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Der Bürgermeister wünschte ihm und der Familie Glück und Erfolg und versprach seine Unterstützung.
Gottes Segen erbat der Pfarrer von oben, mit dem Zeigefinger zum Himmel weisend, für das mutige Unternehmen der Familie.
Die Stimmen wurden im Laufe des Spätnachmittags in dem Maße lauter, wie der kugelige Glaskrug mit der Bowle sich leerte und die leeren Biersiphons zunahmen. Das Feuer war heruntergebrannt, die Buchenscheite schwarz geworden mit einem silbrig-porösen Aschepelz. Unter ihnen glomm ein Rest orangeroter Glut. Das Spanferkel, ein Skelett aus Kopf, Wirbelsäule und Knochen, wurde nur noch von knusprigen Hautlappen zusammengehalten, auf die Arthur und seine neuen Freunde bereits ein Auge geworfen hatten.
Hermine lud die Kinder zu Wettspielen ein, mit denen die kleinen Gäste die vielsagenden Wundertüten gewinnen konnten, die auf einem kleinen Tisch auslagen und die Neugier der Kinder anregten. „Was da wohl drin ist?“, fragte die kleine stupsnasige Tochter des Bürgermeisters, braunhaarig mit zwei dicken Zöpfen, mit rosa Schleifen zusammengebunden. Ilse zuckte, scheinbar nichtsahnend mit den Schultern, vielsagend und sich windend verdrehte sie die Augen. Natürlich würde sie nichts verraten.
Die Kuchentabletts hatten sich geleert. Fröhlich hatten die Kinder zugegriffen. Sie hatten rote Saft- und braune Kaffeebärte, Zucker und Kuchenkrümel hingen auf ihrer Kleidung, an Lippen und Wangen. Die Mütter hatten aufgehört, ihre Kinder mit Taschentüchern und Spucke zu bearbeiten.
Die Sahneschalen enthielten noch Überbleibsel. Die Geschwister hofften, niemand, außer ihnen, möge die Reste in den Schüsseln bemerkt haben und freuten sich auf das Ausschlecken später, unbeobachtet, natürlich mit den Fingern oder direkt mit der Zunge, soweit der Kopf in die Schale passte. Ilse rechnete sich gute Chancen aus.
Alle Kinder freuten sich auf die Spiele, bei denen sie endlich die kleinen, geheimnisvollen Wundertüten gewinnen konnten.
Jeweils zwei und zwei hüpften in einem unter den Armen zugebundenen Sack um die Wette, von der Start- zur Ziellinie. Der erste hatte seine Tüte sicher. Dann folgte der Eierlauf. Auf einem Esslöffel musste das Ei bei dem Wettlauf balanciert werden. Wer die Ziellinie mit Ei auf dem Löffel als erster erreichte, war Sieger und Gewinner einer Wundertüte. Danach durfte sich jeder sein Lieblingsspiel wünschen.
Ilse entschied sich für ein Ballspiel, das jeweils zu zweit gegeneinander zu spielen war. An ihrer Lagerhalle hatten sie die ideale fensterlose große Fläche. Der Ball wurde auf unterschiedliche Weise gegen die Wand gespielt, beginnend mit zehnmal der ersten Figur: mit beiden Händen gegen die Wand werfen und fangen, neunmal ohne Abzusetzen mit rechts, achtmal mit links, siebenmal ‚Bete‘ mit aneinandergelegten ausgestreckten Händen, sechsmal mit runden Gebetshänden, fünfmal mit der rechten, viermal mit der linken Faust, dreimal mit der Stirn, zweimal mit dem Knie, einmal über die rechte Schulter hochgeworfen, sich umdrehen und den Ball wieder fangen. Wer den Ball fallenließ, musste ihn abgeben und beim nächsten Wechsel da weitermachen, wo er vorher den Ball hatte fallen- lassen. Die Figuren ließen sich erweitern oder schwieriger gestalten, je nach dem Können der Mitspieler.
Das Spiel fand großen Beifall. Aber Bärbel wollte auch noch ihr Lieblingsspiel erklären.
Sie zeichnete ein großes Rechteck mit einem abschließenden Bogen auf den Hof. Das Rechteck wurde unterteilt in acht Kästchen. Ein flacher Stein musste, auf einem Bein hopsend, mit dem Fuß jeweils weiterbefördert werden. Wer auf eine Linie trat oder den Stein auf eine Linie schob, musste an den Mitspieler abgeben. Wer als erster den Parcours durchlaufen hatte, Wendepunkt der Bogen am oberen Ende, war Sieger. Auch dieses Spiel regte den Ehrgeiz der Kinder an. Alles sah leichter aus, als es dann beim Probieren tatsächlich war.
Da inzwischen alle ihre Wundertüten geöffnet hatten und jeder wunderschöne, bunt-leuchtende Schippelkugeln vorgefunden hatte, folgte auf Wunsch von Ulla noch das Schippeln. Ilse grub mit einer kleinen Schaufel eine kleine, runde Höhlung in den glatten Boden des Hofs, drückte sie innen und an den Rändern glatt und fest. Alle Kinder hockten nun ringsherum, auch die Jungen, und versuchten ihre Schippelkugeln der Reihe nach als erster ins Loch zu schippeln. Wer als erster alle Glaskugeln versenkt hatte, war Sieger.
Die Jungen langweilten sich bald zwischen den Mädchen und gingen mit Arthur, der ihnen was Tolles zeigen wolle. Sie liefen zum Lager, wo in einer Ecke verborgen das alte, verrostete Herrenfahrrad ohne Kette und Gummireifen stand. Die Jungen waren kaum zu halten und beförderten das Rad auf den Hof. Jeder versuchte, ein Bein unter der Stange hindurch gesteckt, von den anderen geschoben, damit zu fahren. Es quietschte, die Metallräder ohne Schlauch und Mantel schepperten auf dem festgefahrenen Boden des Hofes, aber die Jungen fanden dieses Gefährt großartig und beschlossen, demnächst dieses Gefährt zu reparieren, zu entrosten, zu ölen und soweit flott zu machen, dass nur noch der Vater neue Schläuche und Reifen spendieren musste, was allerdings kein kleines Problem darstellte. „Aber bis dahin können wir alles machen, was nichts kostet“, entschied Arthur, der Älteste der Jungengruppe und dachte daran, auf irgendeine Weise Geld zu verdienen, vielleicht mit Zeitungaustragen. Auch der Roller musste entrostet und geölt werden. Das gäbe zwei prima Fahrzeuge.
In diesem Stadium der Feier ging Arno mit seiner sechsjährigen Tochter Hilde zu seinem Lieferwagen, mit dem er und seine Familie gekommen waren. Er hob einen kleinen Korb heraus, mit einem rotweißkarierten Tuch bedeckt, hing sich sein Akkordeon um, ging zu den Gästen zurück und spielte einen Tusch, um die Aufmerksamkeit auf sein Mädchen zu lenken. Als sich ihnen alle Blicke zuwandten, überreichte Hilde der gleichaltrigen Ilse den Korb.
Die beiden blonden Mädchen mit ihren Rieselhaaren und der hellen Schleife auf dem Kopf, den langen gekräuselten Röcken mit Schärpe und den Spangenschuhen glichen einander wie Zwillingsschwestern. Hilde lächelte Ilse an. Ilse war so überrascht, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen, dass sie ganz ernst wurde. An ihrem Hals pochte der eilige Puls. Ihre losen Härchen, ihr Gesicht umspielend, bebten.
Bevor sie das Tuch von dem Korb nehmen konnte, rührte sich dieses wie von Geisterhand bewegt, und eine schwarze, feuchtglänzende Nase schob sich hervor, das rotweißkarierte Tuch über dem Kopf wie der Wolf in Großmutters Bett im Märchen. Unter der Nase glucksten kleine klagende Stoßseufzer hervor.
„Unser Geschenk für eure Familie“, sagte Hilde mit heller Stimme. „Das Geschenk heißt Ronja.“ Ilse stellte das Körbchen auf den Boden, nahm Ronja behutsam heraus und konnte nicht verhindern, dass ihr vor Freude Tränen über beide Wangen liefen. Sie legte sich Ronja in die Armbeuge, streichelte mit zwei Fingern behutsam das Hunde-Baby, drückte ihr Gesicht gegen die Hundenase und küsste sie. Dann drehte sie sich einmal in die Runde, damit jeder sehen konnte, was sie auf dem Arm hielt und lief zu Papa und Mama; Paul und Arthur waren herbeigeeilt. Die anderen Kinder kamen. Jeder wollte das kleine Tier anschauen und einmal anfassen. „Ronja wird mal viel größer sein als du jetzt bist“, erläuterte Arno, „ein stattliches Riesenschnauzer-Mädchen wird das mal. Sie wird euer Haus bewachen und dafür sorgen, dass jeder Tag im Jahr ein fröhlicher Hundstag wird.“
Arno setzte sich auf eine umgedrehte Kiste vor dem Haus und fing an, auf seinem Akkordeon zu spielen. Er spielte: „ Land der dunklen Wälder “, und die Besucher, zuerst nur summend, stimmten nach und nach in ihr Heimatlied ein. Um seinem Freund und dessen Familie eine besondere Freude zu machen, spielte er noch „ Blaue Berge, grüne Täler, mittendrin ein Häuschen klein “, das Lied, das Gustav, Hermine und die Kinder zusammen mit ihren neuen Landsleuten in Breslau kennen- und liebengelernt hatten. Einige der ostpreußischen Gäste kannten es und sangen mit. Zuletzt folgte „ Guten Abend, gute Nacht “, und die Gäste wussten, das Ende einer wunderschönen Einstandsfeier ihrer neuen Mitbürger war gekommen, und man verabschiedete sich.
Die Kinder hatten sich um Ilse und den Hundewelpen auf die Wiese gesetzt. Ronja wackelte im Kreis umher, den die Kinder mit ihren Körpern bildeten und genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Ab und zu kippte sie um und fiel auf ihr weiches, pummeliges Hinterteil. Schnell waren Kinderhände da, sie wieder auf ihre Beine zu stellen. Ronja japste, gickste, gluckste, schnaufte, sabberte, während sie neugierig die Knie der Kinder, ihre Hände und Kleidung beschnupperte und beschlabberte. Den Gastkindern fiel es schwer, nun mit ihren Eltern nach Hause gehen zu sollen. Beim Verabschieden sagten alle, sie würden wiederkommen, um mit Ronja zu spielen und auch mit den Kindern zusammen die Spiele zu machen, die sie heute kennengelernt hatten.
Gustav und Hermine saßen noch eine Weile in ihrer Wohnküche, Arme und Beine müde und entspannt von sich gestreckt, hinter ihnen Berge beschmutzter Teller und Gläser, von Besteck und Schüsseln. „Hat alles Zeit bis morgen“, stellte Hermine seelenruhig fest.
„Heut ist unser Anwesen zum Leben erwacht“, bemerkte Gustav. „Die Kinder haben allem Leben eingehaucht, dem Tor der Lagerhalle mit ihrem Ball, dem alten Fahrrad und Roller, dem Hof mit den Schippel-Kugeln, dem aufgemalten Rechteck für das Hoppe-Kästel-Spiel und der Wiese, auf der sie mit Hundebaby Ronja gespielt haben“, sagte Hermine verträumt, Gustav anlächelnd.
Ronja lag eingerollt auf Hermines Schoß, war sanft eingeschlummert, nachdem sie vorher Haferflocken mit Milch geschleckt hatte und gab im Schlaf hin und wieder traumtrunken einen kinderhellen, gicksenden Babybeller von sich, bei dem ihr Pummelkörper bebte. In dieser Nacht würde sie zum ersten Mal ohne die Nestwärme und den vertrauten Geruch ihrer Mama Manja und ihrer Geschwister sein, schien sich aber in ihrem neuen Zuhause schon wohlzufühlen. „Gut wird sie es bei uns haben“, sagte Gustav liebevoll, und Hermine nickte ihm beipflichtend zu.
Auch die Kinder hatten erste Kontakte geknüpft. Ronja würde ihren Teil beitragen, dass die neuen Freunde gern wiederkämen.
Der zweite Schritt in die neue Zeit mit neuen Menschen und vierbeinigem Familien-Zuwachs war getan, dachte der Familienvater, nahm Hermines Hand und ging mit ihr schlafen. Satt waren sie, satt von Zufriedenheit und Freude und redlich müde.
7. Kapitel
Extrablätter
1914
In der vorigen Woche beging die Familie Mutters vierzigsten Geburtstag. Schön war’s, entsann sich Hermine. Gustav hatte sie zuvor nach ihrem Wunsch gefragt. Mal einen halben Tag nichts tun, hatte sie entgegnet, einen halben freien Tag. Zu mir selbst kommen, keine Wäsche waschen, reparieren, bügeln, kein Wasser tragen, nicht im Garten jäten, keine Kunden bedienen. Sie sagte das wie abbittend. Sie wolle einmal so tun, als hätte ich nichts zu tun. Einen halben Tag frei und für sich. Das Leuchten war unvermittelt aus Gustavs Gesicht gewichen. Wie konnte ihm entgehen, dass Hermine so dringend eine Verschnaufpause brauchte!
Bei aller Arbeit muss ich die Familie im Blick behalten, ging er mit sich ins Gericht. Unversehens sah er reumütig aus, und schalt sich einen dickfelligen alten Esel. „Unbedingt nimmst du einen halben oder ganzen freien Tag“, äußerte er bereitwillig und bestrebt, seine Gedankenlosigkeit wieder gutzumachen. Eigensüchtig kam sich Hermine vor, spürte aber, eine Ruhepause, wenn auch nur eine bescheidene, wäre für sie nach den Monaten unentwegten Schaffens und dem Eingewöhnen in das neue Leben wohltuend und ein willkommenes Geschenk.
Hermine hatte am Vortag eine große Schüssel Kartoffelsalat für die Familie zubereitet und gab sich einen Ruck, ihre üblichen Pflichten links liegenzulassen wie eine wohlhabende Lady mit Personal. Keine Gewissensbisse, hatte sie sich vorgenommen, ahnte jedoch, das würde nicht leicht sein. Tief schöpfte sie Atem, straffte sich, hob den Kopf und befeuerte sich ein letztes Mal mit den poetischen Worten: ‚Hermine zieht nun von dannen und sieht den vor ihr liegenden Mußestunden erwartungsfroh entgegen.‘ Ihr Gesicht belebte sich und ein belustigtes Schmunzeln spielte um ihre feinen, vollen Lippen.
Während sie sich angekleidet hatte, lag Ronja nahe bei ihr, hechelnd, und ließ sie nicht aus den Augen. Bei der völlig überflüssigen Frage, auf die Ronja aber gewartet hatte: „Will der Hund mitkommen?“, war die Hündin aufgesprungen, gab kleine Freudenjuchzer von sich, tänzelte mit den Vorderpfoten und trat Hermine auf die Schuhe.
Ronjas Leine hängte Hermine über ihre Schulter. Beim Öffnen der Haustür sprang die Hündin wenige Meter voraus, wieder zurück, schnellte an Hermine empor, federte mit den Vorderpfoten zurück und kobolzte voraus. So sieht Lebensfreude aus, dachte Hermine.
Entlang dem Feldweg hinter ihrem Anwesen schlenderte sie Richtung See. Schon am Morgen schien die Sonne wohltuend sommerlich und Hermine genoss die belebende Wärme, die sie durch die Kleidung spürte. Margueriten, gelber Horn-Klee und goldener Hahnenfuß blühten üppig am Wegesrand. Eine Hummel in einer Hahnenfußblüte, die Beine dick bepackt mit Pollen wie pummelige Pluderhosen, brummte zufrieden und unermüdlich. Die Butterblumen rochen eher herb, auch die Margueriten verströmten keine Wohlgerüche, aber Hermine hatte das Gefühl, den süßen Pollen auf ihren Lippen zu schmecken, während sie der Hummel bei ihrem Tun zusah.
Am langen Stängel eines blühenden Grases wagte eine halbwüchsige kleine Maus, in Zeitlupe hochzuhangeln. Als haariges Oval unter dem Grashalm schwebend, behutsam und zögernd in Richtung Blütenständer vorrückend, bog sich der Halm, einem gespannten Bogen gleich, mehr und mehr und drohte einzuknicken. Hermine konnte nicht weiter verfolgen, ob die kleine fingerfertige Maus mit Geschick endlich an ihr Ziel gelangte; Ronja forderte ihre Aufmerksamkeit. Da sich Hermine sorgte, ihr Hund könne dem kleinen Tier, willkommen als weiches, wieseliges Spielzeug, in ihrem Übermut Schaden zufügen, trennte sie sich von der wunderlichen Mausedarbietung.
Ronja hopste mit einem Stöckchen, eher einem kleinen Baumstamm gleichend, vor Hermine hin und her; bei Hermines Versuch, den Stock zu fassen, erwies sich Ronja als kraftvoller und hielt ihn fest, kämpferisch knurrend, und ließ ihn erst los, als Hermine ihn vollkommen ignorierte. Sie bugsierte ihren Baumstamm vor Hermines Füße, die Nase wachend dicht darüber und erneut dumpf grollend, als Hermine ihn anzutasten versuchte. Diesmal durfte sie ihn erbeuten und weit hinausschleudern. Ronja preschte, wie ein Schaukelpferd mit beiden Vorder- und Hinterbeinen gleichzeitig auf und ab schnellend, hinter ihrem baumlangen Spielzeug her.
Wie großartig sich Ronja entwickelt hat, dachte Hermine. Auf den Hinterbeinen stehend, um Herrin oder Herrn zu begrüßen, war sie einen Kopf größer als beide.
Paul und Ronja waren, wie von den Eltern im Stillen erhofft, innige Freunde geworden. Morgens vor der Schule trabte er im Dauerlauf, Ronja an seiner Seite, zum See und wieder zurück. Geduldig übte Paul mit Ronja in der Nähe des Sees, ‚bei Fuß‘ zu gehen.
Graureiher standen Tag für Tag im flachen Wasser des Ufers, Frösche und kleine Fische im Blick. Ronja geriet anfänglich beim Anblick der auf einem Bein stehenden silbergrauen Spukgestalten unabwendbar außer sich, hetzte los und schnurstracks hinter den Vögeln her. Ihre Stimme überschlug sich vor Jagdeifer, wenn diese ihre weiten Schwingen ausbreiteten und dicht über ihr davonrauschten. Wenn auch widerstrebend, hatte sie nach und nach gelernt, angeleint zu gehen. Der Lehrsatz lautete: ‚Ein braver Hund, in Sichtweite der silbergrauen, großen Vögel, entwischt, blafft und jault nicht.‘ Dennoch focht Ronja jedes Mal erneut einen Kampf gegen ihre Jäger-Natur. Ihr Schnaufen steigerte und beschleunigte sich, mit dem Halsband schnürte sie ihre Kehle, japste und würgte, und ihr vibrierender Körper schien vor Jagdfieber zu dampfen. Dann war die Klippe genommen. Ronja beruhigte sich, durfte ohne Leine laufen und wand sich wieder Stöckchen und den Wohlgerüchen am Boden zu.
Während Hermine zwischen blühenden Feldblumen beim Gesang einer hoch in der Luft ihr ‚Trülüt‘ jubilierenden Lerche ihres Weges ging, Ronja in faszinierende Düfte am Boden vertieft, zogen Hermine Bilder ihres gegenwärtigen Lebens an ihrem inneren Auge vorüber.
Durch den Kredit verfügten sie über Bargeld. Dennoch dünkte sie die Zeit endlos bis zum ersten, größeren Auftrag, der Belieferung eines Krankenhaus-Erweiterungsbaus in Allenstein mit dem Großteil der benötigten Materialien. Abend für Abend hatte Gustav bis dahin die Zeitungen nach Angeboten durchforscht und kalkulierte seine Offerten so günstig und wirtschaftlich, wie gerade noch vertretbar. Gemeinsam hatten sie gehofft, gebangt und die Enttäuschung getragen, wenn erneut ein Auftrag an ihnen vorbei an einen alteingesessenen oder vermeintlich kostengünstigeren Bewerber ging. ‚Da braucht’s halt Geduld‘, hatte Gustav wiederholt mit zunehmend besorgt klingender Stimme geäußert, wenn neuerlich eine Absage oder ausbleibende Reaktion zu verkraften waren.
Gustav reagierte auch auf kleinere Ausschreibungen, Kacheln privater Bäder oder Küchen, eines kleinen Operationssaales oder das Belegen einer Garten-Terrasse mit Marmorbruch.
‚Wählerisch können wir nicht sein. Wenig ist mehr als nichts.‘ Gustav hatte weniger Angst als sie selbst, ihren Kredit könnten sie nicht oder nicht schnell genug zurückzahlen, der in Hermines Kopf zu wachsen schien, je kleiner die Raten waren, die sie bisher leisten konnten und je mehr Zeit ins Land ging. Hermine spürte seine Sorge, wenn er nachts neben ihr mit offenen Augen schlaflos wie sie selbst im Bett lag. Er sprach nicht darüber, und sie behielt für sich, dass sie mitbekam, wie oft er wach neben ihr grübelte. Es rührte sie, dass allzu oft er sie tröstete, obgleich er den Löwenanteil der Verantwortung zu tragen hatte. Für sie blieb, jede Mark vor dem Ausgeben zweimal umzudrehen.
Die Kinder waren in einem Alter, in dem Ärmel und Hosenbeine zu schrumpfen schienen. Hermine nähte, was sie nähen konnte. Sie hatte es nicht gelernt, fand aber entspannend, nach Haus- und Gartenarbeit oder Aushilfe im Laden an der Nähmaschine einen neuen Schlafanzug zu nähen, Ärmelsäume auszulassen, mit anderem Stoffrest zu unterlegen, Hemdkragen mit dem unteren Ende des Rückenteils zu erneuern oder Hosenböden von Arbeitshosen ‚ihrer Männer‘ zu flicken.
Da ihr Betrieb Einzelhandel umfasste, musste stets einer in der Familie erreichbar sein. Gleich hinter der Eingangstür im Inneren des Hauses hatte Gustav sein kleines Büro. Die Schelle war im Garten zu hören. An den Vormittagen war Hermine diejenige, die erreichbar sein musste, wenn Gustav bei Kunden zu tun hatte.
Waren die Kinder aus der Schule zurück, kamen Arthur oder Paul an die Reihe. Bei Lieferungen für das Lager oder Auslieferungen vom Lager musste sie ebenfalls mit anpacken. Beide Jungen lernte Gustav im Büro an. Arthur war inzwischen sechzehn und sollte nach der Schulzeit im Herbst in der Lage sein, Rechnungen und Lieferscheine zu schreiben, Rechnungen zu bezahlen und die Buchführung zu erledigen. Das würde eine große Entlastung für den Vater sein. Solange wie möglich wollten sie ohne festangestellte Zusatzkraft bleiben. Von Fall zu Fall engagierte Gustav einen Fliesenleger, Dachdecker oder ungelernten Bauarbeiter.
Hermine hatte einen hellen, langen Sommerrock angezogen, dazu eine geblümte Bluse aus weichem Baumwoll-Batist, kurze Stiefel mit kleinen Absätzen, und einen breiten weichen Wildleder-Gürtel angelegt. Ihre Kleidung war nicht neu. Das störte Hermine nicht. Mit kleinen Veränderungen, einem gekürzten oder herausgelassenen Saum gab sie einem Rock einen modischen Anstrich. Den weichen Wildledergürtel, großer Luxus in ihrer Lage, hatte ihr Gustav zum Geburtstag geschenkt. Gern nahm sie den Gürtel in die Hand oder legte ihn an die Wange. Das samtige Wildleder schmeichelte ihrer Haut. Auch der feine Ledergeruch gefiel ihr.
Die Kinder hatten sich in der Schule eingewöhnt. Ungeachtet seines verschlossenen Wesens gewann Arthur einen Klassenkameraden als Freund. Wolfgang, gesprächig und kontaktfreudig, schätzte an Arthur, dass er seinen Geschichten gern zuhörte, gelegentlich darauf einging, aber meistens selber schwieg.
Der elfjährige Sohn von Lore und Arno, Johannes, war Pauls neuer Freund; sie hatten sich bei der Einweihungsfeier kennengelernt. Mit seinem sanften, freundlichen und liebenswürdigen Wesen passte er gut zu Pauls sensibler Art und half ihm, wenn Paul wegen seiner Sehschwäche bei einer sehr feinen Arbeit Unterstützung gut gebrauchen konnte.
Ilse musste sich daran gewöhnen, in der Schule nicht ständig den Kasper geben zu können, wie von zu Hause gewöhnt. Sie hatte sich neben Hilde setzen dürfen, die sie von der Feier kannte. Die beiden Mädchen, einander ähnlich wie Zwillinge, verstanden sich in vielfältiger Weise. Da Hilde ebenso gern handarbeitete wie Ilse, verband sie ein feines gemeinsames Hobby.
Während Hermine mit Ronja den Feldweg entlangspazierte und die hinter ihnen liegende Zeit an sich vorüberziehen ließ, dachte sie an den harten Winter und ihr Herzchenhaus, das ihnen bei ihrem Einzug so viel Spaß gemacht hatte. Die Kinderzimmer waren nicht heizbar, aber das kannten sie von ihrer Breslauer Wohnung. Wenn bei eisiger Winterkälte phantastische Eisblumen die Aussicht aus ihren Kinderzimmerfenstern versperrten, wussten sie abends dick in Zeitungspapier eingewickelte heiße Ziegelsteine am Fußende ihres Bettes als Aufwärmhilfe zu würdigen. Hausaufgaben erledigten sie in der Küche am großen Familientisch. Schwierig war zuweilen, Vokabeln, Gedichte oder Geschichtszahlen laut zu üben. Hin und wieder gab es deshalb Streit, aber sie lernten, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Lernstoff konnte man auch auf Spaziergängen mit Ronja einstudieren.
Dass nachts in den Kinderzimmern ein Töpfchen stand, war ebenfalls nicht neu. War das Töpfchen ungeeignet wegen eines größeren Geschäfts, blieb der Gang auf das Häuschen bei eisigen Temperaturen etwas für winterharte Naturen.
Das Wasserholen war auf mehrere Schultern verteilt. Von Woche zu Woche wechselte der Wasserdienst zwischen den Jungen: Wasser für die Küche in einer großen Kanne, Wasser für den Wasserkrug auf den Waschtischen in den Schlafstuben. Neben einem solchen Wasserkrug stand jeweils die Waschschüssel, die morgens von Hermine entleert wurde.
Die Jungen wuschen sich so lange wie möglich draußen, auch Gustav liebte seine Freilandwäsche. Er hatte neben den Brunnen eine kleine Holzkabine gebaut, in der er sich morgens im Adamskostüm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf goss.
Einmal in der Woche war Badetag, und die Jungen füllten den Kessel in der Waschküche, aus dem später heißes Wasser in die Zinkbadewanne gefüllt wurde. Nach jedem Bad wurde Seifenschaum abgeschöpft und erneut ein Töpfchen heißes Wasser nachgefüllt.
Schwerarbeit waren die Waschtage, wenn große Wäsche anstand. Die Jungen füllten schon morgens vor der Schule die Badewanne voll Wasser sowie mehrere Eimer und Gefäße. Am Vortag hatte die Mutter die Wäsche bereits in Bleichsodawasser eingeweicht und nach dem Einweichen, wenn das Wetter schön war, auf der Bleiche, einem Teil ihrer Gartenwiese, ausgelegt. Nach dem Ausspülen beförderte Hermine die Wäscheteile in die halbautomatische Waschmaschine, die die Wäsche mit einem Metallkreuz im Wechsel nach rechts und links bewegte. Stark verschmutzte Wäsche schrubbte sie auf dem Waschbrett mit einer Bürste nach. Dann wurde alles ausgespült, wofür wieder viel Wasser benötigt wurde. Entweder wurde das Wasser vom Brunnen in die Waschküche oder die Wäsche aus der Waschküche zum Brunnen getragen, dann aber wieder runterbefördert zum Auswringen mit der Wringvorrichtung an der Waschmaschine. Jedes Wäscheteil wurde einzeln zwischen zwei gegeneinander laufende Rollen geschoben. Aufgehängt wurde die Wäsche im Garten, auch im Winter. Der Waschtag wurde so gelegt, dass das Wetter passte. Die Wäsche konnte bei längeren Regenperioden auch auf dem Boden aufgehängt werden. Draußen jedoch und bei Sonne bleichte sie zusätzlich. Die noch leicht feuchte Wäsche bügelte Hermine von Hand mit einem Eisen, dessen inneres heißes Eisenteil jeweils im Ofenfeuer erhitzt und ins Bügeleisen eingeschoben wurde.
Bei dem Gedanken an die Waschtage seufzte Hermine ungewollt, aber allein auf dem Feldweg, hatte niemand sie hören können. Nur Ronja schaute kurz und leicht irritiert zu ihr auf. Dann setzte sie zu einem hohen Sprung auf eine Maus an, deren Piepsen sie aus einem Mauseloch erlauscht hatte.




