- -
- 100%
- +
• Wir können uns selbst anschauen: Welches System überwiegt? Welches System wurde in meiner Biographie besonders trainiert? Welches will ich in Zukunft besonders fördern?
* Es geht mir an dieser Stelle nicht um die oft in Ratgebern diskutierte Frage, ob zu viel und inflationär gelobt wird oder viel zu wenig. Mir geht es um die Empfangsbereitschaft unseres Gehirns. Statt Lob könnte ich auch „positive Rückmeldung“ sagen. Gemeint ist die Resonanz aus unserem Elternherzen im Sinne einer persönlichen Freude und Mitfreude unsererseits und in welchem Verhältnis unsere Kinder diese im Vergleich zu Kritik wahrnehmen. Es ist ein anderes Thema, dass Lob auch als ein „manipulatives“ Instrument eingesetzt werden kann, zum Beispiel mit der Absicht, dass unsere Kinder mehr Energie oder Leistung abrufen oder etwas Bestimmtes machen.
Kapitel Zwei
Mit dem Dino-Gehirn unterwegs in unserer modernen Welt voller Optimierungsfallen
Innere Stärke
Wenn du den Tag ohne Koffein oder Aufputschmittel beginnen kannst,
wenn du gelassen Schmerzen und Sorgen ignorieren kannst,
wenn du andere Menschen nicht mit deinen Problemen belastest und langweilst,
jeden Tag das gleiche essen kannst und dafür noch dankbar bist,
wenn du Verständnis dafür zeigst, dass geliebte Menschen zu beschäftigt sind, um Zeit mit dir zu verbringen.
Wenn es dir nichts ausmacht, dass andere ihren Frust an dir auslassen,
wenn du Kritik und Anschuldigungen ohne Groll wegstecken und der Welt ohne List und Lüge begegnen kannst,
wenn du Verspannungen ohne medizinische Hilfe lösen kannst,
wenn du ohne Likör entspannen und ohne Schlafmittel schlafen kannst,
wenn du all das kannst, dann bist du wahrscheinlich der Familienhund.
QUELLE UNBEKANNT
Obwohl ich Kinder- und Jugendpsychiater bin, sollen jetzt nicht die Dinge im Fokus stehen, die in Familien teilweise völlig schief laufen. Es geht nicht um die psychischen Störungen, die im Kinder- und Jugendalter ohne Zweifel auftauchen. Mir geht es um die Familien, bei denen es im Großen und Ganzen eigentlich irgendwie funktioniert. Ich möchte mich hier auf das Alltägliche konzentrieren; auf die Kleinigkeiten und Mini-Dramen im Alltagsleben. Dabei soll es auch um klassische Muster und Fallen gehen, in die wir alle trotz bester Absichten – vielleicht gerade wenn wir uns besonders bemühen – immer wieder hineintappen. Wir Eltern haben’s schwer, sind aber besser als unser Ruf
Viele Erziehungsratgeber arbeiten mit der Angst der Eltern. Das funktioniert, weil wir als Eltern hoch motiviert sind und alle möglichen Befürchtungen hegen. Was wird wohl alles schief laufen, wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder nicht genau das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun? Wann müssen wir unsere Kinder besonders fördern, weil sich sonst das Entwicklungsfenster „für immer“ schließt? Wir sorgen uns, dass unser Kind sich zu spät entwickelt, schlecht in der Schule wird, unmusikalisch bleibt … Und das womöglich durch unsere Schuld, weil wir als Eltern nicht im passenden Moment das Richtige angeboten haben. Dauernd werden uns die potenziellen Folgen unseres falschen Handelns aufgezeigt. Das ist für viele Eltern sehr belastend.
Unsere größten Feinde sind diese Angst, etwas falsch zu machen, Unsicherheit, ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle und die daraus folgende Selbstverurteilung.
Sicher machen auch Eltern nicht alles perfekt. Die meisten sind aber bemüht, gute Eltern zu sein. Diese gute Absicht ist sehr viel wert und unser Leitfaden. Nun geht es darum, die Alltagsphänomene etwas genauer verstehen zu lernen, in denen wir uns als Eltern gerne verheddern. Wir können dann leichter daran arbeiten, angemessen zu reagieren und unsere Stärken zu fördern.
Wir haben schon entdeckt, dass wir durch unsere evolutionäre Vorgeschichte dazu neigen, schreckhaft zu sein und ständig auf der Hut vor möglichen Katastrophen. Zudem sind wir mit einem Gehirn ausgestattet, das emotional negativ besetzte Ereignisse viel stärker berücksichtigt.
Wir wollen nun erforschen, wie das mit den Spielregeln unserer modernen neuen Welt zusammenpasst, die auf unser Eltern-Gehirn einprasseln. Sie bestimmen zum großen Teil die Erwartungen an uns selbst und an das, was wir von unseren Kindern erwarten. Allerdings können sie auch zum Auslöser von Verunsicherung, Angst und Stress werden.
2.1 Der Angstmacher
Schon wieder schrillt der Alarm: Die psychischen Störungen bei Kindern nehmen seit Jahren ständig zu. Bei solchen oder ähnlichen Schlagzeilen zucken wir Eltern direkt schuldbewusst zusammen. Und fragen uns, woran soll es denn liegen, wenn nicht an uns?
Es stimmt, jedes Jahr werden bei Kindern mehr Diagnosen von psychischen Störungen gestellt. Um diese Zahlen genau zu verstehen, müssen wir uns aber folgende Frage stellen: Steigt allein die Zahl der gestellten Diagnosen oder wird in Bezug auf alle Kinder auch wirklich ein größerer Prozentsatz auffällig? Die zunehmenden Diagnosen könnten ja auch mit dem „Knöllchen-Effekt“ zusammenhängen: Wenn ich morgen in einer Stadt zehn neue Politessen losschicke, dann wird die Zahl der ruhenden Verkehrsdelikte sprunghaft steigen, weil mehr Knöllchen verteilt werden. Damit ist aber noch nicht belegt, dass wirklich mehr Menschen falsch parken.
Betrachtet man Daten aus Studien, in denen repräsentativ Kinder aus Deutschland untersucht wurden, haben die psychischen Störungen bis zum Jahr 2000 tatsächlich zugenommen. Seitdem ist der Prozentsatz der auffälligen Kinder in Bezug auf alle Kinder aber konstant. Trotzdem gibt es immer mehr Patienten. Denn es werden zunehmend Störungen bei Kindern diagnostiziert und behandelt.
Diese Fakten kann man unterschiedlich interpretieren:
1. Das Gesundheitssystem hat mehr Ressourcen für psychische Störungen bei Kindern bereitgestellt, daher können mehr Kinder untersucht und behandelt werden.
2. Viele Kinder mit klaren Auffälligkeiten wurden vorher einfach nicht behandelt, jetzt endlich finden sie Hilfe.
3. Wir als Fachleute sind sensibilisiert und sehen bestimmte Verhaltensweisen problematischer als früher. Zudem haben wir die Definitionen ausgeweitet, was bei Kindern als auffällig gilt. Deshalb steigt die Zahl der Versorgten an.
4. Vielleicht hat die Zunahme zum Teil auch mit folgendem Phänomen zu tun: Wir sind als Eltern viel unsicherer geworden, lassen unsere Kinder deshalb viel öfter von Fachkräften untersuchen und „die finden immer etwas“. Das heißt, es werden mehr Kinder als behandlungsbedürftig eingestuft als früher.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich bei Erwachsenen dieselbe Entwicklung zeigt. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile tatsächlich der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit! Bleibt also festzuhalten: In unserer modernen Welt scheinen alle immer psychisch kränker zu werden, nicht nur unsere Kinder. Es ist gut, dass Menschen Hilfe bekommen, die es aufgrund einer psychischen Störung oder Besonderheit schwerer haben. Gleichzeitig wird dadurch aber der Bereich immer größer, den die Fachwelt als pathologisch definiert.
Meine persönliche Sorge ist, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, der dazu führt, dass die „Normalen“ bald in der Minderzahl sein werden. Dass Kinder beim Ergotherapeuten das Schönschreiben lernen, beim Logopäden das Sprechen und beim Kinder- und Jugendpsychiater, wie sie sich verhalten sollen. Es ist für Kinder viel schwerer geworden, keine Auffälligkeiten zu haben. Das verunsichert uns Eltern natürlich.
Kurz und knapp:
• Psychische Erkrankungen werden bei Kindern und Erwachsenen häufiger diagnostiziert.
• Fachleute bewerten immer mehr Verhaltensweisen als auffällig.
• Für Eltern ist es schwerer geworden zu wissen, was noch als „normal“ gilt.
2.2. Welche Farbe treibt uns an in der Lebenswelt 3.0?
Wir haben es nicht leicht als moderne, bemühte Eltern! Unser Elternhirn ist wohl geübt darin, Probleme zu entwerfen, um geistig schon mal Lösungen zu durchdenken. Wir sind umgeben von Beratern, die Angst machen, und Fachleuten, die überall mehr Störungen sehen. Dazu kommt unsere archaische Übermotivation zur Brutpflege. Wir wollen es so gut wie irgendwie möglich machen, am liebsten perfekt.
Oft sind wir dabei relativ auf uns allein gestellt. Nicht umsonst hieß es früher: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind aufzuziehen.“ Meist haben wir aber nicht einmal mehr die Großfamilie in der Nähe, sondern nur uns als Paar – wenn wir Glück haben – oder müssen ganz allein die Erziehung meistern. Also lesen wir Bücher zum Thema, bereiten uns vor und werden dabei immer stärker verunsichert. Unsicher geworden, treffen wir auf Experten, die immer irgendetwas finden und eine, wie ich finde, Wahrnehmungsverzerrung hin zu auffälligem Verhalten haben.
Aber wir leben ja glücklicherweise in einer modernen Welt und in einer „Wohlfahrtsgesellschaft“. Wohlfahrtsstaat klingt doch schon ganz wie grünes System, eine Gesellschaft der Fürsorge, oder? Aus meiner Sicht sind die Motivations- und Emotionsregelsysteme in unseren modernen Industriestaaten wie folgt verteilt:

→ Abb. 2.1 Die Motivations- und Emotionsregelsysteme von Mitgliedern moderner Industriegesellschaften
Sicher schätzen wir alle den Wert des grünen Systems. Wir wünschen und pflegen es vor allem im Nahbereich, in der Paarbeziehung, der Familie und mit Freunden. Fortschritt, Wachstum und Wettbewerb sind aus meiner Sicht aber unbestritten die treibenden Kräfte in unserer Gesellschaft. Wir haben gelernt, uns über Leistung zu definieren, müssen „immer weiter, immer höher hinaus“. Die Wirtschaft muss „immer mehr“ wachsen. Wettbewerb ist zum Grundwert geworden. Wir wollen immer mehr „haben“, steigender Konsum ist der Motor. Daraus entsteht die Illusion, dass das Leben einer ständig ansteigenden Linie entsprechen muss.
In jungen Jahren fällt es uns leicht, sich dieser Illusion hinzugeben, weil wir nicht krank sind und keine besonderen Einschränkungen spüren. Es geht ja darum, Wissen anzureichern, Fähigkeiten zu erlangen, uns beruflich weiterzuentwickeln, Nestbau zu betreiben und eine Familie zu gründen. Dabei besteht die Gefahr, dass wir dieses Immer-weiter-nach- oben direkt auf unsere Kinder übertragen.
Erwiesenermaßen folgen Lebensprozesse aber eher dem Prinzip eines Kreislaufs. Vergänglichkeit ist ein Teil davon – auf Phasen des Wachstums folgen Phasen des Vergehens. Diesen Aspekten widmen wir uns aber meist nicht so gerne. Unser blaues System ist offensichtlich schon so aufgeblasen, dass es aus dem Ruder läuft und wir es gar nicht wahrhaben wollen – trotz Erderwärmung, massivem Ressourcenverbrauchs und der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit in der Welt.
Wachstum, Wachstum, Wachstum – höher, weiter, schneller, mehr!
Wir stehen permanent im Wettbewerb, unter dem Druck, besser zu sein als andere. Nach dem Motto: Nur noch überdurchschnittliche bis herausragende Leistungen bitte!
Ursprünglich strebten wir danach, trocken, warm und satt zu sein. Mit unseren immer intelligenteren Gehirnen ist das eskaliert und jetzt übertreiben wir: Wir essen so viel, dass wir krank werden. Wir sind so bequem, dass wir krank werden. Wir konsumieren und werfen so viel weg, dass der Planet krank wird.
Dieses extrem vergrößerte blaue System nehmen unsere Kleinen quasi mit der Muttermilch auf.
Der Smartphone-Wettkampf
Meine Generation hat die Nachkriegsnöte ihrer Elterngeneration mit der Muttermilch aufgesogen. Da ging es auch um Mehr-haben-wollen und Wachstum, aber ausgehend von einem Land in Trümmern und Leid, infolge des Zweiten Weltkriegs. Heute geht es um die richtigen Klamotten, ohne die das Kind nicht das Haus verlassen kann. Oder nehmen wir das Konkurrieren unserer Kinder um das neueste Smartphone: „Mit dem alten Ding kann ich mich unmöglich bei den Freunden blicken lassen!“ „Moment, geht es nicht ums Telefonieren und SMS schreiben, Whats appen, Facebook und Surfen?“, entschlüpft es unserem Elternmund. Nein, denn eigentlich geht es darum, dass unsere Kinder meinen, sie seien nur so viel wert wie ihr Handy. Die Hackordnung auf dem Pausenhof wird von Marke und Modelljahr bestimmt. Ich bin kein Smartphone-Feind, eher ein Viel-User. Das Ding ist für mich ein unverzichtbares Mini-Büro geworden. Sie werden bei mir also keinen Oldtimer finden. Aber ich erinnere mich gut an die tränenerfüllten Augen meiner Tochter, während sie heftig protestierte, wie es sein könne, dass sie ein altes Handy hat und der Sohn einer Bekannten, die gar nicht viel Geld haben, das neueste …-phone? Einige Zeit später gab es tatsächlich einmal ein neues Modell aus meiner Vertragsverlängerung als Geschenk und sie war die Königin. Drei Wochen später hat sie es im Bus liegen lassen und weg war’s. Natürlich war sie untröstlich, aber danach hat sie gelernt auch für längere Zeit mit alten verbeulten Smartphones zu überleben und die als cool definiert.
Familien konkurrieren untereinander um die besten Gaming-Kon_ solen, die neuesten Computerspiele und darum, wer die größte Bildschirmdiagonale des Flachbildfernsehers sein Eigen nennt. „Mein Haus, mein Boot, mein Auto!“, hieß es in der Werbung einer Bank. Vor allem das Auto ist im Land des Heilig’s Blechle ein wichtiger Faktor in der Hackordnung der Erwachsenen. Leider wird dieses Konkurrenzdenken zu früh in die Kinderzimmer verlegt. Plötzlich steht dort ein Berg elektronischen Krimskrams, der jeden Tag wächst. Hinzu kommt, dass unser inneres blaues System bei vielen Gelegenheiten gefüttert wird, mit Werbung zum Beispiel. So werden neue Bedürfnisse geweckt, von denen wir und unsere Kinder gestern noch nicht wussten, dass wir sie überhaupt haben.
Meine Kinder mussten durch eine Phase hindurch, die sie teilweise als sehr ungerecht empfanden: Fernseher und Computer gab es nur in Gemeinschaftsräumen. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr durften sie beides nicht in ihrem eigenen Zimmer haben. Danach hätten sie einen eigenen Fernseher selber zahlen müssen, der Laptop für die Schule war etwas anderes.
Auch wenn wir es gar nicht merken: Beim Navigieren durch dieses private Wettbewerbsfeld kann ziemlich viel Stress aufkommen. Zudem kostet es viel Geld, hip zu sein, und wiederum viel Zeit, dieses Geld zu verdienen.
Wie frei ist die Freizeit?
Freizeit, der Begriff klingt doch toll. Die gehört doch bestimmt ins grüne System.
In den vergangenen 200 Jahren ist der Anteil an freier Zeit in unserem Leben massiv gestiegen. Noch im 19. Jahrhundert arbeiteten die Menschen in der Regel 10 bis 16 Stunden am Tag an sechs Tagen pro Woche. Damals war die verbleibende freie Zeit überlebensnotwendig, um sich für den nächsten Arbeitstag zu regenerieren.
Eine klare Trennung von Arbeit nach Stundentakt und Feierabend hat erst die Industrialisierung hervorgebracht. Zu Hochzeiten waren 16 Stunden Arbeit am Tag an sechs Tagen die Woche normal. Es kam sogar die Sorge auf, dass Männer aufgrund der körperlichen Folgen nicht mehr als Soldaten eingesetzt werden könnten. Um 1900 wurde es als großer Fortschritt betrachtet, dass die Arbeitszeit auf zehn Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche begrenzt wurde. Nach 1919 wurde schließlich der Acht-Stunden-Tag eingeführt. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr mussten übrigens oft ähnlich lange Fabrikarbeit leisten, nicht selten elf bis 14 Stunden am Tag. Gerade im Bergbau und zur Bedienung von Maschinen wurden sie aufgrund ihrer Größe eingesetzt. Zunächst in England und 1839 auch in Preußen wurde die Arbeit von Kindern, die jünger als neun Jahre alt waren, verboten. Darüber hinaus durften 9- bis 16-jährige höchstens noch zehn Stunden am Tag arbeiten.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung; www.bpb.de
Die Frage lautet: Haben wir heute so viel mehr freie Zeit zur Verfügung, wie wir sie rein rechnerisch haben müssten?
Die Antwort hängt stark vom Einkommen ab. Denn die Zahl der Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen steigt. Um über die Runden zu kommen, müssen sie häufig Zweit- und Drittjobs annehmen. Sie müssen arbeiten anstatt frei zu haben. Davon einmal abgesehen, haben wir heute neben der Erholung eine ganze Menge Ansprüche an unsere Freizeit entwickelt. Prinzipiell ist es ja gut, dass das Leben nicht mehr nur aus Arbeit und Erholung besteht, die dazu dient, uns wieder arbeitsfähig zu machen.
Aber wir kennen sie alle, die To-Do-Liste: Auf sie schreiben wir alles, was wir tun wollen, wenn endlich mal Zeit dafür ist. Und dazu gehören oft auch notwendige Erledigungen wie die Steuererklärung, die Autoinspektion, Arbeiten an Haus oder Garten und so weiter. Darüber hinaus wollen wir teilhaben an Kultur, Sport, wollen gesellig mit Freunden sein, etwas erleben, reisen, Hobbies pflegen. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Das heißt, für unsere Freizeit brauchen wir einen Terminkalender. Und der ist leider schnell voll. Zu allem Überfluss meldet sich auch noch das blaue System: „Wie werde ich dieses Jahr im Ferien- und Freizeit-Battle abschneiden? War ich schon an den neuesten In-Urlaubsorten? Schon Bungee-Jumping, Kite-Surfen oder Heli-Skiing ausprobiert? Irgendetwas Herausragendes gemacht?“
Unsere freie Zeit findet weniger im grünen System statt. Sie tanzt sehr oft nach der Pfeife des blauen Systems. Sie tanzt im Zeichen des „Höher, Schneller, Weiter“. Freizeit als Superlativ.
Die Lust auf das Maximum, auf das Besondere wird angestachelt, und in diesen Sog geraten wir auch schnell mit der ganzen Familie. „Die Müllers waren schon in diesem Erlebnispark, Meiers bei jenem tollen Event, warum gehen wir nie irgendwo hin, wo es BESONDERS ist?“ Bei uns Eltern entsteht der Druck, immer etwas Neues bieten zu müssen. Dabei schwingt auch der Vergleich mit anderen Familien mit.
All dies hat den Begrifft „Freizeitstress“ hervorgebracht, der darauf hinweist, dass wir vollends im blauen System rotieren. Ein gewisser Aktionismus ist uns inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.
Mit Kindern und deren Sport-, Kunst- oder Musikaktivitäten vervielfacht sich der „Freizeitstress“ entsprechend. Freizeit besteht dann für uns aus Elterntaxi fahren und am Rande des Fußballplatzes stehen oder bei Aufführung XY anwesend sein.
Dabei laufen wir Gefahr, dass Muße und Erholung auf der Strecke bleiben. Einfach SEIN geben wir vor lauter Freizeitoptimierung auf für ein TUN. Mittlerweile gibt es Vereine, die Slow-Food und Müßiggang kultivieren, um dem etwas entgegenzusetzen. Wie wäre es mit einem Verein zur Kultivierung der Eltern-Muße?
Arbeitet, als würdet ihr kein Geld brauchen,
liebt, als hätte euch noch nie jemand verletzt,
tanzt, als würde keiner hinschauen,
singt, als würde keiner zuhören,
lebt, als wäre das Paradies auf der Erde.
Buddhistische Weisheit
Der Optimierungswahn
Was wir neben dem Konkurrenzdruck in unserer Wettbewerbsgesellschaft gerne übersehen, sind die direkten Folgen. Eine davon ist der Wahn zur Optimierung, der uns in die Hirne gekrochen ist. Ständig sind wir bestrebt Äußeres, Leistungen und Status zu verbessern.
Ganze Herden von berufsmäßigen Optimierern ziehen landauf, landab durch die Firmen. Sie schrauben an Performance, Produktivität, Output, Gewinn, optimieren Prozesse und Mitarbeiter. Das mag ein nützliches Werkzeug sein. Allerdings wird beim Optimieren konsequent darauf geschaut, was dem Unternehmen fehlt, wo der Mitarbeiter noch Luft nach oben hat. Und unabhängig davon, ob es das Controlling nach zwei Jahren Einsatz geschafft hat, die Prozesse von 95 auf 97,5 Prozent zu verbessern, wird stets weiter optimiert.
Wir trainieren damit unseren Geist, ständig den Mangel zu sehen. Die Folge ist: Wir sind so lange unzufrieden, bis das nächste Optimierungsziel erreicht ist. Danach kommt dann das nächste, und ist das erreicht, wiederum das nächste. Wir können also trotz 99 Prozent Zielerreichung (egal, was das Ziel ist) unzufrieden sein, weil wir uns auf das fehlende eine Prozent konzentrieren. Dazu kommen alte Sätze im Hinterkopf wie: „Du musst dich anstrengen, um etwas wert zu sein!“, „Ohne Fleiß kein Preis“. Und wir optimieren noch munterer weiter. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt und Autor.
Kommt Ihnen dieses Gefühl des „Nicht-gut-genug“ irgendwie bekannt vor, gerade als Eltern? Immer gibt es etwas, das noch besser laufen könnte; eine Variante, wie wir es hätten noch besser machen können. Wie unsere Kinder es hätten noch besser machen können.
Dieses „Nicht-gut-genug“ haben wir verinnerlicht. Von außen betrachtet oder aus Sicht des Arbeitgebers gilt diese Haltung als wichtig für das persönliche Vorankommen. Aber das ganze Leben wird so zu einem Optimierungsprozess! Das große Risiko dabei ist: Erziehung droht damit unbewusst ebenfalls ein Optimierungsprozess zu werden, in mehrfacher Hinsicht.
Kurz und knapp:
• Wir Menschen haben uns eine Leistungsgesellschaft geschaffen, die Fortschritt als Wachstum, als „immer höher, weiter und mehr“ definiert.
• Das blaue Antriebssystem ist dabei die bestimmende Kraft. Ursprünglich nur aktiv, um die Grundversorgung zu garantieren, ist es zum Selbstzweck geworden und gefährdet jetzt sogar den Planeten.
• Auch Freizeit kann eher Stress als Erholung bedeuten.
• In unserem Wirtschaftssystem ist Wettbewerb der Motor und bringt ständigen Optimierungsdruck mit sich. Das hat zu einer Haltung geführt, die uns ständig nur den Mangel anschauen lässt.
• Wir Eltern laufen Gefahr, Leben und Erziehung zu einem Optimierungsprozess werden zu lassen.
2.3 Die dreifache Optimierungsfalle
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich wirtschaftliches Wachstum, Weiterentwicklung, Fortschritt und Optimierung in allen Lebensbereichen als höchste Werte auf die Fahnen geschrieben hat.
Das Streben nach immer mehr und immer besser ist in unsere Gehirne eingesickert, ob wir es nun von unseren Eltern beigebracht bekommen haben oder von den Kollegen oder unserem Chef abgeschaut. Dasselbe Verhalten führen wir auch im Familienleben nahtlos fort. Wir wollen unsere Elternschaft optimieren – und das meist aus besten Absichten. Unser geübtes Optimierungsmuster dockt nämlich direkt an das seit jeher in uns angelegte Versorgungsstreben als Eltern an! Wir möchten das Allerbeste für unsere Kinder; dass sie es möglichst gut haben. Damit sind wir eigentlich schon genug beschäftigt.
Aber nun wollen wir auch noch unsere Kinder optimieren. Als Eltern verspüren wir den Druck, unsere Kinder fit zu machen für die Ellenbogen-Gesellschaft da draußen. Damit sie im Wettbewerb um die begehrten Bildungs- und Ausbildungsplätze bestehen können. Sie sollen das perfekte Rüstzeug bekommen, um sich im Job durchzusetzen, um „etwas zu werden“. Es kann zum Risiko werden, wenn wir Eltern bei unseren Kindern vor allem auf die Defizite schauen, auf das, was aus unserer Sicht nicht passt, was noch fehlt. Auf diese Weise geht dann oft der Blick verloren für das, was sie schon mitbringen, und das, was sie schon alles entwickelt haben.
Vielmehr noch laufen wir als Eltern Gefahr, ständig unzufrieden zu sein. „Das könnte noch besser sein.“ Natürlich geht es immer noch eine weitere Stufe nach oben auf der Leistungsskala. Und wir kriegen sie dann ja auch vor die Nase gesetzt, diese Superkids, die zum Ballett und HipHop gehen, Querflöte und E-Gitarre spielen und sich Donnerstagabend noch um die armen Tiere im Tierheim kümmern. Aber als unzufriedene Optimierer schaffen wir uns unzufriedene Kinder. Sie spüren, dass sie nicht genügen, dass sie nicht den Erwartungen entsprechen.
Dieses Gefühl – „Egal-wie-ich-es-mache-irgendwas-passt-immernicht“ – kann zwei Reaktionen auslösen:
1. „Dann stimmt mit mir wohl etwas nicht!“
Das ist die Richtung zu Selbstwertminderung und Depression.
2. „Wenn ich es denen eh nie Recht machen kann, dann mache ich ab jetzt alles nur noch wie ich es will!“
Das geht in Richtung potenzieller Sozialstörung.
In der Erziehung tendieren wir sowieso schon dazu, besonders auf die Fehler zu schauen – „Ist unser Kind richtig angezogen? Spricht es richtig? Verhält es sich richtig?“— und auf das, was noch entwickelt werden muss – „Kann es sich ausreichend regulieren? Könnte es noch besser sein?“