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Mein Wunsch für uns als Eltern ist, dass wir Optimierungsfallen vermeiden. Es geht also um die folgenden Kernfragen:
1. „Wann bin ich zufrieden mit meinem Kind? Und warum?“
2. „Wann bin ich zufrieden mit mir selbst? Und warum?“
3. „Was brauche ich, um im Herzen zufrieden zu sein?“
Ich kann den Satz förmlich durch die Luft fliegen sehen: „Wenn ich zu früh zufrieden bin, werde ich träge und es gibt keinen Fortschritt mehr“. Hier spricht die große Wahrnehmungsverzerrung im blauen System aus uns; Weiter und Mehr als solches sind zu einem Wert geworden. Die bloße Anstrengung mit dem Ziel der Zufriedenheit und Sättigung als Eingangstür zum Wohlbefinden zählt nicht mehr. So landen wir schnurstracks im blauen Hamsterrad statt im grünen „Katze-genießt-die-Sonne“-Modus.
Die Schule als blaue Optimierungswerkstatt
Nicht nur wir Eltern tappen in die Falle, unsere Kinder optimieren zu wollen. Betrachten wir, wie Werte und Systeme in der Schule verteilt sind. Auch hier gibt es einen Unterschied, wie Persönlichkeit im alltäglichen Unterricht im Vergleich zu messbaren Leistungen im Zeugnis gewichtet werden.
Ich erinnere mich gut an viele Elternabende in der Realschule, bei denen von meiner jüngsten Tochter geschwärmt wurde: Sie sei wichtig für das Klassenklima, habe eine sehr ausgleichende Art, kümmere sich tröstend und mitfühlend um andere. Beim Blick auf das Zeugnis am Jahresende dachte ich mir: „Darauf ist offensichtlich gepfiffen“. Vielleicht gibt es eine kleine Notiz „Sozialverhalten war lobenswert“, ansonsten dreht sich alles um die Arbeitshaltung, welche Lerndefizite noch vorliegen und Noten, Noten, Noten. Im Zeugnis geht es nur um Blau.
Wenn wir schon bei Schule und blauen Exzessen sind. Als Kinder- und Jugendpsychiater in Bayern, einem Bundesland mit sehr strenger Übertrittsregelung für die höheren Schulen, denke ich bei mehr als der Hälfte meiner Patienten aus der 4. Klasse: „Eigentlich müsste ich diese Krankenbehandlung der Gemeindeunfallversicherung in Rechnung stellen. Denn diese Kinder leiden an einem systematischen Schulunfall!“ Es wird ein riesiger Druck aufgebaut, in der Form, dass ein „befriedigend“, also die Note 3, als dramatisch schlecht gilt und nicht für den Übertritt reicht. Ich sehe reihenweise Kinder mit psychischen Belastungsreaktionen, die eindeutig durch diese unsinnig frühe Auswahl bedingt werden. Infolge dieser strengen Auswahl drohen zudem alle, die in der dritten und vierten Klasse im Übertrittsrennen nicht vorne dabei sind, in der Förderung hinten runterzufallen.
Die Elternmitbestimmung ist dabei deutlich eingeschränkt. Seit 2009 können sie einen dreitägigen Probeunterricht mit Prüfungscharakter an der höheren Schule fordern, wenn der geforderte Notenschnitt nicht erreicht ist – Höchststress für die Kinder. Ich kenne die Klagen von Lehrerinnen und deren Angst vor dem nächsten Elternsprechtag und dem Druck, den „übertrittsgestresste“ Eltern aufbauen. Ich kenne auch die Nöte von eben diesen Eltern aus der Beratung, die das Beste für ihr Kind wollen, aber nicht selber entscheiden dürfen. So kämpfen sie mit ihren Kindern gegen jede 3.
Das Schulsystem hat sich ganz dem blauen System von Auswahl und Wettbewerb verschrieben. Ohne „häusliche Zweitschule“ durch engagierte gebildete Eltern ist das kaum zu schaffen. Es wird sogar international kritisiert, dass diese Auswahl so unsinnig früh getroffen wird. Die meisten Studien geben Deutschland, und Bayern ganz besonders, schlechte Noten bezüglich der Chance von Kindern aus bildungsfernen Haushalten, es trotz guter Begabung auf eine entsprechend höhere Schule zu schaffen. Es scheint wohl einfach nicht wichtig genug oder erstrebenswert. Lieber blaue Rekorde bei den Abi-Noten als grüne Fürsorge für die, die keine „Eltern-Zweitschule“ haben oder sich schon in der Grundschule viel Nachhilfe leisten können.
Hinterher werden dann alle möglichen Auffangsysteme für Schulabbrecher, Nachreifelehrgänge zum Schulabschluss oder zur Berufsreife angeboten. Je nach Bundesland sind es zwischen 4 und 10 Prozent der Schüler, die ohne Abschluss von der Schule gehen.1 So wird sich dann hinterher wieder um all diejenigen bemüht, die vorher aussortiert wurden.
www.faz.net, 9. 4. 2008
Kritik am deutschen Schulsystem
Im OECD-Wirtschaftsbericht wird abermals das dreigliedrige Schulsystem kritisiert. In keiner anderen vergleichbaren Industrienation sei der Bildungserfolg eines Kindes so abhängig von seiner sozialen Herkunft wie in Deutschland.(…)
Die im weltweiten Vergleich nur noch in Deutschland und Österreich übliche frühe Aufteilung zehnjähriger Kinder auf verschiedene Schulformen wie Gymnasium oder Hauptschule sei wesentlicher Grund für die fehlende Chancengleichheit in der deutschen Bildung, heißt es in dem Bericht unter Berufung auf mehrere neue Studien.
www.spiegel.de, 15. 9. 2016
„Keine Schule, keine Lehre, kein Job“
Wie schon in den Jahren zuvor kritisiert die OECD wieder, dass Deutschland, gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt, weniger Geld in sein Bildungssystem investiert als andere Staaten: 4,2 Prozent des BIP fließen in die Bildung, im OECD-Durchschnitt sind es mit 4,8 Prozent deutlich mehr. www.t-online.de – Quelle: Werner Herpell, dpa, 6.12.2016
Pisa-Chef Andreas Schleicher:
„Das Bildungssystem in Deutschland ist altmodisch.“
Die Unterstützungssysteme, auch die Position des Lehrers als Einzelkämpfer im Klassenzimmer, die Kreativität im Unterricht – all das blieb unverändert, weil das Bildungssystem weiterhin sehr altmodisch ist. Das Ergebnis: Wo Deutschland sich einbildet, gut zu sein, sind große Lücken.
Oh Schreck, mein Kind ist durchschnittlich
Stellen wir uns vor, Sie sind beim Elternsprechtag und die Lehrerin sagt Ihnen: „Ihr Kind ist ganz durchschnittlich.“ Sie fragen noch mal nach in welchen Bereichen. Und sie meint: „Ach, eigentlich überall, einfach ein ganz durchschnittliches Kind.“ Wie fühlt sich das an für Sie? Was regt sich in Ihnen? Sind Sie froh oder enttäuscht? Ich denke, viele von uns hören da einen negativen Unterton, es klingt in unseren Ohren fast schon ein bisschen abschätzig.
Das Prädikat „durchschnittlich“ nehmen wir heute in vielen Bereichen vor dem Hintergrund unseres Strebens nach besonderen Leistungen, besonderen Erlebnissen schon fast als Beleidigung wahr. „Ach, der Urlaub war durchschnittlich.“, „Die Arbeitsleistung ist durchschnittlich.“, „Die Versorgung im Krankenhaus war durchschnittlich.“ Ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir, aber für mich klingt das alles nicht gut, gar nicht gut. Durchschnittlich wird gleichgesetzt mit „Es war nichts Besonderes.“
Betrachten wir „durchschnittlich“ einmal mathematisch, genauer die sogenannte Normalverteilung nach Carl Friedrich Gauß. Sie wissen schon, diese Glockenkurve (siehe Kasten). Vereinfacht sagt die Normalverteilung, dass die meisten Ergebnisse einer Messung gleichmäßig um eine Mitte herum liegen und an den Rändern seltener auftreten. Ein Beispiel: Es gibt nur wenige sehr große Menschen und nur wenige sehr kleine Menschen, die meisten Menschen sind mittelgroß. Als Durchschnitt haben Mathematiker irgendwann einmal den Bereich definiert – um im Bild der Körpergrößenmessung zu bleiben —, in dem 68 von 100 Menschen zusammengefasst werden können. Das heißt mehr als zwei Drittel der Menschen sind durchschnittlich. Und das wiederum heißt, durchschnittlich zu sein, ist ganz normal.

→ Abb. 2.2 Gaußsche Glockenkurve
Viele Messungen und Beobachtungen haben ergeben, dass Ergebnisse meist gehäuft um einen Mittelwert liegen und gleichmäßig abnehmen, je weiter sie davon entfernt sind. Als Konvention haben Wissenschaftler einen Durchschnittbereich definiert, der zwischen der negativen und positiven 1. Standardabweichung liegt (µ-σ und µ+σ). In diesem Bereich sind 68,27 % der Ergebnisse zu finden. Über- und unterdurchschnittliche Ergebnisse liegen zwischen 1. und 2. Standardabweichung. Weit überdurchschnittliche Ergebnisse und auch das Gegenteil liegen dann jenseits der 2. Standardabweichung. Das sind auf jeder Seite nur noch 2,275 %.
Die Normalverteilung spielt bei der Charakterisierung von biologischen Prozessen und in der Technik eine wichtige Rolle. Auch bei der Bewertung der Intelligenz wird die Methode verwendet. Wenn Ihr Kind durchschnittlich intelligent ist, dann gehört es also zur Zwei-Drittel-Gruppe der ganz „Normalen“. Ihr Kind hat dann einen Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 85 und 114 um einen Mittelwert von 100. Nur 16 % der getesteten Menschen können überdurchschnittlich begabt sein (IQ zwischen 115 und 129), 2 % gelten als hochbegabt (IQ 130 und mehr). Auf der anderen Seite der Verteilung sind diese 2 % Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Viele Messungen und Beobachtungen haben ergeben, dass Ergebnisse meist gehäuft um einen Mittelwert liegen und gleichmäßig abnehmen, je weiter sie davon entfernt sind. Als Konvention haben Wissenschaftler einen Durchschnittbereich definiert, der zwischen der negativen und positiven 1. Standardabweichung liegt (µ-σ und µ+σ). In diesem Bereich sind 68,27 % der Ergebnisse zu finden. Über- und unterdurchschnittliche Ergebnisse liegen zwischen 1. und 2. Standardabweichung. Weit überdurchschnittliche Ergebnisse und auch das Gegenteil liegen dann jenseits der 2. Standardabweichung. Das sind auf jeder Seite nur noch 2,275 %.
Als Ehrenrettung für uns: Wahrscheinlich haben wir im Alltag eher ein Konzept im Kopf, das „überdurchschnittlich sein“ damit gleich setzt, bei der „besseren“ Hälfte dabei zu sein, also beispielsweise bei der Intelligenz auf der rechten Seite der Mittellinie. Doch selbst wenn wir diese gefühlsmäßige statt der mathematischen Definition nehmen, leiden wir meistens an einer totalen Wahrnehmungsverzerrung. Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft als Dunning-Kruger-Effekt bekannt.
Die beiden Psychologen David Dunning und Justin Kruger haben im Jahr 1999 mithilfe einer Reihe von Tests festgestellt, dass sich, zur Selbstbeurteilung ihrer Ergebnisse aufgefordert, Teilnehmer fast immer als überdurchschnittlich einschätzten. Ein weiteres Ergebnis der Psychologen: Je weniger kompetent ein Teilnehmer/eine Teilnehmerin war, desto größer war seine/ihre Überzeugung, überdurchschnittlich gut zu sein.
Aber nicht nur wir Eltern leiden am Dunning-Kruger-Effekt. Wie Wissenschaftler in den USA 1981 und später auch in Kanada herausgefunden haben, sind 93 % der Autofahrer überzeugt, besser zu fahren als der Durchschnitt.2 Eine andere Studie kam zu dem Ergebnis, dass 94 % der US-amerikanischen Professoren meinen, sie sind überdurchschnittlich gut.3 In einer weiteren Erhebung wurden High-School-Schüler gebeten, ihre Führungskompetenz einzuschätzen. 70 % hielten sich für überdurchschnittlich geeignet.4 Unsere persönliche Normalverteilung sieht also nicht wie bei Gauß aus, sondern eher so.

→ Abb. 2.3 Subjektiv verzerrte Verteilung
Ich denke, dass wir in Sachen Eigenwahrnehmung und unserem alltäglichen Sprachgebrauch wieder einmal den Verlockungen des blauen Systems aufgesessen sind. Was ist denn schon durchschnittlich wert? Das war dann ja nicht besonders. Es war nicht herausragend oder überdurchschnittlich. In unserem Höher-Weiter-Mehr-Selbstkonzept zählt nur die Goldmedaille. Silber und Bronze akzeptieren wir gerade noch. Der vierte Platz, Holz genannt, ist dann schon ein Grund zum Ärgern. Auf einen Leistungssportler gemünzt: Selbst wenn er oder sie zu den besten 10 in seiner/ihrer Disziplin bei Olympia zählt, gilt das quasi gar nichts, wenn nicht Gold, Silber oder Bronze geholt werden.
Es lohnt sich wirklich einmal innezuhalten und zu beobachten, wie sehr dieser „blaue“ Virus schon in unser Elternhirn eingezogen ist, und auch im Umgang mit den Leistungen unserer Kinder immer wieder von Neuem ausbricht:
1. „Was heißt durchschnittlich für uns persönlich?“
2. „Muss eine Leistung immer herausragend sein?“
3. Was sind überhaupt die Kriterien dafür, dass wir uns über die „Produkte“ oder „Leistungen“ unseres Kindes freuen?
4. Und wie oft zeigen wir unsere Freude, ohne dass sich das auf eine „Leistung“ bezieht?
Die Tatsache, dass zu allem was Kinder oder Jugendliche gerne machen – Dirtbike oder Skateboard fahren, Singen oder Tanzen, Schachspielen oder Programmieren – auf Youtube sofort die „Allerbesten“ mit ihren Extremleistungen zu finden sind, füttert zusätzlich das blaue System unserer Kinder. Wie schwer ist es doch geworden, ein „Held“ zu sein, und wie viel schwerer, ganz normal zu sein?
Kurz und knapp:
• Die dreifache Optimierungsfalle: Optimierungsdruck von außen trifft auf unseren innersten Wunsch, unsere Kinder so gut wie nur irgendwie möglich zu erziehen, sie optimal für die Welt da draußen vorzubereiten.
• Schule hat sich beinahe komplett der Optimierung verschrieben.
• Eine häufige Wahrnehmungsverzerrung ist: Sind unsere Kinder durchschnittlich, bedeutet das für uns als Eltern eine Herabsetzung, etwas Schlechtes.
Deine Kinder sind nicht deine Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch dich, aber nicht von dir.
Und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.
aus „Der Prophet“ von KAHLIL GIBRAN, libanesisch-amerikanischer Dichter
2.4 Wir nehmen uns zu wichtig als Eltern und leiden darunter
Elterlicher Größenwahn
Eltern und Größenwahn, das klingt jetzt böse. Wir werden aber spüren, wie groß die Erleichterung ist, wenn wir aus dieser Falle entkommen. Unterschwellig handeln wir nämlich oft so, als ob die gesamte Entwicklung unseres Kindes, alles, was es auf den Weg bringt und anstellt, ausschließlich von uns und unserer Erziehung abhängt. Wir beziehen viel zu viele Dinge, die geschehen, auf unser Handeln und unsere Haltung als Eltern. Kurz gesagt: Wir nehmen uns zu wichtig.
Wie als Beweis für den geringen Einfluss erlebe ich meine zwei Töchter. Die eine ist 15 Monate älter als die andere. Beide sind also im selben Nest und mit der gleichen Erziehungshaltung aufgewachsen. Trotzdem sind sie völlig unterschiedliche Charaktere und haben recht gegensätzliche Pfade der Persönlichkeitsentwicklung eingeschlagen. Eine meiner Töchter setzt energisch ihre Interessen durch, die andere ist ganz auf Harmonie aus. Eine kleidete sich mit Glitzer und goldenen Accessoires, machte verschiedenste Modetrends mit, und konnte über den Hip-Hop-Style ihrer Schwester nur müde lächeln. Eine trinkt gerne Alkohol und raucht, der anderen schmeckt Alkohol gar nicht und sie trinkt noch nicht mal Kaffee. Eine legte eine Mega-Pubertät hin mit viel Krach und bei der anderen waren wir froh, wenn sich mal ein bisschen was von Ich-Durchsetzung gezeigt hat oder sie sich mal getraut hat, zu zeigen, dass sie sauer war.
Gut, ich gebe zu, einen gewissen Geschwister-Verteilungseffekt muss man mit berücksichtigen. Wenn eine Nische besetzt ist, sucht sich die Zweite eine andere. Aber auch das relativiert ja den ausschließlichen Einfluss unserer Erziehung. Von außen würden viele sagen, diese zwei jungen Frauen können nicht aus dem gleichen Stall kommen. Es zeigt sich also, dass es offensichtlich noch viele andere Faktoren gibt, die unsere Kinder in ihrem persönlichen Entwicklungsstil beeinflussen. Unsere Erziehungsaufgabe bleibt wichtig, keine Frage. Nichtsdestotrotz kann es helfen, etwas von diesem Größenwahn abzulegen, dass wir Eltern und unsere Erziehung der alles bestimmende Faktor sind.
Das gilt auch dann, wenn Kinder Fehlverhalten zeigen oder nach außen etwas Unschönes getan haben. Wir neigen dazu, dass sofort auf unsere Kappe zu nehmen, schreiben es quasi auf unser Eltern-Schulden-Register. Ich weiß, von was ich rede.
Wenn morgens in der Zeitung steht, dass durch eine Graffiti-Aktion ein Stadtteil verunstaltet wurde, und man im Laufe des Folgetages plötzlich denkt: „Das war doch die Nacht, in der Sohnemann seine Fete gefeiert hat.“ Und sich dann bei bohrendem Nachfragen herausstellt, dass tatsächlich Sohnemann und ein Freund die Sprühfinken waren, dann rutscht einem schon das Herz in die Hose. In meinem Kopf ertönte damals eine Stimme: „Ja klasse, der Kinder- und Jugendpsychiater und seine Kinder, der hat’s ja voll drauf.!“
Ich weiß, wie ich mit ihm gelitten habe, im langen Büßer-Gang; ein großes Entschuldigen bei allen Betroffenen und das Anbieten der Wiedergutmachung, der Reinigung oder des Kostenersatzes. Es war eine wichtige gemeinsame Erfahrung für ihn und mich. Herzerfrischend und in meiner Erinnerung eine kleine innere Ehrenrettung war Monate später eine Mutter, die zum Erstgespräch in der Praxis erschien und sagte: „Ach, wir sind bewusst zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, dass Ihre Kinder auch schon Scheiß gebaut haben und nicht so oberperfekt sind wie die Kinder der Kollegin, deren Praxis viel näher ist.“
Mein Kind als mein Werkstück
Die Kinder als „unser Produkt“ zu sehen ist eine weitere Falle, die eng verwandt ist mit unserem elterlichen Größenwahn. Anders formuliert: Mein persönlicher Wert als Elternteil hängt davon ab, wie mein Kind ist und sich entwickelt.
Auf eine Art ist das verständlich, weil es uns so am Herzen liegt, dass sich unsere Kinder besonders gut entwickeln. Evolutionsgeschichtlich wird das ebenfalls begünstigt. Schließlich ist es die elementare Aufgabe des Menschen, seine eigenen Gene weiterzugeben. Ein gewisser Vaterstolz und Mutterstolz ist ja auch schön und herzerwärmend, wenn die Entwicklung der Kinder in der vorgezeichneten Bahn verläuft. Schwieriger ist es schon, wenn sie es wagen einen Entwicklungsweg zu wählen, den wir uns so nicht gewünscht haben. Wenn die Tochter vom Professoren-Ehepaar eben nicht Medizinerin werden will oder schlimmer noch nicht einmal studieren will, und sie völlig andere Pläne schmiedet, um sich zu verwirklichen.
TAUSENDE JAHRE KLAGE ÜBER DIE JUGEND
Vielleicht entlastet uns ein Blick in die Geschichte. Unzufriedenheit mit den eigenen Erziehungserfolgen und der Jugend scheint ein zeitloses Phänomen:
Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos.
Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern.
Das Ende der Welt ist nah.
KEILSCHRIFTTEXT, CHALDÄA, UM 2000 V. CHR.
Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.
BABYLONÍSCHE TONTAFEL, CA. 1000 V. CHR.
Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern,
kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.
SOKRATES, CA. 470 BIS 399 V. CHR.
Die Welt macht schlimme Zeiten durch. Die jungen Leute von heute denken an nichts anderes als an sich selbst. (…) Sie sind ungeduldig und unbeherrscht. Sie reden so, als wüssten sie alles, und was wir für weise halten, empfinden sie als Torheit.
MÖNCH PETER, 1274
Der grenzenlose Mutwille der Jugend ist ein Zeichen,
dass der Weltuntergang nah bevorsteht.
NACH MELANCHTHON, UM 1530
Das Sittenverderben unserer heutigen Jugend ist so groß,
dass ich es unmöglich länger bei derselben aushalten kann.
EIN SCHULMEÍSTER, 18. JH.
Google-Suche; Suchwort „1.000 Jahre Klagen über die Jugend“;
Hauptquelle: www.autenrieths.de
Oft äußert sich das ganz harmlos, bei den kleinen Dingen: zum Beispiel den besonderen Leistungen des Kindes im Sport, in der Schule. Wie viel davon verbuche ich auf mein Konto, wie stark sind es meine besonderen Leistungen? „Wir haben so viel gelernt und wir haben dann die gute Note im Diktat bekommen.“ Besonders gefährdet scheinen hier Vollzeit-Elternteile zu sein, weil es ja nun mal ihre Jobbeschreibung ist, das Kind zu erziehen. Sie neigen besonders dazu, gegenüber sich selbst ein „Ergebnis“ präsentieren zu müssen, und koppeln die guten Leistungen eng an ihren Selbstwert. Die Leistung ihres Kindes, ihres Produkts, droht ihre eigene Qualität als Eltern und schließlich als Person zu bestimmen.
Das klingt jetzt vielleicht in manchen Ohren zu krass. Aber denken Sie einmal nach. Kennen Sie diese Fragen:
Ja was macht denn deiner? Zu welcher Schule geht er oder was studiert er?
Welche Ausbildung oder welchen Job hat sie denn? In einer „guten“ Firma?
War deiner schon in Australien oder Neuseeland zu „work and travel“?
Wie fühlen sich Ihre Antworten an?
Ich möchte Sie einladen, bei all dem Engagement noch einmal genau hinzuschauen:
„Wann nehme ich mein Kind als eine Art Werkstück wahr, das unter meiner Bearbeitung entsteht?“ (Damit laufe ich Gefahr, mich mit dem „Ergebnis“ zu identifizieren. Alles, was mein Kind tut, wird mit meiner eigenen Leistung gleichgesetzt oder definiert gar meinen Wert als Person.)
1. Wie weit geht dieser Elternstolz? Ist es noch die Mit-Freude?
Und gibt es die Freude auch unabhängig vom „Ergebnis“?
2. Darf ich mich freuen, einfach weil mein Kind da ist und lebt und in seiner Art und Weise wächst?
3. Kann ich mein Kind wertschätzen, auch wenn es Wege geht, die von meinem Idealbild abweichen?
Wenn wir uns in den betrachteten Optimierungsfallen verfangen und versuchen den Stolpersteinen auszuweichen, verkrampfen wir als Eltern. Wir bemühen uns stärker, bringen uns noch mehr ein, wollen noch bessere Eltern werden. Aber die Mischung aus Machbarkeitsfantasie, Eigenoptimierung und gefühlter Verantwortung für alles kann verdammt anstrengend sein. Loslassen ist der erste wichtige Schritt, mit dem Vieles leichter wird.
Schaffen wir es nicht den Fallen Optimierungsdruck, Größenwahn, Werkstück zu entgehen, kann das in einer andauernden Hyperoptimierung des Kindes enden. Die zugehörigen Mütter und Väter kennen wir als sogenannte „Helikoptereltern“. Um die geht es in diesem Buch zwar nicht, trotzdem sollten wir uns die Fragen stellen:
1. Wo bin ich selbst auch ein wenig am „Helikoptern“ und vor allem warum?
2. Ist mein Einsatz vertretbar und tue ich die Dinge noch zum Wohl des Kindes oder überschreite ich schon eine Grenze?
3. Was würde mir helfen, lockerer zu lassen?
Welche innere Erlaubnis brauche ich?
Kurz und knapp:
• Die elementare Aufgabe der Brutpflege und der eigene Elternstolz können aus dem Ruder laufen.
• Es besteht das Risiko, zu glauben, die gesamte Kindesentwicklung hängt von uns Eltern und unserer Erziehung ab. Dieses Gefühl kann eine große Last sein.
• Wir Eltern laufen Gefahr, dass wir unseren persönlichen Wert davon abhängig machen, wie sich unsere Kinder entwickeln.
• Das schränkt die Freiheit der Kinder ein, sich ganz anders zu entwickeln, als wir vielleicht wollen.
1 Regionaldatenbank Deutschland: www.regionalstatistik.de
2 Svenson, O., Are we less risky and more skilful than our fellow drivers? In: Acta Psychol. 1981 (47), S. 143–148.
3 Cross, K., Not can, but will college teaching be improved? In: New Dir High Educ., 1977 (17), S. 1–15.
4 College Board, Student descriptive questionnaire. Princeton: Educational Testing Service; 1976–1977.
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