zu sein macht’s mir keinen Unterschied, als ich mich noch bewegen konnte, war die Seele schon in Trümmern.
Der erste große Riss passierte, als mein Stiefvater bei uns eingezogen ist. Den Platz meines Vaters wollte er einnehmen, mir sagen, was gut und böse war und wieso Linkshänder in die Hölle kommen. Eines Tages war ich allein zuhause und beschloss, mich in Mutters Kleiderschrank auszutoben. Ich probierte die Pelzmäntel, den Schmuck, einfach alles, einmal an. Ich war Whitney Houston in Bodyguard, Glamours und in Gefahr. Eric kam von der Arbeit im Spital früher nachhause und schickte die Nanny nachhause. Er ertappte mich. Der Blick, der mich traf, war schärfer als eine Peitsche, doch die Taten, die folgten, brannten umso mehr.
„Ab in den Keller mit dir!“
Er zog mich aus und sperrte mich ein im Dunkeln. Im finsteren, kalten Keller drohte er mir, meiner Mutter zu sagen, was ich getan hatte und mich wegzugeben oder für immer im Keller einzusperren. Verrotten könne ich, falls ich es jemals wieder wagen würde, mich wie eine Schwuchtel aufzuführen.
Stunden vergingen und kamen mir vor wie Tage. Nackt und verzweifelt verfluchte ich meine Mutter, meinen Körper und jeden Augenblick mit diesem Manne. Ich trat aus Versehen in eine Pfütze am Boden und blieb dort stehen. In der Panik stellte ich mir vor, das sei der Ozean und ich ein Delfin, der drin schwimmt. Eine kleine Ewigkeit verbrachte ich Zeit mit den Meeresschildkröten und tanzte mit den Fischen.
Irgendwann kam er wieder, gab mir Kleidung und sagte: „Zieh dich an, deine Mutter kommt gleich. Ein Wort und du bist weg.“