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Im Körper vermittelt das beide Male der gleiche Schenkel des sogenannten vegetativen Nervensystems, der Sympathikus. Über dessen Nervenleitungen und die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin wird für die schnelle, wache Aktion alles hochgeregelt. Begleitend werden weitere Hormone, insbesondere Stresshormone wie Kortisol, freigesetzt. Diese steuern dann eine zweite, etwas länger andauernde Welle an Körperreaktionen, die für Kampf, Flucht oder Jagd benötigt werden. Eine Folge ist etwa ein geringeres Schmerzempfinden. Zusätzlich verschwendet unser Körper keine Energie für Heilungs- oder Reparaturprozesse.

→ Abb. 1.5 Stressregulierende Systeme im Körper, Vgl. Van den Brink, E. und Koster F., Mitfühlend leben: Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken: Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München: Kösel-Verlag, 2013, sowie: Gilbert, Paul, Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Freiburg: Arbor Verlag, 2011.
Generell wird unser Körper durch den Sympathikus bis in die letzte Faser aktiviert. Er fährt alles herunter, was wir uns gerade nicht leisten können, etwa die Verdauung. Schließlich macht es keinen Sinn, auf der Jagd oder Flucht anzuhalten und zu pinkeln.
Nun müssen wir ja heutzutage selten wirklich kämpfen, fliehen oder unsere Nahrung jagen. Wir haben zu großen Teilen einen zivilisierten Umgang miteinander gefunden und kraftsparendere Wege, um an unsere Nahrung zu kommen. Dennoch greifen wir bei stressigen Anforderungen in der Arbeit oder innerhalb der Familie auf die gleichen alten Regelsysteme zurück.
Angst aktiviert das rote Alarmsystem, Ärger und Wut ebenfalls. Ursprünglich ging es ums Überleben. Heute reichen schon Befürchtungen oder Grübeln darüber, was Schlimmes passieren könnte. Der Zielzustand ist Sicherheit.
Etwas unbedingt haben zu wollen, Ziele erreichen zu wollen oder zu müssen, aktiviert unser blaues Antriebssystem. Ursprünglich ging es um Wasser, Nahrung und Fortpflanzung. In unserer Ist-Welt fällt heute darunter auch Leistung, Streben nach Besitz, Konsum, Erfolg, Wachstum, Weiterentwicklung, Neugier und Erforschen. Der Zielzustand ist die Sättigung.
Dass beide Systeme das Stressprogramm des gesamten Körpers anknipsen, können wir wahrnehmen. Unser Körper eignet sich deshalb bestens als Frühwarnsystem. Eines, das uns anzeigt, wie hoch wir denn gerade schon drehen oder welche Betriebstemperatur bereits erreicht ist. Das ist der Grund, warum achtsamkeitsbasierte Methoden so viel Wert auf Übungen zur Körperwahrnehmung legen.
Sind wir im Stress, verbrauchen wir ständig Energie. Auf Dauer muss dieser Zustand wieder beendet werden, sonst gehen wir ein. Fanden unsere Vorfahren keinen Ausweg aus dem roten beziehungsweise blauen Bereich, wurden sie gefressen oder verhungerten. Heute kennen wir zum Teil die Mechanismen dahinter. Wir verstehen, dass für chronische Stressreaktionen bis hin zum „Burn-out“ ein ständig aktiviertes Alarm- und Antriebssystem verantwortlich ist.
Stress kann also rot, blau oder beides sein.
Welche Farbe hat die Erholung?
Die beiden Aktivierungssysteme Rot und Blau brauchen einen Gegenspieler: das Fürsorgesystem. Das ist in der Abbildung im unteren Feld grün dargestellt. Es steht für Erholung, wirkt sich beruhigend auf den Körper aus und wird durch den Parasympathikus beeinflusst.
Im grünen Fürsorgesystem sorgt dieser andere Schenkel des vegetativen Nervensystems dafür, dass Atmung und Herzschlag langsamer werden, die Muskeln sich entspannen. Die Durchblutung wird mehr auf die inneren Organe ausgerichtet, Nahrungsaufnahme und Verdauung werden angeregt. Unsere Energiespeicher, die wir für eine Aktion geleert haben, können nun wieder aufgefüllt werden.
Interessanterweise ist dieses System eher WIR-zentriert. Es geht weniger um MEIN Überleben, MEINE Sättigung oder MEINE Erholung. Im Laufe unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung als Säugetiere hat sich Beruhigung durch Nähe und Fürsorge von anderen als nützlich erwiesen. Das erleben wir schon im Bauch der Mutter und fortwährend ab der Geburt. Läuft unser Gehirn im grünen System sind wir voll auf Beziehung und Bindung mit anderen ausgerichtet. Wir empfinden Verbundenheit und Wohlgefühl.
Egal, welches Regulationssystem wir betrachten, keines ist besser oder schlechter als das andere. Wir benutzen sie alle drei und brauchen sie alle drei zum Überleben. Vielmehr geht es um das Gleichgewicht innerhalb des jeweiligen Systems und das ausbalancierte Zusammenspiel der Systeme untereinander. Wir können sehr gut in den Aktivierungsmodus der drei Systeme schalten. Die jüngsten menschlichen Anteile in unserem Gehirn spielen uns aber oft einen Trick.
Wie läuft das bei den anderen Säugetieren? Unsere Katze liegt beispielsweise häufig genüsslich in der Sonne; mit Haut und Haaren im grünen System. Ihr Ohrenspiel zeigt aber, dass die anderen Systeme nicht ganz abgeschaltet sind. Landet ein Vogel in der Nähe, fährt sie ruckzuck in Blau hoch und geht auf Pirsch. Wenn ein Hund vorbeikommt, schaltet sie ruckzuck auf Rot um, faucht und bringt sich in Sicherheit. Was sie allerdings viel besser kann als wir Menschen, ist wieder zurück ins grüne System zu gelangen, sobald Vogel oder Hund aus ihrem Umkreis verschwunden sind.
Das ist beneidenswert. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen. Öfter mal den Katze-liegt-in-der-Sonne-Modus anknipsen, wenn es eben geht – und nach Stress schneller wieder raus aus Rot und Blau. Das ist leichter gesagt als getan, weil wir noch eine weitere andere Hirnregion in uns tragen, die uns manchmal einen Streich spielt: das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk („default-mode-network“).
Das Ruhezustandsnetzwerk liegt recht zentral im Gehirn, in einem noch „jüngeren“ Areal. Untersuchungen zeigen hier eine hohe Aktivität, insbesondere, wenn wir in Ruhe sind und unseren Geist wandern lassen. Wissenschaftler vermuten, dass wir in diesem Netzwerk die Idee von uns selbst als Person entwickeln. Dabei können wir uns in die Vergangenheit und in die Zukunft „beamen“ und alle erlebten kritischen Situationen noch einmal analysieren beziehungsweise mögliche kritische Situationen durchspielen. Das bringt uns aus friedlichem Grün in Rot und Blau.
Wir haben also tatsächlich eine Hirnabteilung, die Probleme erfindet, um sie als eine Art geistige Aufgabe zu lösen, wenn wir in Ruhe sind. Nun scheint sich dieser Prozess in der Evolution bewährt zu haben. Gleichzeitig verdeutlicht er aber, dass bei der Entstehung des Gehirns ganz klar das Überleben des Menschen im Vordergrund stand und nicht etwa das Glücklichsein. Zur Ehrenrettung des Ruhezustandsnetzwerks muss ich allerdings anfügen, dass es eben auch für die genialen Geistesblitze zuständig ist, die uns zum Beispiel auf dem Klo ereilen und scheinbar aus dem Nichts in den Kopf fallen und etwas lösen, an dem wir schon lange geknobelt haben.
In Studien konnten Wissenschaftler belegen, dass die Achtsamkeitsmeditation einen integrierenden und beruhigenden Einfluss auf das Ruhezustandsnetzwerk hat. Diese Übung kann uns helfen, es den Katzen gleich zu tun, also schneller wieder in den friedlichen grünen Bereich zu kommen. Auf jeden Fall müssten wir dann weniger fiktive Probleme wälzen.
Nach den Emotionen nehmen wir nun gemeinsam die Motivation in den Blick. Wir entdecken, warum wir etwas tun wollen. Als Eltern betreten wir an dieser Stelle den Hauptschauplatz unseres Freuds und Leids.
Welche Farbe hat Lernen in der Schule?
Die Schule als Ort des Lernens wirft ständig die Frage nach Motivation auf. Motivation ist quasi der Treibstoff für Leistung. Welche Schüler sind gering oder hoch motiviert, dem Unterricht zu folgen? Wie motiviert ist der Lehrer, den Stoff zu vermitteln? Und wie beeinflussen die schulischen Leistungen unserer Kinder unsere Motivation als Eltern?
Um unsere Kinder in der Schule zum Lernen zu bewegen, werden Rot, Blau und Grün in unterschiedlicher Weise angesprochen. Jedes der drei Systeme ist durch einen eigenen Motivator getrieben.
Im roten System ist Angst der Motivator. Kinder lernen, um etwas Schlimmes zu vermeiden, zum Beispiel einer Strafe zu entgehen, negativ aufzufallen oder schlechte Noten zu erhalten.

→ Abb. 1.6 Rotes System
Im blauen System ist das Erreichen eines Ziels der Motivator. Schule spricht das blaue System an, wenn Belohnungen in Aussicht gestellt werden, etwa gute Noten, Medaillen und Preise.

→ Abb. 1.7 Blaues System
Lernen in der Schule funktioniert auch über das grüne System. Aber wie oft wird das tatsächlich genutzt? Das hieße Kinder über Beziehung und Bindung ansprechen und Lernen durch Verbundenheit und Freundlichkeit in einem Klima der Fürsorge zu ermöglichen.

→ Abb. 1.8 Grünes System
In welcher Farbe motivieren wir uns selbst und als Eltern?
Was Kinder beim Lernen in der Schule antreibt, ist auch bei Erwachsenen beziehungsweise Eltern nicht anders.
Wenn wir uns mit dem roten System selbst motivieren, dann „mit der Peitsche“. Wir treiben uns an, damit nichts Schlimmes passiert – aus Angst vor Kritik und Tadel oder negativen Konsequenzen und Sanktionen. Furcht oder Angst sind ständig präsent.

→ Abb. 1.9 Rotes System
Wenn wir uns selbst im blauen System antreiben, dann „mit der Karotte vor der Nase“. Wir haben ständig das nächste Ziel vor Augen und wollen uns permanent erfolgreich fühlen. Oft suchen wir uns dann „nach der Medaille“ schnell den nächsten Wettkampf, das nächste Ziel, das es zu erreichen gilt. Höher, weiter, besser. Erfahrungsgemäß währt die Freude der Medaillenfeier nur kurz. Es folgen lange, unzufriedene Phasen, die mit dem Streben hin zum nächsten Ziel gefüllt werden.

→ Abb. 1.10 Blaues System
Im grünen System können wir uns Selbstfreundlichkeit, Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge schenken. Wir tun Dinge und schaffen uns Raum, weil wir es wirklich gut mit uns meinen. Der Motivator ist dabei die Verbundenheit – mit uns selbst, mit den anderen und der Welt.

→ Abb. 1.11 Grünes System
Glück oder langfristiges Wohlbefinden ist grün
Im grünen System könnten wir also das längerfristige Glück oder Wohlbefinden entdecken. Die wesentlichen Anlagen sind vorhanden. Trotzdem suchen wir eher die kurzfristigen „Belohnungs-Highs“ im blauen System. Der Psychologe Martin Seligmann definiert Wohlbefinden als die Erweiterung des Glücksbegriffes, in seinem Konzept der „Positiven Psychologie“ anhand von fünf Säulen:
• positive Emotionen spüren
• sich für etwas engagieren
• Sinn erleben, als etwas das größer ist als unser ICH
• Erfolg, etwas bewegen zu können, Zielerreichung
• positive Beziehungen und Verbundenheit.
Deklinieren wir das Ganze einmal durch. Eine wesentliche Voraussetzung zum Wohlbefinden ist, dass der rote Bereich relativ in Ruhe ist, wir sicher sind. Das ist sozusagen der Boden, auf dem die Säulen stehen. Säule 1 ist eine Folge davon. In den Säulen 2 und 4 steckt das blaue System. Sich zu engagieren und Ziele zu erreichen, benötigt Energie und wir erwarten eine Belohnung dafür.
Betrachten wir das Modell aber genauer, fußen die Säulen größtenteils auf Faktoren, die wir im grünen System finden. Auch Engagement beinhaltet meist das Grün der Fürsorge. Säule 3, das Sinn erleben für etwas, das größer als man selbst ist, ist eindeutig Grün. Und positive Beziehungen und Verbundenheit, Säule 5, sind ja der Kern des grünen Systems.
Zusammengefasst ist Wohlbefinden also im Wesentlichen Grün. Gerade für uns als Eltern und unsere Familien ist das sehr wichtig. Unser aller Wohlbefinden hängt nicht nur von kurzfristiger Zielerreichung und dem Tun ab. Es gibt darüber hinaus weitere wichtige Elemente der Säulen des Wohlbefindens, die auf Fürsorge und dem SEIN basieren:
• Freude über das am Leben sein und mit der Familie im Fluss des Lebens sein
• Freude über die Bindungen mit den Kindern, dem Partner, der erweiterten Familie
• Freude über Verbundenheit in den verschiedenen Gruppen und „Clubs“, deren Mitglied wir sind und am besten mit der Menschheitsfamilie als Ganzes.
Darf’s ein bisschen mehr Grün sein?
Wir können als Eltern auf vielen verschiedenen Ebenen etwas lernen, wenn wir diese Systeme bei uns betrachten.
Wir können uns im aktuellen Moment fragen: „Wie takte ich denn gerade? Rot? Blau? Grün?“Wenn wir eine Anspannung im Nacken haben, kurzatmig werden, der Puls hochgeht oder eine andere unangenehme Empfindung spüren, können wir uns fragen: „Stehe ich gerade unter Stress?“
Genau an diesem Punkt lohnt es sich, weiter zu forschen, was mir Stress verursacht.
Bin ich im roten System, getrieben von Befürchtungen/Angst? Welche Qualität haben diese Befürchtungen, hat diese Angst? Ist das hilfreich, reagiere ich übertrieben oder ist es gar falscher Alarm?
Ein anderes Beispiel:
Bin ich im blauen System, im Streben? Fühle ich mich angestrengt, weil ich etwas unbedingt erreichen will, oder weil die Dinge unbedingt so laufen sollen, wie ich es mir wünsche? Stehe ich unter Druck, weil ich einen genauen Plan verfolge und Erwartungen habe, aber meine Kinder gerade nach etwas ganz anderem streben?
Oft lohnt die Frage, wie oft ich denn heute überhaupt schon im grünen System war.
Manchmal feuern sich die Systeme auch gegenseitig an. So können wir angestrengt im blauen System streben, weil wir unbedingt diese Leistung oder jenes Ziel erreichen wollen. Beim näheren Erforschen entdecken wir dann, dass uns eigentlich das rote System dahinter antreibt. Wir strengen uns so sehr an, weil wir befürchten, getadelt zu werden oder dass andere unzufrieden mit uns sind. Manchmal steckt auch die Angst dahinter, nichts wert zu sein, wenn wir nicht genügend geleistet haben.
Obwohl wir Eltern ja ständig die Verantwortung für unsere Kinder tragen, können wir nicht andauernd im aktivierten Zustand unseres Alarm- und Antriebssystems durch das Leben gehen. Auch wir brauchen dringend Ruhe- und Erholungsphasen. Das ist kein Luxus und schon gar keine Faulheit, das ist ÜBERLEBENSNOTWENDIG!
Permanente Alarmbereitschaft lässt uns Eltern heiß laufen und führt auf Dauer zu Schäden. Wir können zwar im Alltag immer wieder kurzfristig aus Angst oder durch Willenskraft Höchstleistungen abrufen, aber die Anspannung muss auch wieder abklingen. Wir müssen zur Ruhe kommen, sonst erschöpfen wir uns.
Überanstrengte, heiß gelaufene Eltern sind weder besonders leistungsfähig und belastbar, noch sind sie locker und freundlich. Sie stellen sogar, das belegen Studien, einen Risikofaktor für die gesunde, psychische Entwicklung ihrer Kinder dar. Das heißt, ausreichende Pflege des eigenen grünen Systems ist das Beste, was wir Eltern auch für unsere Kinder und deren Wohlbefinden tun können. Wir pflegen dann gewissermaßen gleich das grüne System unserer Kinder mit und können mehr Mitgefühl und Fürsorge an sie weitergeben.
Wenn wir genau hinschauen, wollen uns unsere Kinder oft einladen, mit ihnen im grünen System zu verweilen. Ihnen gelingt es oft viel leichter, im Hier und Jetzt zu sein. Ob im Spiel oder woanders, sie sind häufig tiefenentspannt, fühlen sich wohl, sind ganz im grünen System. Wir sollten mehr dieser Einladungen annehmen und uns mit ihnen im „GRÜNEN“ treffen. Das ist wunderbar für die Verbundenheit und stärkt unsere eigene psychische Widerstandskraft (Resilienz) und die unserer Kinder.
Wo bin ich besonders geübt: Rot, Blau oder Grün?
Wir müssen das Verhältnis unserer drei Systeme zueinander auch über den Moment hinaus und übergeordnet betrachten.
Nehmen wir uns doch ein paar Minuten Zeit, lassen uns von jeder der folgenden Fragen eine Weile bewegen und sammeln die Antworten:
Wie sind denn meine drei Systeme verteilt?
Sind sie untereinander gleich stark entwickelt und oft in Balance?
Bin ich jemand, der stark und oft im roten System lebt?
Sind es Angst und viele Befürchtungen, die mich antreiben?
Bin ich ein Workaholic, ständig in blauer Aktion, ständig am Tun?
Bin ich ein ehrgeiziger Leistungserbringer, der sich selbst die Latte zu hoch legt, und beim Erreichen gleich noch höher auflegt?
Bin ich gesegnet mit einem starken grünen System als Fundament oder habe ich nur ein eher schwach entwickeltes grünes System?
Wo komme ich her?
Die drei Systeme erlauben ebenfalls aufschlussreiche Rückblicke auf unsere eigene Biografie:
Welches System wurde bei mir als Kind besonders gefördert?
Welches System habe ich gebraucht, um in meiner Welt damals klarzukommen?
Als Therapeut begegnen mir in meiner Praxis als Patienten oft Menschen mit stark entwickelten und „durchtrainierten“ roten Systemen.
Wenn ein Kind zum Beispiel mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen musste, dann hat es wahrscheinlich ein stark ausgeprägtes und sensibles rotes System entwickelt. Dieses Kind ist hervorragend darin trainiert einzuschätzen, in welcher Stimmung und mit welchem Promillegehalt die Mutter oder der Vater nach Hause gekommen ist. Aus Angst hat es gelernt, sein Verhalten anzupassen, um Schläge zu vermeiden. Im Erwachsenenalter hat dieses Kind möglicherweise eine hohe Sensibilität für die Stimmungen anderer Menschen und will es ihnen recht machen.
Es könnte aber auch das erfahrene Leid als starke Wut im roten System abgelegt haben. Wenn dieser Mensch sich beeinträchtigt fühlt, kocht er schnell hoch.
Wächst ein Kind mit einem sehr ängstlichen Elternteil auf, übernimmt es die Sicht, dass die Welt voller Gefahren ist. Die Folge ist eine sehr empfindlich eingestellte Alarmanlage im roten System, die übermäßig schnell ausgelöst wird und andauernd Gefahr meldet. Als Elternteil gibt dieser Mensch seine supersensitive Einstellung des roten Systems an seine Kinder weiter. Auch Menschen mit stark ausgeprägtem blauen System kommen in meine Praxis.
Diese Menschen sind als Kinder engagierter, sehr ehrgeiziger, rationaler und leistungsorientierter Eltern aufgewachsen und gehen mit einem intensiv trainierten blauen System durch ihr Leben. Sie haben erlebt, dass vor allem ihre sehr guten Noten zählen und sie belohnt werden, wenn sie alle Erwartungen erfüllen. Darüber hinaus haben die Eltern diese Kinder spüren lassen, wenn sie einen Fehler begangen haben und eben nicht alles perfekt war. Ihr spielerisches Kind-Ich wurde nicht gewürdigt oder sogar als lästig empfunden – „Der Ernst des Lebens …“, „Du bist nur was wert, wenn du was schaffst…“.
Weil sich diese Menschen von klein auf angestrengt haben, immer brav zu sein und die geforderte Leistung zu bringen, lehnen sie aus Angst im Erwachsenenalter kaum Aufgaben ab. Sie befürchten, ansonsten nicht mehr gemocht zu werden. War der Leistungsgedanke in der Kindheit nicht so stark, sind diese Menschen oftmals gern gesehene und sehr leistungsfähige Mitarbeiter. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sie sich „in den Burn-out schaffen“. Wohin ein übertrieben stark ausgeprägter Leistungsgedanke schlimmstenfalls führt, sehe ich zum Beispiel bei den meisten meiner Patientinnen mit Magersucht.
Die Menschen dagegen, die viel Bindung erleben und ein starkes grünes System entwickeln konnten, die sehe ich nicht als Patienten. Die brauchen keine Psychotherapie.
Schaue ich in meine eigene Biographie, kann ich die Ausprägung der drei Systeme und ihre Verknüpfung klar erkennen.
Ich selbst habe ein intensives Training des blauen Systems erfahren, – durch den Druck, den mein Vater bezüglich Schule und Leistung aufgebaut hat. Ich kenne auch die Auflehnung und Rebellion dagegen. Das zog ein Pendeln zwischen „Leistungsaufträge müssen unbedingt und möglichst gut erfüllt werden“ und einem massiven Widerwillen gegen die Aufträge nach sich. Sie nicht zu erfüllen, verursachte wiederum Angst im roten System und infolge dessen den Vorsatz, es doch lieber sehr gut zu machen und die Erwartungen zu erfüllen. Bis der Widerstand wuchs und das Pendeln weiterging.
Mein hoch entwickeltes blaues System und mein Druck, alles stets besonders gut zu machen, haben offensichtlich mit einem verborgenen Auftrag meines Vaters zu tun: Sein Sohn sollte nicht denselben Fehler machen wie er und mit der Schule aufhören. Mein Vater wollte wiederum nicht die Fehler wiederholen, die er zeitlebens seinem Vater vorgeworfen hat: nicht genügend motiviert und sich nicht genügend gekümmert zu haben. Das hat er dann übertrieben.
Dass hinter meinem intensiven Training des blauen Systems eine tief im roten System verwurzelte Angst steckt, habe ich aber erst mit Ende 40 erkannt. Sie entstand aus dem Vorsatz, den ich als kleiner Junge gefasst hatte: „Nie will ich einmal so enttäuscht und unzufrieden mit mir selbst sein wie mein Vater es mit sich ist!“ Über lange Jahre habe ich dann gestrampelt, um alles sehr gut und zur Zufriedenheit anderer zu machen, mir selbst vorauszueilen und immer alles abzusichern. Nur, damit ich mir ja niemals Vorwürfe machen muss.
Nach diesem Muster verfahre ich natürlich nicht immer, vor allem dann nicht, wenn ich mit aller Energie eine Herzensangelegenheit verfolge. Aber für viele andere Anforderungen, die an mich gestellt werden, war diese Erkenntnis wirklich hilfreich. Sie erleichtert es mir jetzt, meine Kräfte nach eigenem Willen einzuteilen. Ich neige weniger dazu mich zu verausgaben, aus Angst, nicht zu genügen.
Vielleicht erklärt diese Geschichte meiner Systeme, warum mich das Thema Selbstmitgefühl so stark anspricht und warum ich es gerade auch an Eltern weiter vermitteln möchte.
Die Erkenntnis, wie Antrieb und Motivation in Rot-Blau-Grün zusammenhängen, war für mich Augen öffnend. Es macht einen großen Unterschied zu wissen, wie mein Gehirn und mein Geist zusammenspielen. Ich spüre schneller, wenn ich mich in alten Mustern verfange. Vor allem aber kann ich selbst bestimmen, welches System ich füttern, trainieren oder wachsen lassen will.
Dennoch hilft die Erkenntnis nicht automatisch, die bestehenden Muster aufzulösen. Es bedarf kontinuierlicher Arbeit und wiederholten Übens. Angst zum Beispiel ist ein mächtiger Gegner und kommt bei mir schnell auf, wenn ich meine, etwas sei nicht gut genug gelungen oder wenn ich mich einfach „doof“ fühle. Und ich bin sicherlich der Letzte, der es ablehnt, noch mehr in Grün zu sein.
Wir haben gesehen, wie die Systeme Rot, Blau und Grün unser Fühlen und Handeln als Kinder und später als Eltern beeinflussen. Zudem haben wir erfahren, wie diese drei Systeme die Schullaufbahn und vor allem das Wohlbefinden unserer Kinder steuern können. Wie diese Systeme von der Gesellschaft beeinflusst werden, wollen wir in Kapitel 2 genauer erkunden.
Kurz und knapp:
• Wir haben drei bewährte Systeme zur Regulation von Emotionen und Motivation: Alarm – Antrieb – Bindung/Fürsorge.
• Jedes der Systeme ist hilfreich und sinnvoll. Aber wie sind sie in Balance?
• Im Eltern-Stress ist es hilfreich, sich zu fragen: Bin ich gerade in Rot, getrieben von Befürchtungen? Bin ich in Blau, getrieben vom Streben und meinen Erwartungen? Und muss das jeweils sein?
• Wie oft sind wir überhaupt, wann waren wir zuletzt im grünen System? Das grüne System ist überlebensnotwendig als Ausgleich zu den Aktivitäten in Rot und Blau.