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Spekulanten kaufen Vermögenswerte, Häuser, Grundstücke und werden reich. Sparer verlieren nach und nach ihre Ersparnisse durch Geldentwertung und werden arm.
Im Jahr 1918 beträgt der Wertverlust auf 100 Mark gegenüber dem Vorjahr 26 Mark, die Mark ist also gegenüber 1917 noch 74 Pfennig wert, 1921 noch 35 Pfennig. Wer einen Dollar kaufen will, bezahlt 1918 vier Reichsmark und zwanzig Pfennige. 1921 kostet ein einziger Dollar bereits 270 Mark. Im Jahr 1923 wird ein einzelner Dollar 4,21 Billionen Reichsmark kosten, die Mark wertloses Papier sein, Papier zum Ofen-Anzünden, Spielgeld für Kinder!
Theos Chef lässt seine Mitarbeiter kommen. Sie treffen sich eines Morgens im „Zuschnitt“.
„Kollegen“, beginnt der Chef, „noch seht ihr an den Wänden die Häute hängen, die gegerbten und gefärbten Leder. Noch habt ihr hier den altbekannten Ledergeruch um euch und in der Nase. Ihr lest Zeitung und wisst, was ‚Seeblockade der Engländer‘ heißt. Ich kann das meiste Material, das wir bisher aus dem Ausland bezogen haben, nicht mehr beschaffen. Import-Verbot für alle ausländischen Waren heißt das. Es gibt zwei Möglichkeiten: den Betrieb schließen oder verlagern. Um es kurz zu machen, ich werde in die Schweiz verlagern.“
Fendler, der Chef, steht am Kopf des langen Zuschneide-Tisches, neigt sich leicht nach vorn, fährt sich mit den Händen durch die Haare, stützt sich mit beiden Fäusten auf den Tisch und schaut seine zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Reihe nach an. Seine Leute stehen hohlwangig, mit grauen Gesichtern wie versteinert vor ihm, Arme und Hände herab hängend wie nutzlos gewordene Werkzeuge. Es ist grabesstill im Raum.
„Ich weiß. Das klingt schlimm“, bemerkt Fendler abwartend. „Aber es gibt Hoffnung: Wer mitgehen will, kann mitgehen. Drei Häuser für sechs Familien werden in der Nähe des neuen Betriebsgeländes bereitstehen. Ja, ich war da, hab’ mir alles angesehen. Die Bedingungen sind gut. Die Kinder können dort die Schule besuchen. Die Schweizer sprechen etwas merkwürdig und sind schwer zu verstehen, Schwiezer Dütsch, Schweizer Deutsch, aber das lässt sich lernen. Natürlich müsst ihr erst mal drüber schlafen und zu Hause alles bereden. Dennoch vorab: Wer von euch würde voraussichtlich mitgehen?“
Eine große Bewegung entstand unter den Frauen und wenigen Männern. Viele Männer der hier anwesenden Frauen, zuvor bejubelte Soldaten in schneidigen Uniformen, waren nun, verunstaltet und demoralisiert, von der Front heimgekehrt, den Frauen und Kindern zu Hause oft eine Last. Sie fanden keinen Platz mehr im zivilen Leben. Ruhm und Ehre für ihre beschädigten Körper und Seelen blieben aus. Sie waren mit einzubeziehen.
Alle Finger gingen nach oben.
Als im März 1919 Theo mit Elise, Harald, der dreijährigen Minna und dem Baby Udo in die Schweiz umzogen, waren einige Familien schon dort und erwarteten sie. So hörten sie neben dem neuen Schwiezer Dütsch zu ihrem Trost auch den Dialekt ihrer schlesischen Heimat.
Die dreijährige Minna glaubte, sterben zu müssen, als es hieß, sie müsse sich von ihrer geliebten Emma trennen. Als die Familie in Kreuzlingen das Schiff bestieg, tanzte sie auf dem Schiffsdeck und trällerte fröhliche Lieder. Die Leute hatten Freude an diesem munteren kleinen Mädchen.
Später erzählte sie ihren eigenen Kindern und Enkeln, sie tanzte und sang gegen ihren Schmerz, ihre grenzenlose Verzweiflung an. Sie war so unglücklich, dass sich auch später noch bei der Erzählung dieses Ereignisses ihre Augen mit Tränen füllten. Ebenso litt Emma. Am ersten Tag nach dem Wegzug ihrer Familie fand sie sich in der leeren Wohnung wieder. „Ich hatte nicht einmal mehr einen Spiegel“, erzählte sie. „Ich hatte mein Bett, meine Zither und meine Laute.“ Auch diese Erinnerung trieb ihr noch nach Jahrzehnten Tränen in die Augen.
Ihr wurde bewusst, mit dem Wegzug ihrer Familie hatten ihre Kindheit und Jugend ihr Ende gefunden.
Aber das Leben würde weitergehen, wenngleich das Wie im Augenblick noch völlig im Dunklen lag.
5. Kapitel
Gustav möchte sich selbständig machen
Eine Woge von Glück durchströmte Gustav auf dieser Fahrt in seinem ersten eigenen Kraftfahrzeug. Die Strecke hatte er in seinem Atlas immer und immer wieder studiert. Wie werden die Wege sein? Und ein Sommergewitter mit Sturm und Hagel wünsche ich mir auch nicht, erwog er flüchtig. Er war angespannter, als ihm lieb war. Andererseits fühlte er sich wie ein Ordensritter auf dem Weg in den hohen Norden. Aber ich habe mehr Pferdestärken und komme schneller voran, dachte er frohgemut und straffte stolz seine Brust. Sein Meister hatte ihm eine Woche Zeit gegeben für sein ostpreußisches Abenteuer. ‚Gustav, jetzt zeig, was in dir steckt. Blamier dich nicht. Deine Familie will stolz auf dich sein‘, feuerte er ihn an.
Während er über die Landstraßen ratterte, sah er in Gedanken seine Familie beim Abschied, wie sie hinter ihm hergewinkt hatten: Hermine mehr sorgenvoll als zuversichtlich. Paul enttäuscht, weil er Papa nicht missen mochte. Arthur missgelaunt, nicht mitreisen zu dürfen. Und Ilse traurig, eine Woche lang nicht auf Papas Schultern Huckepack reiten zu können.
Sein Auto machte viel Lärm. Neben dem Knattern des Motors, ähnlich der großen Nähmaschine seiner Mutter, rumpelten die Räder durch Bodenwellen oder Schlaglöcher. Seine Sitzfläche machte alle Hopser mit. Ein bisschen wie auf dem Pferdefuhrwerk von Onkel Kunibert, dem Wagen mit den eisenbeschlagenen Holzrädern, erinnerte sich Gustav. Steine schlugen gegen die Bodenfläche. Sand rieselte schmirgelnd unter die Kotflügel. Gustav war von den neuartigen Lauten verunsichert. ‚Ob das alles so seine Ordnung hat, was ich höre und spüre?‘, fragte er sich wiederholt. Oder nahte die erste Panne? Sein Lieferant hatte ihm vorgeführt, wie und mit welchem Werkzeug ein Reifen zu wechseln sei. Als Handwerker wusste er, dass erst das praktische Tun die Sicherheit bringt. Und was, wenn der Sprit ausgeht, die mitgenommene Kanne nicht ausreicht und weit und breit keine Tankmöglichkeit in Sicht? Gustav schalt sich einen Jammerlappen und musste über diesen Ausdruck lachen. ‚Wenn der Topp aber nu een Loch hat, lieber Heinrich, lieber Heinrich‘ , würde sein Vater jetzt vergnüglich singen, wäre er mit von der Partie!
Er fuhr vorbei an weitläufigen, frischgrünen Getreidefeldern, üppig blühendem Mohn, Margueriten und Kornblumen an den Feldrainen. Die Linden und Kastanien der Alleen waren duftig ausstaffiert vom hauchzarten, hellen Frühlingsgrün ihrer jungen Blätter. Hoch stand das Gras der Böschungen zu beiden Seiten der Fahrbahn, durchwirkt von weißen Schleiern blühenden Kerbels. Hin und wieder passierte er einen einzelnen Weißdornstrauch, wie eine Braut in Weiß gehüllt oder eine ganze Gruppe solcher weiß gewandeter Weißdornbräute, einen sanft ansteigenden Wiesenhügel gefällig auflockernd. Auf den Weiden, eingefasst von Zäunen, die Drähte an dicken Holzpfosten mit Krampen befestigt, weideten Herden von Stuten mit ihren Fohlen. Der Geruch der Tiere, der durch sein geöffnetes Wagenfenster zu ihm drang, mischte sich mit dem ungewohnten Mief seiner Benzinkutsche. Auf anderen Wiesen grasten braune oder schwarzbunte Kühe, zwischen ihnen hoheitsvoll stolzierende Störche, mit dem Kopf gewichtig nickend, den langen roten Schnabel auf der Suche nach Fröschen geübt als Werkzeug nutzend. Hin und wieder erspähte Gustav einen Fuchs, unberührt von dem Knattern seines Autos bei seinem Mäusesprung oder behutsam geduckt durch eine Wiese schnürend. Was für wohltuende Landlaute, dachte Gustav, nun seit Jahren das unruhige Leben der Großstadt Breslau gewöhnt: das behagliche Brummen der Kühe, das friedliche Klappern der Storchenschnäbel und der mannigfache Gesang der Vögel. Die melodischen Stimmen der Amseln, den zwitschernd-flötenden Gesang der Grasmücken und deren warnendes ‚Teck-Teck‘ kannte er von seinem Heimatdorf in Sachsen.
Dieses ostdeutsche Land habe die Kraft, das ganze deutsche Reich mit seinen 62 Millionen Einwohnern ausreichend zu ernähren, hatte er in seiner Zeitung gelesen. Die Felder mit ihren gewaltigen Ausmaßen zogen sich weit über den Horizont, nur hier und da durchbrochen von einer Waldung aus Fichten oder Kiefern. Er hätte gern den penetranten Mief seiner Benzinkarosse abgedreht, um intensiver den Duft der Felder und Tiere einzuatmen.
Langsam fuhr er durch kleine Dörfer, um in sich aufzunehmen, was er sah: Auf zahlreichen Dächern Wagenräder mit Storchennestern, gebaut aus kleinen Zweigen und Stroh. Mit Schnabelgeklapper grüßende Adebar-Eltern, andere mit Fröschen für ihre heranwachsenden Jungen im roten Schnabel. Eine Dorfidylle wie aus Ilses Kinderbilderbuch, dachte Gustav wunschlos und beschwingt. Weiter ging seine Holperfahrt über ausgefahrene Landstraßen vorbei an einzeln stehenden Bauerngehöften oder Dominien von Großgrundbesitzern, eingebettet in Felder, die Dächer zwischen Bodenwellen zuweilen kaum sichtbar. Hin und wieder forderte ein kleiner Eisenbahnzug mit lautem Tut-Tut seine Aufmerksamkeit, und Gustav hielt vor dem Bahnübergang, durch voraufgegangene Hinweise ‚unbeschrankter Bahnübergang‘ vorgewarnt. Durch seine Landkarte wusste er, dass manche dieser Züge über Nebenstrecken auch sehr kleine Dörfer anfuhren.
Der sanfte Wind drang wohltuend durch das Seitenfenster, willkommene Kühlung an einem warmen Tag. Sein Gesicht glühte von den Bildern der Landschaft, seine blauen Augen leuchteten, das blondes Haar, morgens noch sorgfältig seitengescheitelt, war vom Fahrtwind verwirbelt. Zuweilen lachte Gustav in sich hinein und malte sich aus, wie er eines Tages all das Schöne gemeinsam mit seiner Familie erleben würde.
Am Spätnachmittag, die Bäume warfen schon lange Schatten, erreichte er Allenstein. Bevor er seinen alten Schulfreund aus Großröhrsdorf, ihrer gemeinsamen Sächsischen Heimat, aufsuchte, fuhr er im Schritt-Tempo durch den Ort, um die Stadt auf sich wirken zu lassen. Er passierte das Hohe Tor, malerisch in Backstein-Gotik und offenbar Teil einer ehemaligen mittelalterlichen Stadtmauer, die Jakobi-Kirche mit ihrem eckigen Turm und seinen zahlreichen weißen Fensteröffnungen oder Zierfenstern, das Ordens-Schloss, wehrhaft gleich einer Burg sowie das markante Viadukt, das zusammen mit Stadttor und Jakobi-Kirche auf Arnos Postkarte abgebildet war. Gustav war zwar abgespannt von der für ihn ungewohnt langen Strecke im eigenen Auto, dennoch weckte die von Backstein-Gotik geprägte eindrucksvolle Architektur der Stadt seine müden Lebensgeister und entzündete erneut die Entdeckerfreude und Neugier vom frühen Morgen seiner Reise.
Gustav wurde von Arno, dessen Frau Lore, dem zehnjährigen Sohn Johannes und der siebenjährigen Tochter Hilde erwartet, als er bei ihnen klingelte. Die Familie hatte sich für den Gast sonntäglich gekleidet. Besuch empfingen sie eher selten. Die beiden Freunde hatten sich seit Verlassen der Schule vor 25 Jahren nicht mehr gesehen, da Arno gleich im Anschluss an die Schulzeit in einem entfernteren Ort seine Schreinerlehre aufnahm. Jeder der beiden war deshalb verblüfft und belustigt, statt des erinnerten Bildes eines Schulknaben einen gestandenen Mann im Alter ihrer damaligen Eltern vor sich zu sehen.
Arno hielt Gustav mit ausgestreckten Armen von sich, um ihn lachend zu betrachten: „Wie es scheint, sind wir beide älter geworden, alter Junge“, begrüßte er seinen Gefährten aus Kindertagen herzlich. Vor sich sah Arno einen mittelgroßen zähen Mann mit schmalem, markantem Gesicht, indianerhaft ledern und gebräunt, leuchtend und gutaussehend, wie er den Schulfreund in Erinnerung hatte. Arno sah noch aus wie damals: Lausbubenhaftes Pausbackengesicht mit Grübchen und vollen Lippen, nur jetzt ein älter gewordener Lausbub, mit schwieligen Händen, groß ‚wie Musterkoffer‘, wie Gustav lachend feststellte. Dann lagen sich die beiden in den Armen, beklopften gegenseitig ihren Rücken und fühlten sich wohl bei dem vertrauten Anblick und Geruch des ehemaligen Weggenossen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen, Lore hatte Königsberger Klopse mit Klößen aus rohen und gekochten Kartoffeln und Blaukraut zubereitet, als Nachtisch Kompott aus gedünsteten Waldbeeren mit einem Häubchen geschlagenem Quark, zogen sich die beiden Männer zurück.
Gustav war zwar müde von der Reise, wollte aber noch am selben Abend einen ersten Eindruck von der zum Verkauf stehenden Baustoffhandlung gewinnen.
Sie fuhren mit Gustavs Wagen zum Stadtrand. Das Anwesen lag frei nach allen Seiten, umgeben von Ackerland und einer kleinen Waldgruppe am Horizont. Die nächsten Nachbarhäuser zur Stadt hin standen ausreichend entfernt, um auch dann unbehelligt zu bleiben, wenn Laster der Baustoffhandlung Waren anzuliefern oder abzuholen haben würden. Bei näherem Hinschauen nahm Gustav diese Details wahr: ein verwahrlostes Wohnhaus mit anscheinend gutem Zuschnitt, eine ebenso verwahrloste Lagerhalle, ausreichend groß mit noch brauchbarem Material, Bohlen, Dielenbrettern, Dachlatten, Fliesen, Dachpfannen oder Klebstoffe unter zentimeterdicker Staubschicht sowie einen völlig verwilderten Garten mit alten Bäumen, der ihn an das Dornröschenschloss im Märchenbuch seiner Tochter Ilse erinnerte.
Der Besitzer des Anwesens mit seinem schlohweißen, dünnen Haar, wohl um die 80 Jahre alt, hatte, wie er, auf einen Stock gestützt und vornüber geneigt, erzählte, in den letzten zwei Jahren seit dem Ableben seiner Frau allein hier gewirtschaftet. Gustav übersah schnell, dass der alte Mann, hilflos lächelnd und schulterzuckend, vom Anblick seines heruntergekommenen Besitzes offensichtlich überaus beschämt, von der Fülle ungetaner Arbeit vollkommen überfordert gewesen sein musste. Er erkannte aber gleichzeitig, dass er, Gustav, mit ein bis zwei Leuten in überschaubarer Zeit hier Ordnung schaffen und aus einem verwahrlosten Handwerksbetrieb einschließlich Wohnhaus und Garten ein ansehnliches Anwesen gestalten würde. Er kannte sich, hatte Kraft, konnte nicht nur arbeiten wie ein Pferd, sondern fand darin Lebenssinn und Erfüllung. Der Wust, den er vor sich sah, ließ sein Blut freudig in Wallung geraten. Am liebsten würde er gleich jetzt die Ärmel hochkrempeln und loslegen.
Er hatte sich bereits entschlossen, zu erwerben, was er sah, würden die Bedingungen für ihn und seine Familie verkraftbar sein. Zwar hatte er Geld gespart, würde aber einen Bank-Kredit aufnehmen müssen. Arno hatte bei diesem Thema angedeutet, bei Bedarf für ihn zu bürgen. Zudem waren Haus, Gewerbegebäude und Grundstück als Sicherheiten vorhanden.
Am nächsten Morgen, ausgeruht und nach einer kräftigen Roggenschrotsuppe mit einem Schuss frischer Milch und einer Quarkschnitte zu einer Tasse Gerstenkaffee, begaben sich die beiden Jugendfreunde zu dem Besitzer und konnten die Räume von innen erkunden. Auch im Inneren zeigte sich, wie erwartet, dass viel zu tun sein würde, aber die Räume waren gut geschnitten, zwei kleine Kinderschlafzimmer, ein etwas größeres Elternschlafzimmer, eine große Wohnküche, das Ganze unterkellert mit Waschküche und zwei Vorratsräumen, und überwölbt von einem Spitzboden zum Trocknen von Wäsche, Obst oder Pilzen. Die Bausubstanz war einwandfrei, sodass sich die Aufwendungen für eine Renovierung in einem annehmbaren Rahmen bewegen würden. Der Preis, den der Besitzer nannte, lag unter dem von Gustav kalkulierten, sodass der alte Mann und Gustav vorläufig handelseinig wurden. Vor einer endgültigen Zusage wollte Gustav unbedingt mit Hermine reden und sie für seine bisher für sich behaltenen Pläne gewinnen.
Als der geschäftliche Teil bewältigt war, schlenderten Arno und Gustav durch den Ort vorbei am Ordensschloss aus dem 14. Jahrhundert, der barocken Jerusalem-Kapelle mit ihrem Kuppeldach und dem historischen Rathaus. Immer wieder begegneten sie der Alle, dem kleinen Fluss, dem Allenstein seinen Namen verdankt. „Übrigens, die Allensteiner sind besonders stolz, dass Nikolaus Kopernikus, ja, der Nikolaus Kopernikus, 1520 als Kanzler des Ermländer Domkapitels in Allenstein residiert hat.“
Die Stadt mit ihren zahlreichen geschichtsträchtigen Bauten gefiel Gustav, und das Wohlgefühl seiner ersten Eindrücke stellte sich wieder ein. Arno lud Gustav ein, mit ihm die nächsten zwei bis drei Tage in die Umgebung zu fahren, zum Maurer See, nach Königsberg, zum Frischen Haff und auf der Rückfahrt vorbei an der Marienburg. „So kannst du deiner Familie mit den Bildern dieses Landes im Kopf anschaulicher beschreiben, was sie hier erwartet.“
Die beiden fahren am nächsten Morgen sehr früh zum Mauer-See, über dem Nebelschwaden wabern und an dessen schilfbestandenem, seichten Ufer Reiher, wie dunstige Märchenwesen, auf einem Bein stehend, kleinen Fischen auflauern. Einen engen Uferpfad betretend, verhält Arno, einen Zeigefinger vor dem Mund, bedeutet seinem Freund, innezuhalten und weist mit der anderen Hand in Richtung des geisterhaften ‚Wuumb‘ einer Rohrdommel.
„Schwimmen und Bootfahren im Sommer, Schlittschuhfahren mit Windsegeln im Winter“, bemerkt Arno im Weitergehen lebhaft. „Besonders südlich von Allenstein liegt eine ganze Seenkette, die lange Wassertouren per Boot zulässt.“
Auf der Weiterfahrt in Richtung Königsberg passieren sie ein großes Feld in blauer Blütenpracht. „Flachs“, erläutert Arno. Gustav erfährt, die Fasern würden über Rösten, Brechen, Hecheln zu Leinen verarbeitet, grobes für die Landbevölkerung, feineres für die industrielle Textilherstellung. „Die Getreidefelder, die du hier siehst, tragen hauptsächlich Roggen, weiter nördlich gegen die Ostsee hin, auch Hafer für die Pferde, aber auch für die Menschen als Haferflocken. Es gibt sogar einige Tabakpflanzungen sowie Hopfenanbau für die Bierbrauer, natürlich auch Kartoffeln, Gerste und Zuckerrüben. Wir können uns hier nicht nur selbst ernähren, sondern auch Landprodukte verkaufen, teilweise ins Ausland und Devisen erwirtschaften. Die Maschinen- und Holzindustrie trägt ihren Teil zu einem gewissen Wohlstand bei.“ Gustav erfährt, dass Allenstein mit ungefähr fünfzigtausend Einwohnern etwa ein Siebtel der Einwohner von Königsberg und ein Zwölftel von Breslau zählt. Gustav schaut seinen Freund mit hochgezogenen Brauen und leicht resigniertem Blick an: „Ich hoffe, dass sich Hermine mit der Kleinstadt anfreunden kann. Sie liebt das Flair von Breslau und auch die gewisse Anonymität der Großstadt. Ich werde froh sein, wenn ich diese Nuss geknackt haben werde“, sagt Gustav und kann einen besorgten Seufzer nicht unterdrücken.
Gustav ist von Königsberg, der Stadt Immanuel Kants, dem Dom aus dem 13. Jahrhundert, dem Schloss, der Universität beeindruckt. Auch der große Handelshafen ebenso wie der Eisenbahnknotenpunkt ist für ihn, den künftigen Geschäftsmann, von hohem Wert. Die beiden Freunde fahren weiter zum Frischen Haff. Gustav atmet die Seeluft, riecht Fisch und Meerwasser. Die salzige Luft spürt er auf der Zunge. Der Wind verbläst erneut seinen Scheitel. Dieses einzigartige Licht, vom Meer gespiegelt, der weite Horizont! Gustav ist überwältigt und hofft, die Nähe der Ostsee wird das gewichtigste Argument für Hermine sein. Ein blondbärtiger Mann mit Gummistiefeln, hoch über die Knie reichend, bewegt eine Stange mit einem siebartigen Netz durch das Flachwasser des Ufers, als harkte er den Meeresboden. „Ein Bernsteinfischer“, erläutert Arno. „Bei einem gewissen drehenden Wind landet besonders viel von diesem Harz aus Urzeiten hier an, dem Gold der Ostsee, wie die Ostpreußen sagen. Willkommene Erwerbsquelle für Fischer und deren Frauen, die den Bernstein zu Schmuck oder kleinen Gegenständen verarbeiten.“
Jenseits des Haffs schimmert die blaue Linie der Nehrung. Arno erzählt von ungewöhnlich großen Kormorankolonien, ungeliebten Konkurrenten der Fischer, weil jeder Vogel mehr als ein Pfund Fisch am Tag frisst und berichtet von zahlreichen Wildschweinfamilien, die das Haff bevölkern. Das Kreischen von Möwen begleitet die beiden Freunde. Eine einzelne sitzt, einem Denkmal gleichend, auf einem Pflock und beobachtet mit gelbgeränderten Augen das Geschehen. Ein Fischer hebt aus grün gestrichenem Boot eine Kiste mit silbrig glänzenden Fischen und zieht danach sein grobmaschiges Netz an Land. Duft von geräuchertem Fisch dringt aus einer Holzhütte.
„Der Fisch wird teilweise sofort geräuchert zum Verzehr oder zum Verkauf an Passanten“, erläutert Arno, „zum Beispiel an dich und deine Familie bei einem Wochenendausflug von Allenstein aus.“
„Herrliche Aussichten“, findet Gustav, „allerdings ist bis dahin noch ein weiter und steiniger Weg.“ Und wieder versucht er, sich Hermines Reaktion auf seinen Plan vorzustellen, von dem sie nichts ahnt.
Er drängt zur Rückfahrt, so gern er noch bliebe, aber seine Zeit ist begrenzt, und er möchte den Hauskauf unter Dach und Fach bringen. „Auf der Rückfahrt nach Allenstein sollten wir unbedingt noch über die Marienburg fahren. Das musst du gesehen haben.“ Arno erläutert auf der Fahrt, das Land Allenstein und die Marienburg seien Ordensritterland, die Marienburg der größte Backsteinbau Europas, im Laufe der Geschichte mal von Schweden, Polen oder dem preußischen König besetzt. Beinahe wäre dieses einzigartige Bauwerk, lange von der Bevölkerung als Ziegelsteinbruch missbraucht, verfallen, hätte nicht der Preußenkönig Friedrich-Wilhelm III 1804 weiteren Abriss an der Burg verboten und eine Renovierung verfügt, an der auch Schinkel beteiligt war.
Als sie vor dem gewaltigen Bau stehen, bricht die Sonne hinter den Wolkenschleiern hervor und lässt das gigantische Bauwerk wie in Flammen getaucht erglühen. Die beiden stehen minutenlang wortlos und ergriffen vor dieser historischen Stätte, die, sonnendurchstrahlt, wie ein lebendiger Körper anmutet. „Großartige Idee, noch hierher zu fahren. Ich stelle mir meine beiden geschichtsinteressierten Söhne vor, insbesondere Paul, dessen Fantasie hier Flügel wachsen dürften.“
Gustav versucht, sich auf das Fahren zu konzentrieren, ist aber so voller Eindrücke, dass er gerade lernt, zu fahren und sich trotzdem mit seinem Mitfahrer zu unterhalten. „Ich bin so angefüllt mit Bildern. Das gab’s selten zuvor in meinem Leben. Vor allem innerhalb einer so kurzen Zeit. Mein Kopf … das reinste Bilderbuch. Werde viel zu erzählen haben. Dank dir für Deine lehrreiche Reiseleitung.“
Gustav fühlt sich ermattet vom ungewohnt langen Fahren und kaum noch aufnahmefähig für Weiteres nach den Eindrücken, die sein Herz und seine Sinne erfüllen und die er tief innen aufzubewahren gedenkt.
Arno hat eine letzte Überraschung für seinen Freund. Wieder daheim in Allenstein, führt er Gustav in den Garten zu einer großen Hundehütte. Sogleich springt Manja, eine stattliche schwarze Riesenschnauzerhündin, auf ihren Herrn zu und begrüßt ihn leidenschaftlich, den ganzen Körper wogend und schlängelnd, japsend und vor Begeisterung winselnd. „Manja, sitz“, sagt Arno ruhig und liebevoll, und Manja gehorcht. „Brav“, Arno krault das Tier hinter den Ohren. „Manja wird im Herbst Junge haben. Wie wär’s mit einem Welpen für Deine Kinder? Auf dem neuen Grundstück wäre ein Hund nicht nur sinnvoll sondern auch gut zu halten.“
„Paul wünscht sich seit langem sehnlichst einen Hund“, sagt Gustav. „Ideal, wenn Paul einen Hund als Freund und Begleiter bekommt. Wegen seiner geringen Körpergröße wird ein großer Hund sein Selbstbewusstsein und Ansehen bei seinen Freunden und Klassenkameraden stärken. Zudem werden beide Jungen neue Freundschaften aufbauen müssen. Für Ilse dürfte der Umzug am einfachsten sein. Sie fühlt sich wohl, wo Papa und Mama sind.“ Gustav ist begeistert von der imposanten Schnauzerhündin und gewinnt ihre Zuneigung. Sie schaut ihm vertrauend in die Augen, lässt sich hinter den Ohren kraulen wie von ihrem Herrn, drückt ihren schweren Körper gegen seine Knie, hechelt bewegt und gibt ihm zuletzt die große Pfote wie zur Besiegelung einer neuen Freundschaft.
Nach einer Woche ist Gustav wieder daheim. Wie sag ich es und wann? Gustavs Hände sind unruhig. Mal steckt er sie in die Hosentasche, dann zieht er sie gleich wieder heraus.
Hermine hat zu seiner Begrüßung das weinrote, seidig glänzende Kleid angezogen, das er so gern an ihr sieht; es schmiegt sich an die feinen Rundungen ihrer weiblichen Formen. Ihr Haar glänzt frisch gewaschen und ist auf dem Kopf zu einer Rolle hochgesteckt. Elegant und ein wenig unnahbar, findet Gustav, aber gerade das hatte ihn angezogen, als sie sich kennenlernten und stolz gemacht, diese attraktive Frau für sich gewonnen zu haben. Mit ihren breiten vollen Lippen lächelt sie ihm entgegen.
Ilse hat eine frisch gebügelte, breite rosa Schleife auf dem Kopf, springt ihn an, Gustav fängt sein Mädchen auf und setzt sie auf seine Schultern. „Ich hab dich lieb“, sagt das Kind und hält seinen Kopf umschlungen. Arthur gibt dem Vater die Hand, ohne eine Miene zu verziehen. Paul schaut ihm fragend, erwartungsfroh und mit einem kleinen Lächeln entgegen. Kaum kann er erwarten, von Vaters Erlebnissen zu hören.




