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In einer unendlich langen Zeitspanne einen zeitlich endlichen Kosmos, dessen Dauer gegenüber der Ewigkeit immer so gut wie Null ist, anzunehmen, der von einem oder mehreren Wesen aus dieser Ewigkeit heraus bewußt erschaffen wurde, ergibt wenig bis keinen Sinn.
Setzt man Ewigkeit mit Zeitlosigkeit gleich, entgeht man zwar dem oben angesprochenen physikalischen Problem, erhält aber einige neue. Ein zeitloser Zustand kann sich nicht ändern; zu einer Veränderung braucht man immer Zeit, so daß an einem Zeitpunkt t 1 ein Zustand, an einem anderen Zeitpunkt t 2 ein anderer Zustand herrscht. Ein zeitloses Wesen, ob Gott oder nicht, könnte weder denken noch planen und somit keinesfalls einen Kosmos erschaffen, denn jede Handlung produziert eine Veränderung und erfordert damit Zeit. Das einzige (Hilfs-)Verb, das keine Zeit benötigt, ist „sein“. Ein zeitloser Gott könnte sein, aber nicht handeln.
Zudem, wenn es ein ewiges Leben nach dem Tod geben sollte, wäre dieses dann auch zeitlos, d. h. ohne jede Veränderung. „Leben“ kann man das kaum nennen, wenn man sich nicht mehr ändern, nicht mehr handeln, nichts mehr wahrnehmen kann. Von einem endgültigen Tod ohne jedes Jenseits unterschiede sich dieser Zustand nicht.
Bei diesen gedanklichen und logischen Schwierigkeiten nimmt es nicht Wunder, daß Theologen, die einen zeitlosen Gott als ewigen annehmen, ihm ab und zu zeitliches Eingreifen in die Welt zutrauen. Dies macht meiner Ansicht nach noch schlimmere Probleme als alles andere. Wie soll das physikalisch funktionieren, in einer Zeitlosigkeit von Zeit zu Zeit reale Zeitpunkte zum Handeln zu haben? Das ergibt keinerlei Sinn.
Die Annahme, daß man Schöpfer für den Kosmos brauche, kommt aus einer philosophischen Sicht, die zum Beispiel Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez, wie folgt formulierte [Car12]: De nihilo quoniam fieri nihil posse videmus. = „Denn wir sehen, daß nichts von nichts entstehen kann“, was oft zu Ex nihilo nihil fit = „Von nichts kommt nichts“ verkürzt wird.
Man geht hier davon aus, daß alles Existierende und besonders etwas, das irgendwie entstanden ist, also nicht immer existiert hat, eine Ursache haben muß. Für den Kosmos, der einen Anfang besitzt, muß es demnach eine Ursache geben, die in einem zuvor oder ewig existierenden Schöpfergott gesehen wird. Gegen diese Sicht gibt es einen logischen und einen physikalisch-philosophischen Einwand, letzterer stammt allerdings erst aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Die Annahme einer ununterbrochenen Ursache-Wirkungs-Kette, die eine Ursache für den Kosmos erfordert, bedingt ebenso, daß es für die Existenz des Schöpfergottes eine Ursache geben muß, womit man in einen infiniten Regreß gelangt, der hier an einer beliebigen Stelle, nämlich dem Schöpfergott, abgebrochen wird, für die es keinerlei logische Begründung gibt. Genausogut könnte man einen „Meta-Gott“ fordern, der den Schöpfergott erschafft, und dort die Kette abbrechen. Oder man bricht die Ursache-Wirkungs-Kette bei der Entstehung des Kosmos selbst ab, so daß philosophisch gar kein Schöpfergott notwendig wäre.
Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, die die Nobelpreisträger Niels Bohr und Werner Heisenberg formuliert haben und die heutzutage von den allermeisten Physikern akzeptiert wird, geschehen in der mikroskopischen Welt permanent indeterministische Vorgänge, auf die eine beständige und für alles geltende Ursache-Wirkungs-Kette nicht anwendbar ist [Hei55]. Dies gilt dann natürlich auch für die Entstehung des Kosmos, die man als ursachenloses Quantenereignis auffassen kann, insbesondere bei einem expandierenden Universum, das zu Beginn Ausmaße hatte, die im subatomaren Bereich liegen. Bei dermaßen kleinen Abständen der Raumzeit ist wegen der Heisenbergschen Unschärferelation [Hei27] energetisch so ziemlich alles möglich, auch die Entstehung eines gigantischen Universums.
Ein weiteres Problem mit Schöpfergottheiten, die den Kosmos um des Menschen willen hervorgebracht haben, sind die Ausmaße unseres Universums. Unsere Welt macht darin nur einen winzigen Ausschnitt aus, vermutlich gibt es unzählige weitere, auf denen Leben und wohl auch Intelligenz entstanden sein mag. Ein solch gigantisches Gebilde nur zum Zwecke des Menschengeschlechts zu erschaffen, erscheint wenig sinnvoll. In Zeiten eines Weltbildes, das sich aufgrund der limitierten Beobachtungsmöglichkeiten auf das Sonnensystem mit einer abschließenden Fixsternsphäre beschränkte, fiel dieser Umstand nicht auf. Vielleicht mag ein Schöpfergott mit dem Kosmos weit mehr intendiert haben, als uns zugänglich ist oder gar offenbart wurde; einsichtig erscheint mir das aber nicht.
Eine Mischform zwischen einem Schöpfergott und immanentem Polytheismus zeigen zwei ägyptische Schöpfungsmythen, jene aus Memphis und die Enneade von Heliopolis [Sha91]. Hier entsteigt der eine Gott, der den gesamten Kosmos inklusive aller anderen Götter erschafft, zunächst dem Nun, dem Urmeer. Im Mythos von Memphis ist es Ptah, der Baumeister, in der Enneade Atum, der Selbsterschaffene. Das Nun kann man mit dem Ginnungagap und dem Chaos vergleichen. Das Tohuwabohu im Alten Testament geht in dieselbe Richtung.
Die ungeordneten Zustände der literarischen Mythen vor dem Kosmos, ob nun Nun, Ginnungagap, Chaos oder Tohuwabohu genannt, lassen sich einigermaßen mit dem kosmologischen Zustand beim Urknall vergleichen, sei es nun ein Nichts oder nach neueren Hypothesen eine Art ewiger Quantenschaum, aus dem Universen als materielle Blasen entstehen [Vil07]. Oft gibt es noch Erweiterungen zu den Mythen, die von einem zyklischen Werden und Vergehen des Kosmos ausgehen, z. B. das Aufkommen einer neuen Welt nach Ragnarök in der nordischen Mythologie. Zyklische Konzepte werden von modernen Kosmologen ebenfalls diskutiert: Sollte die gesamte Masse des Universums groß genug sein, ist ein ewiger Zyklus von Expansion und Implosion aufgrund der Gravitation unausweichlich [Wei77].
Die empirische Tatsache, daß das Universum sich ausdehnt und somit einen Anfang gehabt haben muß, statt ewig zu existieren, wird von den Religionen gerne als Beweis für eine Schöpfung genutzt, die eine solche postulieren. Interessanterweise war es ein katholischer Priester und Astrophysiker, Georges Lemaître, der die erste Urknalltheorie formulierte [Lem27]. Schließlich sah man lange nur zwei Optionen, eine Welt mit einem durch einen transzendenten Schöpfer initiierten Anfang und ein ewiges Universum. So sagte schon Heraklit [Stä06]: „Diese Welt […] hat weder ein Gott noch ein Mensch geschaffen, sondern sie war immer, ist immer und wird sein ewig lebendes Feuer.“
Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben aber, sowohl einen zyklischen als auch einen endlichen Kosmos anzunehmen, der ohne transzendente Ursache aus einem zeitlosen Nichts oder Quantenschaum spontan entstanden ist, wenn man die gängige Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik mit einbezieht.
In Anbetracht all dieser Umstände halte ich die Grundidee der Weltwerdungsmythen für weitaus sinnvoller und besser zu den naturwissenschaftlichen Tatsachen passend als jene Mythen, die von einer Schöpfung des Kosmos als Handlung eines oder mehrerer höherer Wesen erzählen.
Ebenfalls eng mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind die Mythen, die von der Entstehung des Menschengeschlechts berichten. Hier sind in allen mir bekannten Mythen die Götter involviert, so daß man fragen kann, wie das mit der Evolutionstheorie zusammenpaßt, nach der das Leben von allein entstanden ist, sich selbst weiterentwickelt und so auch den Menschen ohne Planung oder äußere Einflußnahme hervorgebracht hat.
Hierbei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen der schon erläuterte Umstand, daß ein Mythos eine Lehre enthält, die nicht unbedingt etwas mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun haben muß, zum anderen die Vorstellung, die man mit den in den Mythen agierenden Göttern verbindet und die wir im nächsten Kapitel im Detail analysieren werden.
Nimmt man die Götter zum Beispiel als personifizierte Naturgesetze, so wie Jordan in seiner Edda-Übersetzung die Götter einige Male „Ordner“ nennt [Jor01], dann ist die „Erschaffung“ der Menschen durch diese Götter ein völlig natürlicher Vorgang.
Gerade bei der Erschaffung der Menschen in der Völuspa gibt es vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Rein wörtlich finden die Götter Odin, Hönir und Lodur am Strand zwei Baumstämme, die sie durch die Gabe diverser Eigenschaften und Fähigkeiten in das erste Menschenpaar Ask und Embla (= „Esche und Ulme“) verwandeln.
Nun ist eine Schöpfung des Menschen aus Bäumen ein sehr archaischer Mythos [Tho58] und mag von den Erzählern der Völuspa so beabsichtigt gewesen sein – es sind hier aber weitere Deutungen möglich: So mögen die Baumnamen rein symbolisch oder poetisch gemeint gewesen sein, und die Menschwerdung ist hier die erste Begegnung mit und der Erhalt gewisser Fähigkeiten von den Göttern. Es geht also nicht um die biologische Erschaffung des Menschen, sondern um seine kulturelle beziehungsweise zivilisatorische Entwicklung. Der Kontakt mit den Göttern, bei dem der Mensch Gaben erhält, was man als die Erlangung ganz neuer Arten von Wissen deuten kann, versetzt den Menschen auf eine andere Entwicklungsstufe. Evolutionär geschah das natürlich nicht zu einem Zeitpunkt, sondern über einen sehr langen Zeitraum, aber im Mythos kann man das konzentriert darstellen.
Aus heutiger Sicht wissen wir natürlich, daß alle Lebewesen auf der Erde evolutionär miteinander verwandt sind, so daß eine moderne Interpretation dieser Stelle der Völuspa die biologische Verwandtschaft des Menschen mit allem Leben als möglichen Hintergrund für die Bäume sieht. Dazu paßt, daß die Götter die Menschen nicht aus unbelebtem Material einfach so herstellen, sondern sie „lediglich“ auffinden. Die Anführungsstriche habe ich gesetzt, weil ich das „lediglich“ in diesem Kontext keinesfalls abwertend meine, eher im Gegenteil.
Interessant ist auch, wie sehr Mythen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen sich ähnlich sehen. Soweit ich das überblicken kann, enthalten zum Beispiel alle indogermanischen Religionen den Kampf eines Gottes, meistens eines Wettergottes, oder Helden gegen eine Schlange oder einen Drachen. In den Veden ist es Indra gegen Vithra [Thi77], bei den Hethitern Tarhunna gegen Illuyanka [Sch65], bei den Griechen Herakles gegen die Hydra [Sch82], bei den Germanen Thor gegen die Midgardschlange oder Sigurd gegen Fafnir, den Lindwurm [Sim76]. Selbst im Christentum wird Satan gerne als Schlange dargestellt, die von Jesus erfolgreich bekämpft wird, und es gibt dort die Legende vom Drachenkampf des heiligen Georg [Vor07]. Der Kampf eines Gottes oder Helden gegen eine den Menschen bedrohende Macht wird also über einen langen Zeitraum in unterschiedlichsten Kulturen mit sehr ähnlichen Bildern dargestellt, was nun kein Wunder ist, erzählen die Mythen doch von Archetypen, und die sind nun mal identisch.
Ebenso interessant und erstaunlich ist, wie sehr sich die alten Mythen im Brauchtum niedergeschlagen haben und auch von Menschen praktiziert werden, die keinerlei Bezug zu ihnen haben noch sie kennen. So gibt es hierzulande immer noch den Brauch, zu Weihnachten keine Wäsche zu waschen oder aufzuhängen. Dies ist mitnichten ein christliches Arbeitsverbot, sondern geht wohl auf die Furcht zurück, daß sich in den zur selben Zeit stattfindenden Rauhnächten, in denen die von Wodan angeführte Wilde Jagd tobt, sich die Geister der Toten in den Wäscheleinen oder aufgehängten Wäsche verfangen oder sie gar stehlen könnten und im weiteren Verlauf des Jahres als Leichentücher für den Besitzer nutzen könnten. Weiteres zu den Rauhnächten in [Frü99].
Ob einem die Inhalte der Mythen nun zusagen oder nicht, und ob man sie kennt oder nicht – die kulturelle Bedeutung, so unscheinbar sie auch bei obigem Beispiel sein mag, zeigt, wie sehr sie das menschliche Gemüt dazu animieren, sich auf feste, gegebene Grundformen, eben jene Archetypen, zu beziehen.
Schwierig wird es, wenn ein Mythos von einer Kultur zur nächsten, von einer Zeit zur nächsten und somit von einer Sprache zu einer anderen weitergegeben wird. Man kennt es von Diskussionen um Bibelübersetzungen, bei denen man eigentlich Griechisch oder Hebräisch können muß, um den Inhalt und die dahinterliegende Intention vollständig begreifen zu können. Bei den nordisch-germanischen Mythen, so sie denn aus den Eddas stammen, ist das genauso, wobei noch hinzukommt, daß nicht nur das Altnordische übersetzt wird, sondern auch die verwendeten Worte den Stabreim nachbilden sollen. Dies macht es oft schwierig, überhaupt einen zum Original passenden Begriff zu finden, und treibt mitunter den Leser arg verwirrende Blüten.
Ein Beispiel aus der Völuspa. – Keine Angst, ich möchte mich auf vier Originalverse beschränken [Mun47]:
Áðr Burs synir bjöðum um ypðu,
þeir er Miðgarð mœran skópu;
sól skein sunnan á salar steina,
þá var grund gróin grœnum lauki.
Simrock übersetzte dies folgendermaßen [Sim76]:
Bis Börs Söhne die Bälle erhuben,
Sie, die das mächtige Midgard schufen.
Die Sonne von Süden schien auf die Felsen
Und dem Grund entgrünte grüner Lauch.
Und Jordan so [Jor01]:
Bis Bur erzeugte die Zirkelbahnen,
Geschaffen für sie, worauf sie den schönen
Garten der Mitte gemodelt, die Erde.
Von Süden besonnt ward die starre Steinflut
Und die Gründe grünten von Gräsern und Kraut.
Bälle? Zirkelbahnen? Der Google-Übersetzer [Goo12] macht aus der ersten Zeile grob „bis Burs Söhne die Last gehoben“, kennt allerdings kein Altnordisch, nur Isländisch, was zu Bedeutungsverschiebungen einzelner Worte führen kann. Kombiniert man Simocks und Jordans Übersetzungen, kann man „Bälle“ als Planeten deuten und „Zirkelbahnen“ als deren Umlaufbahn um die Sonne, aber ob dies vor tausend Jahren und früher wirklich gemeint war, wage ich zu bezweifeln, auch wenn es von der Bedeutung her gewiß nicht falsch ist, statt der Erde das gesamte Sonnensystem als von den Göttern geordnet anzusehen.
Henry Adams Bellows übersetzte dagegen [Poe12]:
Then Bur’s sons lifted the level land,
Mithgarth the mighty there they made;
The sun from the south warmed the stones of earth,
And green was the ground with growing leeks.
Mit dieser englischen Übersetzung als Vorbild, die, so finde ich, weit hübscher und passender als die deutschen Versuche klingt, versuche ich mich nun darin:
Bald erhoben Burs Söhne das ebene Land,
Das mächtige Midgard machten sie dort,
Die Sonne im Süden schien auf die steinige Erde,
Und grünes Gras wuchs auf warmem Grund.
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