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Ein solcher Waschtag war Schwerarbeit für die ganze Familie, besonders aber die Mutter. Das Haus roch nach Waschpulver, der Dampf stieg in alle Räume, von dem Dampf waren Haare und die Kleidung aller Beteiligten feucht und verklebt. Bis zum Abend schwanden die Kräfte, besonders bei Hermine. Sie war froh, dass ihr die beiden Jungen halfen.
Ein Fest, in ein Bett steigen zu können, das nach sauberer, luftgetrockneter, handgebügelter Wäsche roch. Wer geholfen hatte, wusste dieses Vergnügen doppelt zu schätzen. Hermine sowie ihre neue Freundin Lore, aber auch alle anderen Frauen, die sie inzwischen kennengelernt hatte, ließen die Wäsche so lange wie möglich auf den Betten. Manche gaben an, sie alle zwei Wochen zu beziehen, hatten aber tatsächlich eine Waschfrau, was sie verschwiegen, oder sie hatten fließendes Wasser in der Waschküche und brachten die Wäsche nach dem Trocknen in die Heißmangel.
Hermine war froh, dass die Familie Fuß gefasst hatte: Gustav hatte in letzter Zeit in kürzeren Intervallen jeweils einen größeren Auftrag ergattert.
An die Unbequemlichkeiten, insbesondere im Winter, hatte sich die Familie gewöhnt. Glücklicherweise waren alle gesund geblieben trotz eisgekühlter Wege zum gewissen Häuschen bei Minustemperaturen und Schneetreiben. Die Kinder waren in alle Schwierigkeiten einbezogen, stellten keine Ansprüche und waren hilfsbereit, von altersbedingter, gelegentlicher Unlust abgesehen.
Als Hermine ihren Freien-Tag-Spaziergang mit Ronja antrat, drückte sie noch die zurückliegende Zeit wie eine große Bürde. Nunmehr, nach dem ausgiebigen Fußweg entlang der Felder, hin zum See und auf dem Rückweg, leuchtete, was sie geleistet hatten, in weitaus günstigerem Licht. Auch die ersten kleinen Rückzahlungen an die Bank begannen in ihrem Kopf nach zehn Monaten Selbständigkeit als achtbare Leistung zu glänzen. Sie beschloss, künftig die Dinge zuversichtlicher zu sehen und, statt sich von Gustav immer und immer wieder ermutigen zu lassen, nun ihrerseits Gustav öfter aufzumuntern.
Hermine fühlte sich von der Sonne, dem Feldweg, dem Lerchen-Jubilieren, dem niedlichen Mausezirkus und Ronjas Lebensfreude glücklich verwandelt. Anfängliche Verzagtheit und Ängstlichkeit waren neuer, entschiedener Lebenszuversicht gewichen.
Belebt trat Hermine den Rückweg an. Kumuluswolken waren am Himmel aufgezogen und türmten sich zu weißen, wildbewegten Wolkengebirgen. Hermine erwog einen Luxus, auf den sie in Allenstein bisher verzichtet hatte. Sie überlegte, ihren Ruhetag und ihre neu gewonnene, bejahende innere Einstellung mit dem Genuss einer Tasse Kaffee zu krönen. Das könnte sie zwar auch zu Hause tun, wollte jedoch das Gefühl erleben, sich nach langer Zeit wieder einmal fein bedienen zu lassen und sich dem Gedanken hinzugeben, sie seien weit über den Berg. Bergauf ging es zwar, wenn auch langsam, aber immerhin bergauf.
Auch hier war ein kleines Cafe am Marktplatz. Die Sonne hatte den Tag weiter erwärmt. Sie konnte draußen sitzen. Ringsherum blühten Geranien und Petunien in Kästen, wie zuletzt in ihrem Breslauer Cafe, in dem sie öfter zusammen mit Ilse gesessen hatte.
Die Kellnerin stellte die Tasse Kaffee vor sie hin. Der heiße, der Tasse entsteigende Dampf duftete aromatisch und erlesen, nach gutem Leben, dachte Hermine. Sie bestellte eine Kugel Schokoladeneis in einer muschelförmigen Waffel. Gustav hatte ihr zum Geburtstag ein Geldstück geschenkt, das sie aufbewahren wollte, bis eines ihrer Kinder etwas Neues zum Anziehen oder Material für die Schule benötigen würde. Dennoch spendierte sie sich den Kaffee und das Eis.
Sie genoss die wärmende Sonne auf der Haut, ihre Augen erfreuten sich an den Farben der roten und weißen Geranien sowie der Petunien in ihren hauchzarten, vielfältigen Fliedertönen. Der heiße Kaffee durchrieselte ihre Glieder und belebte sie wohltuend; das Eis schmolz auf ihrer Zunge und hinterließ in ihrem Gaumen eine kühle Spur der Schokoladensüße.
Das Marktgeschehen vor ihr lief ab wie ein Film: Sommerlich gekleidete Menschen schlenderten an ihr vorüber. Hausfrauen mit Blumensträußen und prall gefüllten Taschen trotteten hierhin und dahin, betrachteten Möhrenbunde, begutachteten rote und grüne Äpfel, verglichen die Preise von Wirsing und Rotkohl, prüften verschiedene Kartoffelsorten, betrachteten Astern und Zinnien in Eimern oder standen in Gruppen, die Einkaufstaschen zwischen den Beinen und plauderten vergnügt und angeregt.
Ronja entdeckte hier und da einen Hundekollegen mit Frauchen auf dem Marktplatz. Gebannt und Aufmerksamkeit heischend blaffte sie kurz und dezent. Sie zog an ihrer Leine, schnaufte aufgeregt oder belferte ärgerlich, wenn ein kleinerer Hund sie kratzbürstig anraunzte, statt sie freundschaftlich zu beschnuppern, anzuschwänzeln oder ihr gebelltes ‚Hallo‘ zu erwidern.
Hermine betrachtete das Geschehen vor sich, empfand tiefes Wohlbehagen und war in diesem Augenblick wunschlos glücklich.
Da rief eine Jungenstimme ganz in ihrer Nähe: „Extrablatt, Extrablatt! Thronfolger Ferdinand und seine Frau Sofie in Sarajevo erschossen! Extrablatt, Extrablatt!“
Der rufende, etwa zwölfjährige Knabe mit einer Schiebermütze trug ein dickes Paket Zeitungen auf dem Arm und war in kurzer Zeit von einer Menschentraube umgeben. Es dauerte eine Weile, bis Hermine an der Reihe war und ihr Extrablatt in der Hand hielt.
Sie setzte sich auf ihren vorherigen Platz. Während sie las, verdunkelte sich ihre Miene wie mit einem grauen Schleier, als sei die Freude in ihrem Gesicht ausgeknipst worden.
Ronja neben ihr war von dem lauten Rufen des Zeitungsjungen zappelig geworden. Lautes Geschrei widerstrebte ihr, auch solches von Arthur, Paul und Ilse zu Hause. Stritten sie zuweilen, ging Ronja mit Gebell dazwischen und schubste denjenigen mit der Schnauze, der nach ihrer Meinung Urheber der Misshelligkeit war. Hermine musste Ronja besänftigen, um zu verhindern, dass diese auf ihre Weise durchgriff. „Is’ gut“, sagte Hermine und knuffte ihren Hund freundschaftlich.
Sie las, Kronprinz Ferdinand, der Habsburger Thronfolger, sei zusammen mit seiner Frau, Herzogin Sofie von Hohenberg, in Sarajevo von dem bosnischen Studenten Gavrilo Princip erschossen worden. Als Hintergrund wurde eine großserbische nationale Bewegung genannt. Die Serben würden zusammen mit Bosnien und Kroatien ein Großserbisches Reich anstreben, um die Österreicher vom Balkan zu verdrängen.
Hermine legt die Zeitung, die sich zunächst auf diese Meldung beschränkt, auf den Tisch. Ihr Kaffee ist ausgekühlt. Das Eis ist geschmolzen und hat begonnen, die Muschelwaffel aufzuweichen. Hermine hält Ronja gedankenverloren die Waffel mit dem flüssigen Eis hin. Ronja schleckt erst das flüssige Eis, dann beißt sie manierlich von der Waffel ab, nimmt sie Hermine behutsam aus der Hand und verschlingt den Rest. Sie beleckt sich, ihre Augen leuchten, sie scheint zu lächeln mit ihren auseinandergezogenen Lefzen und angelegten Ohren.
Eine ältere Dame mit silberweißer Hochfrisur am Nebentisch, gleichfalls mit einer Zeitung in der Hand, schaut mit leerem Blick zunächst auf ihren Tisch, dann ihre Nachbarin mit der dunklen Brille, der langen Nase und dem straffen schwarzen Haarknoten im Nacken ratlos an. Die beiden Damen beginnen zunächst stockend, dann immer erregter zu spekulieren. „Was hat das zu bedeuten?“, fragt die Weißhaarige. „Ich muss unbedingt meinen Mann fragen“, entgegnet die mit dem Knoten. „Furchtbar“, stellt die Weiße fest, „ja, ganz, ganz furchtbar, einfach so erschossen“, entgegnet die bebrillte Schwarze.
Hermine schüttelt den Kopf. Die Sonne scheint noch immer. Makaber erscheint ihr das in diesem Moment. Zwei Menschen sind heut erschossen worden. Einfach so. Mitten im Frieden. Und die Sonne scheint, die Geranien leuchten, alles wie zuvor. Und doch ist alles anders. Sie trinkt den lauwarmen Kaffee aus.
Was sollte dieser Doppelmord? Ihr schaudert. Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. Diese mittelalterliche Verszeile aus dem Gesangbuch kommt ihr in den Sinn. Dann vollzieht sich mit ihr eine seltsame Verwandlung, die ihre beiden Nachbarinnen aufmerken lässt.
Ihr Blick verschleiert sich, sie stiert weit ins Nirgendwo, die Farbe ihrer Augen wird dunkel und gespenstisch. Die Zeitung ist auf ihre Knie gerutscht. Ihre Nachbarinnen sehen sie eine Weile völlig in sich versunken. Sie bewegt sich nicht, wirkt wie erstarrt, und scheint kaum zu atmen.
Hermine ist es, als hörte sie Kriegslärm, Geklirr von Metall auf Metall, dumpfe Aufschläge, trockenharte Einschläge, dann qualvoll und peinigend einen Schrei, einen Schrei, wie von Arthurs Stimme: ‚Mutter, Mutter …‘ Hermine fährt auf. Habe ich geschlafen? Sie fühlt sich benommen, streicht mit der Hand über die Stirn, greift in ihren Nacken und streicht ihn wiederholt. Einen Moment lang fällt es ihr schwer, sich zu orientieren. Sie ist nicht sicher: ‚Habe ich geträumt? Oder bin ich eingenickt?‘ Vor sich undeutlich der offene Mund einer Frau, die auf sie einredet: „… werden doch ganz nass“, hört Hermine. ‚Meine lange aufgestaute Müdigkeit‘, geht es ihr durch den Sinn. Hat sie nicht Arthur schreien hören?
Eine dunkle Wolkenwand steht drohend über ihr. Zunächst dumpfes Donnergrollen, dann lautes Krachen. Erste dicke Regentropfen fallen auf die Zeitung wie harte kleine Steine. Ronja ist aufgeregt, sie hat Angst bei Gewitter, zittert und hat eine Pfote auf Hermines Schenkel gelegt. Sie jault und zerrt an der Leine, sie will nach Hause. Blitze zucken durch das Anthrazit des Himmels. Der Regenschauer verstärkt sich.
Hermine will mit Gustav und den Jungen reden. Sie hat keinen Regenschirm mitgenommen. Im Eingang des Cafes wartet sie den Schauer ab. Andere Cafe-Besucher stehen bereits schutzsuchend im Eingang. Hermine macht sich mit Ronja im Eilschritt auf den Heimweg. Noch grollt es hinter grauer Wolkenwand, von grellen Blitzen durchzüngelt.
Die Nachrichten überschlagen sich in den nächsten Tagen. „ Das Deutsche Reich ermuntert Österreich-Ungarn, gegen Serbien vorzugehen “, ist in der Zeitung zu lesen.
„Was heißt das?“, fragt Hermine ihre Söhne, die in der Schule über die gegenwärtige politische Großwetterlage reden. „Mein Geschichtslehrer“, sagt Arthur, „hält für möglich, dass es Krieg gibt, sagt aber gleichzeitig, das sei äußerst riskant, weil die Europäischen Staaten durch unterschiedliche Verträge so miteinander verbunden sind, dass eine Kriegserklärung, zum Beispiel von Österreich-Ungarn an Serbien, zu einem Flächenbrand führen könnte.“
„Was heißt Flächenbrand?“, fragt Hermine sehr leise und sorgenvoll. „Europäischer Krieg“, sagt Arthur behutsam, als glaube er das selbst nicht. „Hat er gesagt, muss aber nicht stimmen“, entgegnet Paul. „Hoffen wir, dass alle, die jetzt politisch Verantwortung tragen, die Nerven behalten“, stellt Gustav fest.
Am 31. Juli 1914 verkünden Extrablätter im deutschen Reich den allgemeinen Kriegszustand. Anfang August lässt Kaiser-Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung bekanntgeben.
8. Kapitel
Der erste Weltkrieg bricht aus
Am nächsten Vormittag geht es in der Klasse lebendig zu. Die Jungen drehen die Köpfe einander zu, fuchteln mit Händen und Armen, mit erhitzten geröteten Gesichtern reden sie aufeinander ein und sind lauter, als es Friedmann, ihr Geschichtslehrer, normalerweise erlaubt. Friedmann öffnet eines der hohen, vielfach unterteilten, weiß gestrichenen Fenster, um frische Luft hereinzulassen. ‚Hier stinkt’s wie in einem Raubtierzwinger‘, denkt er schmunzelnd, ‚kein Wunder, bei dreißig sich ereifernden, schwitzenden jungen Männern, die sich wie kraftstrotzende junge Löwen gebärden, gegenwärtig aber in viel zu engen, verkratzten Holzbänken, diese zu zweit miteinander verschraubt, wie eingeklemmt hocken. Das Ratschen der Schuhe auf dem Boden markiert den erhöhten Erregungspegel.‘
Krieg soll es geben, haben sie gehört. Hellwach sind sie alle geworden. Mitmachen? Na klar! Du spinnst wohl! Denk mal an die Folgen! Gedanken fliegen hin und her wie harte Tennisbälle. Das Thema hat sie entzündet. Keiner träumt heut den sanften Dämmerschlaf wie zuweilen, wenn von alten Römern oder Griechen die Rede ist.
Friedmann lässt seine Schüler frei ihre Gedanken und Gefühle benennen. Einige haben zu Hause über die Möglichkeit eines Krieges debattiert. Siegfrieds Großvater hatte gesagt: „Da gibt es nichts zu überlegen. Wenn ich nicht zu alt wäre, zöge ich sofort wieder mit wie 1870/71, als wir den Franzosen die Hucke versohlt und sie gescheucht haben wie die Hasen, und nur noch entfernt ihre roten Strümpfe von hinten blitzten. Ein Mordsspaß war das, kann ich dir sagen! Als wir heimkehrten, waren wir Helden, wurden bejubelt. Frauen hängten uns Blumenkränze um den Hals. Wie ein junger Gott hat sich jeder gefühlt! Die Menschen am Bahnhof umschwärmten ihre Helden. Auf den Händen trugen sie uns. In einer Woge von Stolz und Glück schwelgte unser Volk.“
Siegfrieds Augen strahlen, als sei er selbst dabei gewesen, er springt auf, während er gewichtig und begeistert die Worte seines Großvaters wiedergibt, sein Gesicht glüht wie im Fieber. Seine Mitschüler haben aufgehört, durcheinander zu reden und ihm stattdessen mit wachem Verstand vornübergeneigt zugehört. Manche bemerken nicht, dass sie mit offenem Mund schniefen und ihnen die Nase läuft.
„Siegfried, erzähl mal, wie es damals zur deutschen Kriegserklärung an die Franzosen kam“, fordert ihn Lehrer Friedmann auf. „Die Emser Depesche“, und was beinhaltete sie, hakt Friedmann nach? „In verkürzter Form die Forderung Frankreichs, das Haus Habsburg solle für alle Zeiten den Anspruch auf den Spanischen Thron aufgeben. Die verkürzte Form provozierte Frankreich, das daraufhin Deutschland den Krieg erklärte.“
„Und wie reagierten die Deutschen?“ Friedmann sah Arthur an: „Begeistert. Eine nationale Begeisterung lag in der Luft. Alle wollten mitmachen“, sagte Arthur. Friedmann hätte seine Schüler gern immer so geistesgegenwärtig wie an diesem Tag. Nachdenklich durchschreitet er den Mittelgang des Klassenzimmers, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, begleitet von den gebannten Blicken seiner Schüler. Auf seinem Rückweg sagt er bedacht, wie zu sich selbst, seine graumelierte wuchtige Haartolle in der Stirn: „Stellt euch vor, Österreich-Ungarn erklärt Serbien wegen der Todesschüsse in Sarajewo den Krieg. Was könnte passieren?“
Der lange, schlaksige, blondgewellte Hans ist der ‚Profi‘, und die unumstrittene Nummer Eins innerhalb der Klasse in Geschichte und Politik. Auch privat ein ernsthafter Wühler, lässt er nichts auf sich beruhen, was er nicht begriffen hat und liest alles, was ihm zu verstehen hilft. Durch seinen Großvater, Geschichtslehrer an einer Realschule, hat er einen vortrefflichen Gesprächspartner, was ihm zu einem Wissensvorsprung verhilft. Er meldet sich: „Nach dem Dreibund zwischen Österreich-Ungarn, Italien und Deutschland von 1882 ist Deutschland zu Waffenhilfe verpflichtet. Außerdem gibt es einen Vertrag zur Waffenhilfe zwischen Serbien und Russland aufgrund des Balkan-Bundes.“ Friedmann forscht weiter: „Deutschland beteiligt sich an dem Krieg gegen Serbien, was könnte weiter geschehen?“
„Russland könnte nach dem Eintritt Deutschlands aufgrund des nicht erneuerten Neutralitätsvertrages von 1890 in den Krieg gegen Deutschland eintreten. Da es außerdem ein deutsch-französisches Neutralitäts-Abkommen gibt, wären auch die Franzosen auf der Gegenseite dabei. Durch den Dreibund zu gegenseitiger Neutralität und Waffenhilfe verpflichtet, wären die Italiener auf der Seite der Deutschen. Über die britisch-französische Marine-Konvention sowie die Entente Cordiale die Briten auf der Gegenseite. Letztere verpflichtet beide gegenseitig zu Waffenhilfe.“ Hans hat sich in Rage geredet, und er ist außer Puste.
„Mann, Streber“, ist von Uwe zu hören, allerdings mehr anerkennend als abwertend, aber auch mit dem Unterton: ‚Wer soll sich das alles merken können?‘ Hans kennt das schon. Er zieht beide Schultern hoch, seine Stirn in Querfalten, legt seinen Kopf schief, schaut Uwe grinsend an und sagt: „Tja, Mann, nur kein Neid.“
Friedmann kann ein stillvergnügtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Er muss bei einem Schüler wie Hans seinen Stoff sauber vorbereiten, sonst geht er unter. Guter Ansporn. Macht aber Freude. Mit halbwegs gestrenger Lehrermiene fährt er fort:
„Das sind einige wesentliche europäische Bündnisse. Das Ganze ist nicht ungefährlich. Es könnte zu einem Domino-Effekt kommen. Winfried, was ist ein Domino-Effekt?“
„Ein Stein fällt um und reißt den nächsten mit, der nächste den übernächsten und so weiter, bis keiner mehr steht. Es kommt zu einer Bewegung, die sich verselbständigt und kaum aufgehalten werden kann“, sagt Winfried, der bei seinem letzten Halbsatz zögert, weil ihm einfällt, dass man das Ganze abbremsen könnte, wenn an einer Stelle rechtzeitig etwas eingeschoben würde, was den Fortgang der Fallbewegung stoppt.
Siegfried meldet sich wieder, die Mitschüler wollen hören, was er zu sagen hat, und ihre Köpfe drehen sich zu ihm hin.
„Das mit den Abkommen ist reine Theorie. Sie werden nicht akut werden, da die Deutschen, wenn es zum Schwur kommt, an der Seite Österreich-Ungarns die Serben in wenigen Wochen weghauen werden. So wie 1870/71 die Franzosen. Ist doch völlig klar! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das hier einer anders sieht, oder?“ Zunächst herrscht verunsichertes Schweigen, dann setzt ein allgemeines Gemurmel ein, das sich schnell wieder zu dem anfänglichen, lautstarken Stimmengewirr steigert.
Siegfried ist von dem, was sein Großvater ihm von 70/71 erzählt hat, für eine argumentative Diskussion gut gerüstet, fühlt sich stark und strotzt vor verbaler Kampfeslust. Mit gestraffter Brust ragt er auf und schaut in die Runde wie ein Sieger. „Das können wir sogleich klären“, sagt Friedmann, „wer von euch würde in den Krieg gehen, wenn es dazu käme?“ Alle Zeigefinger springen jetzt ohne Zögern nach oben bis auf die von Arthur und Wolfgang. „Kein Nationalgefühl!“, ist zu hören, „Feiglinge!“, ruft Siegfried leidenschaftlich. „Vaterlandslose Gesellen“, lässt sich Ortfried vernehmen, grinst aber in einer Weise, die das Gesagte als witzige Provokation, weniger als ernst zu nehmenden Diskussionsbeitrag definiert. „Na, na“, ist deshalb Friedmanns einziger Kommentar, begleitet von einem Kopfschütteln, andeutend, hier sei die Grenze des guten Geschmacks erreicht. Arthur und Wolfgang schauen sich um, sehen die große Einheitlichkeit der einen Meinung und heben nun ebenfalls widerstrebend die Hände. Ihrer beider Rücken sind tief über ihre Pulte gebeugt, die Augen selbstunsicher, mehr zweifelnd als zustimmend von unten aufwärts gerichtet, als schämten sie sich, und tauschen verstohlenen einen schnellen einvernehmlichen Blick aus.
Nach dem Unterricht diskutieren die Schüler, die Jacken über die Schulter geworfen oder um die Taille gebunden, die Büchertaschen zwischen die Beine geklemmt, auf dem Schulhof weiter. „Noch gibt es keine Kriegserklärung“, sagt einer. Ein anderer: „Aber wenn, bin ich dabei, logisch und Ehrensache!“
Arthur und Wolfgang erwägen auf dem Nachhauseweg weiter das Pro und Contra. „Ich denk’ da an meine Mutter“, sagt Arthur, „ich glaub’, sie käme nicht mehr in Schlaf, wenn ich in einen Krieg zöge.“ Wolfgang, den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern und bedrückter Miene hört seinem Freund zu. „Hast recht“, entgegnet er, vor sich auf den Weg schauend, seine Tasche unter einen Arm geklemmt und mit beiden Händen festhaltend, „die Mütter sitzen zu Hause und grübeln. Weil sie nicht wissen, was Sache ist, malen sie sich das Schlimmste aus und quälen sich. Vor allem, weil sie nichts tun können, außer vielleicht Socken stricken und Päckchen packen.“
„Wenn ich mir meinen jüngeren Bruder vorstelle oder meine kleine Schwester, denen ginge es auch nicht besser“, sagt Arthur. „Vielleicht haben die jungen Helden an der Front sogar Spaß, während ihre Mütter zu Hause weinen“, spinnt Wolfgang den Gedanken fort. „Spaß kann ich mir im Krieg nicht vorstellen. Hier sterben Menschen. Und wer mitmacht, muss schießen. Schießen oder erschossen werden, heißt dann die Losung. Du machst dir die Hände schmutzig, ob dir das gefällt oder nicht“, wendet Arthur grübelnd ein. Beide sind sehr nachdenklich geworden.
In den nächsten Tagen ist in den Zeitungen zu lesen, dass Kaiser Wilhelm II. in völliger Fehleinschätzung des europäischen Bündnissystems Österreich-Ungarn ermuntert, gegen Serbien vorzugehen. Daraufhin macht Serbien mobil, Österreich-Ungarn teilmobil. Russland beginnt mit Kriegsvorbereitungen und unterstützt die Serben. Beide gehören der panslawischen Bewegung an. Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg.
Am 31.07.1914 hört man die Jungen mit den Extra-Blättern: „Das Deutsche Reich erklärt die allgemeine Mobilmachung und den allgemeinen Kriegszustand.“
Die Kriegsbegeisterung in Deutschland wie auch in den anderen europäischen Staaten kennt keine Grenzen , ist in den Gazetten zu lesen.
Auch in Allensteins Straßen ist etwas zu spüren von dieser Hochstimmung. Männer in Gruppen, wild mit den Armen gestikulierend, politisieren stimmgewaltig und leidenschaftlich. Frauen auf dem Marktpatz, die Einkaufstaschen zwischen den Füßen, halten auf ihrem Heimweg inne, reden wie berauscht, nachdrücklich und mit hoher Stimme, zuweilen alle gleichzeitig und lauter als üblich. Männer trotten, die Zeitung lesend, vor sich hin, eine Feiertagszigarre im Mundwinkel. Hände winken fröhlich einander zu. Das Stimmengewirr auf dem bewegten Marktplatz und in den Wirtschaften klingt wie das wirre Summen eines aufgescheuchten Bienenschwarms.
Vom Holzkohlengrill ziehen Duftwolken safttriefender und goldbraun gerösteter Würste schon am Vormittag Passanten an. Der würzige Wohlgeruch von Gebratenem mit Senf vermischt sich mit dem Bukett der Astern, Zinnien und Nelken in den Blecheimern, der Zigarren und des Kaffees eines Ausschanks, an dem eine freundliche Marktfrau in blau-weiß kariertem Dirndl mit blauer Schürze mehr knusprig-fettglänzende Krapfen als sonst aus dem blasenwerfenden, siedenden Öl fischt und dick mit Puderzucker bestäubt. Kassen klingeln. Kinder rennen munter johlend umher, kleine schwarz-rot-goldene Papierfähnchen schwenkend. Sie beteiligen sich fröhlich trällernd an der allgemein aufgekratzten Stimmung, ohne den Grund dieser Volksfeststimmung zu kennen und umlagern mit munterem Stimmengewirr den bunt mit rosa, hellblau und gelben Eistüten bemalten Wagen des Eismannes.
Rauchige Schwaden von Bratöl tauchen das Marktgeschehen in einen blauen Dunstschleier von Unwirklichkeit.
Gustav liest abends Hermine aus der Zeitung vor: „Die vor dem Berliner Schloss wartende Menschenmenge stimmt, als sie die Nachricht vom Kriegsausbruch hört, spontan den Choral an: ‚ Nun danket alle Gott …‘ Menschen fluten mit Fahnen durch Berlin. Die Wirtschaften sind voll besetzt. Patriotische Lieder werden gesungen und Ansprachen gehalten. Hochrufe auf Kaiser, Heer und Marine sind allerorten zu vernehmen. Zwei Millionen Männer werden einberufen, melden sich freiwillig, werden ausgerüstet und bewaffnet.“
Hermine hört sich das an und schüttelt wieder und wieder den Kopf. „Spinnen die denn alle!“, sagt sie schließlich viel zu laut. Ihre Stirn kraust sie in Längs- und Querfalten, ihre graugrünen Augen funkeln unheildrohend. „Ist denn in Berlin keiner mehr, der noch klar denken kann?“
Arthur kommt zur Tür herein. Er wirkt erwachsener in dieser Zeit, aber noch schweigsamer als gewohnt. In diesen wortkargen Tagen, nach zahlreichen Streitgesprächen im Geschichtsunterricht, in den Pausen, auf dem Schulhof mit Mitschülern und dem Heimweg mit seinem Freund, ist in ihm, wie auch in Wolfgang, ein Entschluss gereift. Er sieht Vater und Mutter mit Zeitung und den neuesten Nachrichten beschäftigt und fasst sich ein Herz, zu offenbaren, was er nicht mehr verschweigen kann: „Unsere Klasse hat sich geschlossen zum Kriegseinsatz gemeldet.“ Als der Satz heraus ist, rumpelt sein Herz so, dass er bangt, seine Eltern könnten den wilden Herzschlag hören. Einen Augenblick lang befällt ihn Mutlosigkeit. Die sekundenlange Beklommenheit verdrängt er jedoch standhaft, schöpft tief Luft, und sein eiliger Herzschlag ebbt ab.
Er sieht seine Mutter nach Luft schnappen, ihre Lippen öffnen und formen sich zu einer Aussage, er kommt ihr zuvor: „Wir wollen alle dabei sein. Wir wollen schneller zurück sein als unsere Großväter 1870/71. Etwas anderes kommt für uns nicht in Frage.“
Gustav schaut seinen Sohn an und überlegt, wäre ich in seinem Alter, würde ich ebenso denken und reden. In gewisser Weise ist er stolz auf seinen Großen, der in diesen Tagen erwachsen geworden ist.



