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Nun tanze ich wieder mit den Fischen im Netz, nur dieses Mal kann ich nicht weg.
Ein Pfleger kommt auf mich zu und sagt, die erste Untersuchung sei jetzt vorbei.
Blutentnahme, Röntgenbilder, Blutdruckmessungen, alles wird arrangiert für den braven Patienten. Wie dieses Wunder entstanden ist, mein Aufwachen meine ich, kann sich keiner der Experten erklären. Es ist schon mal klar, dass ich eingeschränkt bin, keinen Ton und keine Bewegung gebe ich von mir. Als würden die Ärzte einen Eiszapfen kontrollieren. Einen Eiszapfen, den sie fast zum Schmelzen gebracht und dann den Abfluss runtergespült hätten. Doch jetzt, da ich selbst atmen und zwinkern kann, geht das nicht. Herrlich, das Minimum an Affront und schon dem Tode entwichen. Und das zum zweiten Mal.
Ich bin wieder in meinem Krankenzimmer, die Vorhänge sind zu, damit kein starkes Licht hineinströmt und uns blendet. Der Arzt redet mit Mutter, er erklärt ihr, dass dieses plötzliche Aufwachen ein Wunder sei und sie sich selbst nicht erklären können, wie das geschehen konnte. Siehst du, Mutter, nun bin ich ein Wunderkind.
„Wir müssen abklären, wo und wie Ihr Sohn in Zukunft gepflegt werden soll. Es ist klar, dass er das Leben lang beeinträchtigt sein wird. Seine Werte liegen zwar gut, doch das Knochenmark ist völlig abgezweigt. Ob die betroffenen Gehirnregionen sich jemals völlig erholen, ist sehr fraglich.“
Sie reden, als wäre ich nicht da und in gewisser Weise bin ich es auch nicht. Wie ein Neugeborenes fühle ich einfach um mich herum. Die Sorge meiner Mutter, ihr verzweifeltes Alleinsein mit dieser Situation und das distanzierte Mitgefühl der Ärztin liegen auf mir wie Beton. Wehren tue ich mich kein bisschen, wie denn auch? Atemzug für Atemzug lasse ich diese Stimmung auf mir weilen.
Ich kann nur zusehen, wie schwer dieses Leben ist, wie eine Fliege an der Wand. Werten will ich aber nicht, denn schlussendlich wollte ich es. Ich wollte leben, sage ich mir immer und immer wieder. Schau, sie sorgen sich um dich. Du wirst gefüttert und gewaschen, gehegt und gepflegt. Alles hier dreht sich um dich, sei doch dankbar. Schlussendlich könnte ich tot sein und nichts von alledem mitbekommen. Wie sehr meine Mutter mich braucht, für ihr eigenes Glück, auch wenn ich ihr nichts dafür geben kann. Ich bin wahrlich nochmals geboren, und dass die Ärztin mich Sohn genannt hat, macht mir nichts aus. Es ist nicht wichtig, welchen Körper ich für dieses zweite Leben gewählt habe, ich kann ihn eh nicht spüren. Einen zweiten Namen? Egal.
Sie haben nun fertig geredet und Mutter schenkt mir endlich ihre Aufmerksamkeit. „Tom, wir werden uns gut um dich kümmern, ich verspreche es dir. Wir werden alles daransetzen, dass es dir so gut wie möglich geht. Ich weiß nicht, wie, aber ich weiß, dass es so sein wird.“
Ihre Stimme ist so sanft wie damals, nachdem ich zur Polizei gegangen bin. Sie versprach, nachdem die Autoritäten Eric mitnahmen, das gleiche. Dass ich für meinen Mut belohnt werden solle und niemand mehr uns schaden könne und dass es uns gut gehen würde. Von diesem Moment an sollte ich häufiger auf das Märchen der Sicherheit reinfallen. Immer und immer wieder kam es dazu, dass sie die Schatten um uns herum einfach ignorierte, auch nachdem wir vom Gericht aus von Eric sicher waren. Ich war es stets, der Behutsame, der Aufpasser, der Beschützer. Ich allein, wird es dieses Mal anders sein?
Kann ich es mir leisten, daran zu zweifeln, dass Hilfe kommen wird? Bin ich geistig reich genug, um daran zu denken, hilflos zu sein? Wie sehr möchte ich meine Ängste jetzt mitteilen, selbst ein Säugling kann schreien, doch mir bleibt nur das Zwinkern. Also, Mutter, hier hast du mich, mein volles Vertrauen, entweder das oder ich spalte mich in tausend Stücke vor Angst.
Mir kullern die Tränen von den Wangen, Mutter wischt sie mir ab, bevor sie zu Boden fallen, und sagt mit sanfter Stimme: „Weine ruhig, mein Kind, weine, lass alles raus. Ich bin hier.“
Welch Erlösung, weinen zu dürfen, ich möchte nie mehr aufhören. Das ganze Zimmer soll überflutet werden, bis wir alle drin schwimmen können. Ein kleiner Ozean, in dem wir alle sicher uns treiben lassen dürfen und wenn wir genug haben, ertrinken wir einfach.
Irgendwann hört man auf zu weinen und schwimmt an der Oberfläche der eigenen Gedanken. Ganz still und friedlich, denn man spürt nichts mehr, was einen aufhält, einfach zu sein.
Meine Mutter spricht nicht, sie streichelt mir einfach über das Haar. Mein Haar, das viel zu kurz ist, empfängt all die Wärme, die ich in diesem Moment brauche. All die Zuneigung, die ich mir erhofft hatte, wird mir gegeben. Also trinke ich sie Schluck für Schluck, als wäre sie Milch von der Brust.
Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, ist mir auch egal, wenn ich mich damit ablenke, wie schnell mir meine Sicherheit genommen wird, schwelge ich wieder in Kummer und Not. Klammere dich fest an diesen einen Moment, erlaube ihn voll und ganz, so hast du Reserve, sobald der Richter der Zeit entschieden hat, dass es nun vorbei ist.
Und siehe da, der Hammer wurde geschlagen, die Zeit der Besuche nähert sich dem Ende. Wenn ich doch bloß schreien könnte, um meine Mutter an mich zu fesseln. Doch ich kann nicht, sie wird gebeten, zu gehen, ich müsse die nächsten paar Tage hier bleiben zur Beobachtung. Ein wenig wie ein Tier im Zoo oder ein Experiment, das Daten liefern soll. Es gibt organisatorisch viel zu tun, wo ich hinkommen werde, wer sich um mich kümmern soll, wie oft, Zeitmanagement, Kosten und so weiter. Das alles liegt jedoch außerhalb meines Einflusses. Ich werde keine Entscheidungen mehr treffen und nichts mitbestimmen. Ein Zeuge der Ereignisse, die um mich geschehen, das bin ich geworden und mehr kann ich nicht.
„Morgen komme ich wieder.“, sagt Mutter, mein Herz kann nicht anders als vor Panik zu rasen. Morgen? Wie lange geht das? Toben müsste ich jetzt, aber nein, meine Lage verbietet mir einfach jegliche Form des Ausdrucks. Bin ich eigentlich noch ein Mensch? Was bringt mir dieses neue Leben, wenn ich nicht antworten kann und reagieren? Was bedeutet es, zu sprechen, wenn niemand dir eine Antwort geben kann? Wieso wollte ich nochmals zurück, gefangen in einer Situation, in der ich gefangen bin. Noch gefangener in einem Körper, den ich nie wollte.
Mutter verlässt das Zimmer und ich stehe vor einem Entscheid. Ich kann mich gefangen fühlen oder aufgehoben, gefesselt oder befreit. Denn schlussendlich bin ich befreit von jeglicher Verantwortung und Druck, irgendwie oder irgendwas zu müssen? Ja, dieser Gedanke fühlt sich gut an, halte dich daran fest. Ich bitte die Engel der Vernunft, mir mehr davon zu schicken und mich auf diesem Weg zu bewahren. Einem Teil von mir sind die guten Gedanken aber völlig egal. Dieser Teil rennt durch meinen Schädel und schreit, tobt und bebt. Diese Emotion, die durch die Reibung meiner Gedanken generiert wird, kann ich einfach nicht aufhalten. Ich benenne dieses Gefühl Panik, keine Ahnung, ob es der richtige Begriff ist, Worte sind zu limitiert, um diese interne Bewegung der Psyche festzuhalten.
Atmen, das kann ich, die Angst aus mir hinaus atmen, das muss ich. Aus allen Poren, mit jeder Faser meines Wesens. Der Raum um mich herum wird kleiner und kleiner, bis er meine Stirn erreicht, er berührt meine nassen Hände, umarmt jeden Schweißtropfen, der mir auf der Haut entlang hinunter kullert.
Ein, aus, ein, aus, ein und aus. Dieser Mechanismus, den kann ich noch beeinflussen, so stelle ich mir ein wenig die Geburt vor. Die Schmerzen sind so stark, dass du es nicht aushältst, also bleibt dir nichts anderes übrig als zu atmen und mit dem Schmerz mitzugehen. Weiter geht’s, alles dreht sich, die Erde bebt so stark, dass die Wände gleich einstürzen, als wären sie aus Sand gemacht.
Mitten in meinem Sumpf der Ängste höre ich eine Stimme. „Gib dich hin, voll und ganz. Lasse dich toben und schreien, du verletzt niemanden damit. Lasse deiner Not freien Ausdruck, deine Stimme wird erhört. Geh weiter in die Panik hinein, immer tiefer und tiefer, du hast nichts mehr zu verlieren.“
Ich folge diesen sanften Worten und lasse mich im mentalen Treibsand versinken. Stück für Stück werde ich verschlungen. So viele Teile meines Wesens werden abgeschliffen, alle, die diesen Weg nicht gehen wollen, sterben hinweg. Ich staune, wie nahe Tod und Leben sind, als würden diese Gegensätze gerade tanzen. Die Führung wechselt ab, mal du, mal ich. Zusehen kann ich nur diesem Spektakel an Verzweiflung und Erlösung, das in mir stattfindet.
Immer weiter, immer tiefer, immer präziser gebe ich mich dem Gefühl meiner Furcht hin. Ich hasse diesen Körper seit meiner Geburt. Er ist mir kein Spiegel, sondern ein Fischernetz, das mich zappeln lässt. Seit ich sechs bin, denke ich: „Ach, dürfte ich bloß ein Mädchen sein und eines Tages Leben in mir gebären.“ Ich hasse diesen Körper, weil er mir die Freiheit nimmt, das, was ich bin, auszudrücken. Ich hasse diesen Körper, der wie eine zu enge Schale meinen Geist umschließt. Ich hasse ihn, weil er mir weh tut, auch wenn ich ans Bett gebunden nichts mehr spüre.
Dieser Hass, er brennt wie Feuer und zum ersten Mal darf ich alles niederbrennen, statt es zu unterdrücken. In diesem Gefängnis aus Fleisch und Blut erlebe ich die Freiheit, zu hassen, mit voller Wucht. Keine Predigt der Liebe kann mich aufhalten, niemand soll mir sagen, ich solle nicht so empfinden, kein Gott, kein Staat, kein Nachbar. Verbrenne mich, wandle mich zu Asche, bereinige mich, du Zorn in mir. Alle Stimmen, die mich bis dahin aufgehalten haben, sind jetzt still. Sie wurden im Treibsand erstickt.
Lachen, ich muss lachen. So nahe am Wahnsinn war ich noch nie. Fast wie eine Achterbahn fährt dieser Zustand durch mich hindurch. Hoch und tief, rechts und links und kopfüber, dabei habe ich mich keinen Zentimeter bewegt.
Nach einer Weile der Ruhe passiert etwas. Gradual, ganz langsam, spüre ich, wie etwas in mir aufsteigt. Wie ein kleines Licht schießt ein Wort aus meinem Munde.
„W-w-wass-eer …“
Mein erster Laut seit langem erlischt die Brandreste meines Zorns.
Die Krankenschwester … sagt man das eigentlich noch, Krankenschwester? Ist das nicht beleidigend oder so? Naja, die Pflegerin kommt, um nach mir zu schauen. Endlich etwas menschlicher Kontakt. Sie sieht, dass der Blutdruck zu hoch ist und dass ich ganz nass bin. Ihre Miene wird ernst.
„Was ist denn bloß los?“, fragt sie, als könnte ich eine präzise Antwort geben. Wie respektvoll und beleidigend zugleich. Sagen möchte ich, dass ich gerade am Krepieren bin, an Panikattacken werde ich hier auf diesem Bett sterben. Aber aus meinem Mund kommen nur die Laute „W-waa-ss-eer“ heraus.
Die Pflegerin schaut mich an, als hätte sie einen Hund miauen hören. Ganz erstaunt starrt sie mich an und gibt mir Wasser zum Trinken. Das mit dem richtig Schlucken habe ich anscheinend verlernt, wie ein Baby mache ich mich voll. Durst habe ich eh nicht, also ist das weniger schlimm, ich werde trocken gemacht.
Na los, worauf wartest du? Trockne mich ab! Ich kann nicht. Schon ironisch wie ich früher innerlich immer gegen alles rebelliert habe, was ich autonom hätte machen sollen. Mich waschen, pflegen, nach draußen gehen und so weiter. Dieses widerspenstige Gefühl habe ich stets ignoriert. Ich konnte, also musste ich. Das Leben lang wurde ich so gepusht, ich wollte nie der Mann im Haus sein oder werden. Aber die Umstände ließen es nicht anders zu. Wer hätte Mutter vor ihrem gewalttätigen zweiten Ehemann geschützt? Niemand, nicht mal Vater, der jetzt auch nicht hier ist. Und auf einmal muss ich auf diese kleine Stimme hören, die nichts, aber auch gar nichts machen will. Denn ich kann nicht, du musst für mich.
Die Pflegerin geht raus, sie wird wahrscheinlich einem Arzt sagen, dass ich sprechen kann. Also sprechen ist übertrieben. Ich stottere eine Silbe nach der anderen und das nur mit einem einzigen Wort. Aber hey, für einen Suizidversuch-Überlebenden schon mal ein Anfang. Das Personal hier wird sicherlich ganz verblüfft sein. Wollt ihr mich aufnehmen? Mein erstes Wort: Jippie, Freude soll herrschen, es ist weniger verloren gegangen als man dachte.
Wie fest wir Menschen uns an alte Lebensweisen festklammern. Wir würden doch jahrelang über ein kaputtes Milchglas weinen und versuchen, die Scherben zusammen zu kleben, um die Milch wieder da hinein zu bekommen. Wir trauern so gerne, so lange und so intensiv über das, was war und was gewesen hätte sein können. Lächerlich das Ganze, wie viel Zeit ich damit verschwendet habe, zu weinen. Vielleicht repetiere ich darum das Wort Wasser immer und immer wieder. Ich hatte eine Flut in mir. Kommt, liebe Pfleger und Pflägerinnen Ärzte und Ärztinnen, ertrinkt in meiner Trauer. Lasset uns baden und planschen, als wären wir alle gemeinsam am Meer. Meinem Meer. Da gefällt es mir besser als hier. Wir sind alle dort und machen Urlaub, vergessen den Alltagsstress. Wir spielen Strandspiele, sonnen uns, bis wir rot sind wie Tomaten und gehen nie mehr nachhause.
Zuhause gibt es keine Spiele, kein Meeresrauschen, kein Lachen. Dort gibt es nicht mal das Weinen, denn Weinen ist lächerlich. Auf keinen Fall darf man zuhause Gefühle zeigen, sonst wird man im Keller eingesperrt, bis man keine mehr hat. Wenn man erstmal gesäubert ist von dieser Plage, dann, erst dann darf man wieder raus.
Doch am Meer gelten andere Regeln, es waren noch andere Zeiten. Damals, in der Zeit vor meinem Stiefvater, gingen wir einmal im Jahr dorthin, während des Sommers im Süden. Wir durften lachen und laut sein. Ich konnte tanzen und mich drehen, bis mir schlecht wurde. Also reise ich in meinem Geist wieder dorthin und bleibe für immer dort. Egal, wie lange das ist. Egal, wie lächerlich ich bin.
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