Der Zauberberg. Volume 1

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"Nein, ich finde es offen gestanden nicht so überwältigend", sagte Hans Castorp. "Wo sind denn die Gletscher und Firnen und die gewaltigen Bergriesen? Diese Dinger sind doch nicht sehr hoch, wie mir scheint."
"Doch, sie sind hoch", antwortete Joachim. "Du siehst die Baumgrenze fast überall, sie markiert sich ja auffallend scharf, die Fichten hören auf, und damit hört alles auf, aus ist es, Felsen, wie du bemerkst. Da drüben, rechts von dem Schwarzhorn, die-ser Zinke dort, hast du sogar einen Gletscher, siehst du das Blaue noch? Er ist nicht groß, aber es ist ein Gletscher, wie es sich gehört, der Skaletta-Gletscher. Piz Michel und Tinzenhorn in der Lücke, du kannst sie von hier aus nicht sehen, liegen auch immer im Schnee, das ganze Jahr."
"In ewigem Schnee", sagte Hans Castorp.
"Ja, ewig, wenn du willst. Doch, hoch ist das alles schon. Aber wir selbst sind scheußlich hoch, mußt du bedenken. Sech-zehnhundert Meter über dem Meer. Da kommen die Erhebun-gen nicht so zur Geltung."
"Ja, war das eine Kletterei! Mir ist angst und bange geworden, kann ich dir sagen. Sechzehnhundert Meter! Das sind ja annähernd fünftausend Fuß, wenn ich es ausrechne. In meinem Leben war ich noch nicht so hoch." Und Hans Castorp nahm neugierig einen tiefen, probenden Atemzug von der fremden Luft. Sie war frisch – und nichts weiter. Sie entbehrte des Duf-tes, des Inhaltes, der Feuchtigkeit, sie ging leicht ein und sagte der Seele nichts.
"Ausgezeichnet!" bemerkte er höflich.
"Ja, es ist ja eine berühmte Luft. Übrigens präsentiert sich die Gegend heute abend nicht vorteilhaft. Manchmal nimmt sie sich besser aus, besonders im Schnee. Aber man sieht sich sehr satt an ihr. Wir alle hier oben, kannst du mir glauben, haben sie ganz unaussprechlich satt", sagte Joachim, und sein Mund wur-de von einem Ausdruck des Ekels verzogen, der übertrieben und unbeherrscht wirkte und ihn wiederum nicht gut kleidete.
"Du sprichst so sonderbar", sagte Hans Castorp.
"Spreche ich sonderbar?" fragte Joachim mit einer gewissen Besorgnis und wandte sich seinem Vetter zu…
"Nein, nein, verzeih, es kam mir wohl nur einen Augenblick so vor!" beeilte sich Hans Castorp zu sagen. Er hatte aber die Wendung "Wir hier oben" gemeint, die Joachim schon zum dritten – oder viertenmal gebraucht hatte und die ihn auf irgend eine Weise beklemmend und seltsam anmutete.
"Unser Sanatorium liegt noch höher als der Ort, wie du siehst", fuhr Joachim fort. "Fünfzig Meter. Im Prospekt steht 'hundert', aber es sind bloß fünfzig. Am allerhöchsten liegt das Sanatorium Schatzalp dort drüben, man kann es nicht sehen. Die müssen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunter-befördern, weil dann die Wege nicht fahrbar sind."
"Ihre Leichen? Ach so! Na, höre mal!" rief Hans Castorp. Und plötzlich geriet er ins Lachen, in ein heftiges, unbezwingliches Lachen, das seine Brust erschütterte und sein vom kühlen Wind etwas steifes Gesicht zu einer leise schmerzenden Gri-masse verzog. "Auf dem Bobschlitten! Und das erzählst du mir so in aller Gemütsruhe? Du bist ja ganz zynisch geworden in diesen fünf Monaten!"
"Gar nicht zynisch", antwortete Joachim achselzuckend. "Wieso denn? Das ist den Leichen doch einerlei … Übrigens kann es wohl sein, daß man zynisch wird hier bei uns. Behrens selbst ist auch so ein alter Zyniker – ein famoses Huhn neben-bei, alter Korpsstudent und glänzender Operateur, wie es scheint, er wird dir gefallen. Dann ist da noch Krokowski, der Assistent – ein ganz gescheites Etwas. Im Prospekt ist besonders auf seine Tätigkeit hingewiesen. Er treibt nämlich Seelenzer-gliederung mit den Patienten."
"Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!" rief Hans Castorp, und nun nahm seine Heiterkeit überhand. Er war ihrer gar nicht mehr Herr, nach allem andern hatte die Seelenzergliederung es ihm vollends angetan, und er lachte so sehr, daß die Tränen ihm unter der Hand hervorliefen, mit der er, sich vorbeugend, die Augen bedeckte. Joachim lachte ebenfalls herzlich – es schien ihm wohlzutun – , und so kam es, daß die jungen Leute in großer Aufgeräumtheit aus ihrem Wagen stie- en, der sie zuletzt im Schritt, auf steiler, schleifenförmiger An-fahrt vor das Portal des Internationalen Sanatoriums Berghof getragen hatte.
NR. 34
Gleich zur Rechten, zwischen Haustor und Windfang, war die Concierge-Loge gelegen, und von dort kam ein Bediensteter von französischem Typus, der, am Telephon sitzend, Zeitungen gelesen hatte, in der grauen Livree des hinkenden Mannes am Bahnhof ihnen entgegen und führte sie durch die wohlbeleuch-tete Halle, an deren linker Seite Gesellschaftsräume lagen. Im Vorübergehen blickte Hans Castorp hinein und fand sie leer. Wo denn die Gäste seien, fragte er, und sein Vetter antwortete:
"In der Liegekur. Ich hatte Ausgang heute, weil ich dich ab-holen wollte. Sonst liege ich auch nach dem Abendbrot auf dem Balkon." Es fehlte nicht viel, daß Hans Castorp aufs neue vom Lachen überwältigt wurde.
"Was, ihr liegt bei Nacht und Nebel auf dem Balkon?" fragte er mit wankender Stimme …
"Ja, das ist Vorschrift. Von acht bis zehn. Aber komm nun, sieh dir dein Zimmer an und wasch dir die Hände."
Sie bestiegen den Lift, dessen elektrisches Triebwerk der Franzose bediente. Im Hinaufgleiten trocknete Hans Castorp sich die Augen.
"Ich bin ganz entzwei und erschöpft vor Lachen", sagte er und atmete durch den Mund. "Du hast mir soviel tolles Zeug erzählt … Das mit der Seelenzergliederung war zu stark, das hätte nicht kommen dürfen. Außerdem bin ich doch auch wohl ein bißchen abgespannt von der Reise. Leidest du auch so an kalten Füßen? Gleichzeitig hat man dann so ein heißes Gesicht, das ist unangenehm. Wir essen wohl gleich? Mir scheint, ich ha-be Hunger. Ißt man denn anständig bei euch hier oben?"
Sie gingen geräuschlos den Kokosläufer des schmalen Korri-dors entlang. Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit ei-ner lackartigen Ölfarbe überzogen. Eine Krankenschwester zeig-te sich irgendwo, in weißer Haube und einen Zwicker auf der Nase, dessen Schnur sie sich hinter das Ohr gelegt hatte. Offen-bar war sie protestantischer Konfession, ohne rechte Hingabe an ihren Beruf, neugierig und von Langerweile beunruhigt und be-lastet. An zwei Stellen des Ganges, auf dem Fußboden vor den weiß lackierten numerierten Türen, standen gewisse Ballons, große, bauchige Gefäße mit kurzen Hälsen, nach deren Bedeu-tung zu fragen Hans Castorp fürs erste vergaß.
"Hier bist du", sagte Joachim. "Nummer Vierunddreißig. Rechts bin ich, und links ist ein russisches Ehepaar, – etwas sa-lopp und laut, muß man wohl sagen, aber das war nicht anders zu machen. Nun, was sagst du?"
Die Tür war doppelt, mit Kleiderhaken im inneren Hohl-raum. Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und fried-lich, mit seinen weißen, praktischen Möbeln, seinen ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fußbodenbelag und den leinenen Vorhängen, die in mo-dernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren. Die Bal-kontür stand offen; man gewahrte die Lichter des Tals und ver-nahm eine entfernte Tanzmusik. Der gute Joachim hatte einige Blumen in eine kleine Vase auf die Kommode gestellt, – was eben im zweiten Grase zu finden gewesen war, etwas Schafgar-be und ein paar Glockenblumen, von ihm selbst am Hang ge-pflückt.
"Reizend von dir", sagte Hans Castorp. "Was für ein nettes Zimmer! Hier läßt es sich gut und gern ein paar Wochen hausen."
"Vorgestern ist hier eine Amerikanerin gestorben", sagte Joachim. "Behrens meinte gleich, daß sie fertig sein würde, bis du kämest, und daß du das Zimmer dann haben könntest. Ihr Ver-lobter war bei ihr, englischer Marineoffizier, aber er benahm sich nicht gerade stramm. Jeden Augenblick kam er auf den Korridor hinaus, um zu weinen, ganz wie ein kleiner Junge. Und dann rieb er sich die Backen mit Coldcream ein, weil er lasiert war und die Tränen ihn da so brannten. Vorgestern abend hatte die Amerikanerin noch zwei Blutstürze ersten Ranges, und damit war Schluß. Aber sie ist schon seit gestern morgen fort, und dann haben sie hier natürlich gründlich ausgeräuchert, mit Formalin, weißt du, das soll so gut sein für solche Zwecke."
Hans Castorp nahm diese Erzählung mit einer angeregten Zerstreutheit auf. Mit zurückgezogenen Ärmeln vor dem geräumigen Waschbecken stehend, dessen Nickelhähne im elektri-schen Lichte blitzten, warf er kaum einen flüchtigen Blick zu der weißmetallenen, reinlich bedeckten Bettstatt hinüber.
"Ausgeräuchert, das ist famos", sagte er gesprächig und etwas ungereimt, indem er sich die Hände wusch und trocknete. "Ja, Methylaldehyd, das hält die stärkste Bakterie nicht aus, – H2CO, aber es sticht in die Nase, nicht? Selbstverständlich ist strengste Sauberkeit eine Grundbedingung …" Er sagte "Selbstvers-tändlich" mit dem getrennten st, während sein Vetter sich, seit er Student war, die verbreiterte Aussprache angewöhnt hatte, und fuhr mit großer Geläufigkeit fort: "Was ich noch sagen wollte … Wahrscheinlich hatte der Marineoffizier sich mit dem Sicherheitsapparat rasiert, möchte ich annehmen, man macht sich doch leichter wund mit den Dingern, als mit einem gut ab-gezogenen Messer, das ist wenigstens meine Erfahrung, ich ge-brauche abwechselnd eins und das andere … Na, und auf der gereizten Haut tut das Salzwasser natürlich weh, da war er wohl vom Dienst her gewöhnt, Coldcream anzuwenden, es fällt mir nichts auf daran …" Und er plauderte weiter, sagte, daß er zweihundert Stück von Maria Mancini – seiner Zigarre – im Koffer habe, – die Revision sei höchst gemütlich gewesen – und richtete Grüße von verschiedenen Personen in der Heimat aus. "Wird hier denn nicht geheizt?" rief er plötzlich und lief zu den Röhren, um die Hände daran zu legen …
"Nein, wir werden hier ziemlich kühl gehalten", antwortete oachim. "Da muß es anders kommen, bis im August die Zen-tralheizung angezündet wird."
"August, August!" sagte Hans Castorp. "Aber mich friert! Mich friert abscheulich, nämlich am Körper, denn im Gesicht bin ich auffallend echauffiert, – da, fühle doch mal, wie ich brenne!"
Diese Zumutung, man solle sein Gesicht befühlen, paßte ganz und gar nicht zu Hans Castorps Natur und berührte ihn selber peinlich. Joachim ging auch nicht darauf ein, sondern sagte nur:
"Das ist die Luft und hat nichts zu sagen. Behrens selbst hat den ganzen Tag blaue Backen. Manche gewöhnen sich nie. Na, go on, wir kriegen sonst nichts mehr zu essen."
Draußen zeigte sich wieder die Krankenschwester, kurzsichtig und neugierig nach ihnen spähend. Aber im ersten Stock-werk blieb Hans Castorp plötzlich stehen, festgebannt von ei-nem vollkommen gräßlichen Geräusch, das in geringer Entfer-nung hinter einer Biegung des Korridors vernehmlich wurde, einem Geräusch, nicht laut, aber so ausgemacht abscheulicher Art, daß Hans Castorp eine Grimasse schnitt und seinen Vetter mit erweiterten Augen ansah. Es war Husten, offenbar, – eines Mannes Husten; aber ein Husten, der keinem anderen ähnelte, den Hans Castorp jemals gehört hatte, ja, mit dem verglichen jeder andere ihm bekannte Husten eine prächtige und gesunde Lebensäußerung gewesen war, – ein Husten ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Stößen geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflö-sung klang.
"Ja", sagte Joachim, "da sieht es böse aus. Ein österreichischer Aristokrat, weißt du, eleganter Mann und ganz wie zum Her-renreiter geboren. Und nun steht es so mit ihm. Aber er geht noch herum."
Während sie ihren Weg fortsetzten, sprach Hans Castorp an-gelegentlich über den Husten des Herrenreiters. "Du mußt be-denken", sagte er, "daß ich dergleichen nie gehört habe, daß es mir völlig neu ist, da macht es natürlich Eindruck auf mich. Es gibt so vielerlei Husten, trockenen und losen, und der lose ist eher noch vorteilhafter, wie man allgemein sagt, und besser, als wenn man so bellt. Als ich in meiner Jugend ("in meiner Ju-gend" sagte er) Bräune hatte, da bellte ich wie ein Wolf, und sie waren alle froh, als es locker wurde, ich kann mich noch dran erinnern. Aber so ein Husten, wie dieser, war noch nicht da, für mich wenigstens nicht, – das ist ja gar kein lebendiger Husten mehr. Er ist nicht trocken, aber lose kann man ihn auch nicht nennen, das ist noch längst nicht das Wort. Es ist ja gerade, als ob man dabei in den Menschen hineinsähe, wie es da aussieht, – alles ein Matsch und Schlamm …"
Na", sagte Joachim, "ich höre es ja jeden Tag, du brauchst es mir nicht zu beschreiben."
Aber Hans Castorp konnte sich gar nicht über den vernommenen Husten beruhigen, er versicherte wiederholt, daß man förmlich dabei in den Herrenreiter hineinsähe, und als sie das Restaurant betraten, hatten seine reisemüden Augen einen er-regten Glanz.
Im Restaurant
Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich. Es lag gleich rechts an der Halle, den Konversationsräumen gegenüber, und wurde, wie Joachim erklärte, hauptsächlich von neu angekom-menen, außer der Zeit speisenden Gästen, und von solchen, die Besuch hatten, benutzt. Aber auch Geburtstage und bevorste-hende Abreisen wurden dort festlich begangen, sowie günstige Ergebnisse von Generaluntersuchungen. Manchmal gehe es hoch her im Restaurant, sagte Joachim; auch Champagner wer-de serviert. Jetzt saß niemand als eine einzelne etwa dreißigjäh-rige Dame darin, die in einem Buche las, aber dabei vor sich hin summte und mit dem Mittelfinger der linken Hand immerfort leicht auf das Tischtuch klopfte. Als die jungen Leute sich nie-dergelassen hatten, wechselte sie den Platz, um ihnen den Rük-ken zuzuwenden. Sie sei menschenscheu, erklärte Joachim leise, und esse immer mit einem Buche im Restaurant. Man wollte wissen, daß sie schon als ganz junges Mädchen in Lungensana-lorien eingetreten sei und seitdem nicht mehr in der Welt ge-lebt habe.
"Nun, dann bist du ja noch ein junger Anfänger gegen sie mit deinen fünf Monaten und wirst es noch sein, wenn du ein Jahr auf dem Buckel hast", sagte Hans Castorp zu seinem Vetter; worauf Joachim mit jenem Achselzucken, das ihm früher nicht eigen gewesen war, zur Menükarte griff.
Sie hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang saßen sie einander gegenüber, die Gesichter beglüht vom Schein des rot umhüllten elektrischen Tischlämpchens. Hans Castorp faltete seine frisch gewaschenen Hände und rieb sie behaglich-erwartungsvoll aneinander, wie er zu tun pflegte, wenn er sich zu Ti-sche setzte, – vielleicht weil seine Vorfahren vor der Suppe ge-betet hatten. Ein freundliches, gaumig sprechendes Mädchen in schwarzem Kleide mit weißer Schürze und einem großen Ge-sicht von überaus gesunder Farbe bediente sie, und zu seiner großen Heiterkeit ließ Hans Castorp sich belehren, daß man die Kellnerinnen hier "Saaltöchter" nenne. Sie bestellten eine Fla-sche Gruaud Larose bei ihr, die Hans Castorp noch einmal fort-schickte, um sie besser temperieren zu lassen. Das Essen war vorzüglich. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete süße Speise, eine Käseplatte und Obst. Hans Castorp aß sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung.
Joachim tat den Gerichten nicht viel Ehre an. Er hatte die Küche satt, sagte er, das hätten sie alle hier oben, und es sei Brauch, auf das Essen zu schimpfen; denn wenn man hier ewig und drei Tage sitze … Dagegen trank er mit Vergnügen, ja mit einer gewissen Hingebung von dem Wein, und gab unter sorg-fältiger Vermeidung allzu gefühlvoller Wendungen wiederholt seiner Genugtuung Ausdruck, daß jemand da sei, mit dem man ein vernünftiges Wort reden könne.
"Ja, es ist brillant, daß du gekommen bist!" sagte er, und seine gemächliche Stimme war bewegt. "Ich kann wohl sagen, es ist für mich geradezu ein Ereignis. Das ist doch einmal eine Ab-wechslung, – ich meine, es ist ein Einschnitt, eine Gliederung in dem ewigen, grenzenlosen Einerlei …"
"Aber die Zeit muß euch eigentlich schnell hier vergehen", meinte Hans Castorp.
"Schnell und langsam, wie du nun willst", antwortete Joachim. "Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, – nein, das ist es nicht", sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.
Auch Hans Castorp trank, obgleich sein Gesicht nun wie Feuer brannte. Aber am Körper war ihm noch immer kalt, und eine besondere freudige und doch etwas quälende Unruhe war in seinen Gliedern. Seine Worte überhasteten sich, er versprach sich des öfteren und ging mit einer wegwerfenden Handbewe-gung darüber hin. Übrigens war auch Joachim in belebter Stim-mung, und um so freier und aufgeräumter ging ihr Gespräch, als die summende, pochende Dame ganz plötzlich aufgestanden und davongegangen war. Sie gestikulierten beim Essen mit den Gabeln, machten, einen Bissen in der Backe, wichtige Mienen, lachten, nickten, hoben die Schultern und hatten noch nicht or-dentlich hinuntergeschluckt, wenn sie schon weitersprachen. Joachim wollte von Hamburg hören und hatte das Gespräch auf die geplante Eibregulierung gebracht.
"Epochal!" sagte Hans Castorp. "Epochal für die Entwicklung unserer Schiffahrt, – gar nicht zu überschätzen. Wir setzen fünf-zig Millionen als sofortige einmalige Ausgabe dafür ins Budget, und du kannst überzeugt sein, wir wissen genau, was wir tun."
Übrigens sprang er, bei aller Wichtigkeit, die er der Eibregulierung beimaß, gleich wieder ab von diesem Thema und ver-langte, daß Joachim ihm Weiteres von dem Leben "hier oben" und von den Gästen erzähle, was auch bereitwillig geschah, da Joachim froh war, sich erleichtern und mitteilen zu können. Das von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinuntersandte, mußte er wiederholen und noch einmal ausdrücklich versichern, daß es auf Wahrheit beruhe. Da Hans Castorp wieder vom La-chen ergriffen wurde, lachte auch er, was er herzlich zu genie-ßen schien, und ließ andere komische Dinge hören, um der Ausgelassenheit Nahrung zu geben. Eine Dame sitze mit ihm am Tische, namens Frau Stöhr, ziemlich krank übrigens, eine Musikergattin aus Cannstatt, – die sei das Ungebildetste, was ihm jemals vorgekommen. "Desinfiszieren", sage sie, – aber in vollstem Ernst. Und den Assistenten Krokowski nenne sie den "Fomulus". Das müsse man nun hinunterschlucken, ohne das Gesicht zu verziehen. Außerdem sei sie klatschsüchtig, wie übrigens die meisten hier oben, und einer anderen Dame, Frau Iltis, sage sie nach, sie trage ein "Sterilett". "Sterilett nennt sie das, – das ist doch unbezahlbar!" Und halb liegend, gegen die Lehnen ihrer Stühle zurückgeworfen, lachten sie so sehr, daß ihnen der Leib bebte und sie fast gleichzeitig Schluckauf bekamen.
Zwischendurch betrübte Joachim sich und gedachte seines Loses.
"Ja, da sitzen wir nun und lachen", sagte er mit schmerzendem Gesicht und zuweilen von den Erschütterungen seines Zwerchfelles unterbrochen; "und dabei ist gar nicht abzusehen, wann ich hier wegkomme, denn wenn Behrens sagt: noch ein halbes Jahr, dann ist es knapp gerechnet, man muß sich auf mehr gefaßt machen. Aber es ist doch hart, sage mal selbst, ob es nicht traurig für mich ist. Da war ich nun schon genommen, und im nächsten Monat könnte ich meine Offiziersprüfung machen. Und nun lungere ich hier herum mit dem Thermometer im Mund und zähle die Schnitzer von dieser ungebildeten Frau Stöhr und versäume die Zeit. Ein Jahr spielt solch eine Rolle in unserem Alter, es bringt im Leben unten so viele Veränderun-gen und Fortschritte mit sich. Und ich muß hier stagnieren wie ein Wasserloch, – ja, ganz wie ein fauliger Tümpel, es ist gar kein krasser Vergleich …"
Sonderbarerweise antwortete Hans Castorp hierauf nur mit der Frage, ob man hier eigentlich Porter bekommen könne, und als sein Vetter ihn etwas erstaunt betrachtete, sah er, daß jener im Einschlafen begriffen war, – eigentlich schlief er schon.
"Aber du schläfst ja!" sagte Joachim. "Komm, es ist Zeit, zu Bett zu gehen, für uns beide."
"Es ist überhaupt keine Zeit", sagte Hans Castorp mit schwe-rer Zunge. Aber er ging doch mit, etwas gebückt und steifbei-nig, wie ein Mensch, der von Müdigkeit förmlich zu Boden ge-zogen wird, – nahm sich jedoch gewaltsam zusammen, als er in der nur noch matt erleuchteten Halle Joachim sagen hörte:
"Da sitzt Krokowski. Ich muß dich, glaube ich, rasch noch vorstellen."
Dr. Krokowski saß im Hellen, am Kamin des einen Konversationszimmers, gleich bei der offenen Schiebetür, und las eine Zeitung. Er stand auf, als die jungen Leute auf ihn zutraten und Joachim in militärischer Haltung sagte:
"Darf ich Ihnen, bitte, meinen Vetter Castorp aus Hamburg vorstellen, Herr Doktor. Er ist eben erst angekommen."
Dr. Krokowski begrüßte den neuen Hausgenossen mit einer gewissen heiteren, stämmigen und aufmunternden Herzhaftigkeit, als wollte er andeuten, daß Aug in Auge mit ihm jede Be-fangenheit überflüssig und einzig fröhliches Vertrauen am Plat-ze sei. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, breitschultrig, fett, bedeutend kleiner als die beiden, die vor ihm standen, so daß er den Kopf schräg zurücklegen mußte, um ihnen ins Gesicht zu sehen, – und außerordentlich bleich, von durchschei-nender, ja phosphoreszierender Blässe, die noch gehoben wurde durch die dunkle Glut seiner Augen, die Schwärze seiner Brau-en und seines ziemlich langen, in zwei Spitzen auslaufenden Vollbartes, der bereits ein paar weiße Fäden zeigte. Er trug einen schwarzen, schon etwas abgenutzten Sakkoanzug, schwarze, durchbrochene, sandalenartige Halbschuhe zu dicken, grauwol-lenen Socken und einen weich überfallenden Halskragen, wie Hans Castorp ihn bis dahin nur bei einem Photographen in Danzig gesehen hatte und welcher der Erscheinung Dr. Kro-kowskis in der Tat ein ateliermäßiges Gepräge verlieh. Herzlich lächelnd, so daß in seinem Barte die gelblichen Zähne sichtbar wurden, schüttelte er dem jungen Manne die Hand, indem er mit baritonaler Stimme und etwas fremdländisch schleppenden Akzenten sagte:
"Seien Sie uns willkommen, Herr Castorp! Möchten Sie sich rasch einleben und sich wohlfühlen in unserer Mitte. Sie kom-men zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?"
Es war rührend zu sehen, wie Hans Castorp arbeitete, um sich artig zu erweisen und seiner Schläfrigkeit Herr zu werden. Er ärgerte sich, so schlecht in Form zu sein, und sah mit dem miß-trauischen Selbstbewußtsein junger Leute in dem Lächeln und dem aufmunternden Wesen des Assistenten Zeichen nachsichti-gen Spottes. Er antwortete, indem er von den drei Wochen sprach, auch seines Examens erwähnte und hinzufügte, daß er, gottlob, ganz gesund sei.
"Wahrhaftig?" fragte Dr. Krokowski, indem er seinen Kopf wie neckend schräg vorwärts stieß und sein Lächeln verstärkte … "Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen. Was für ein Examen haben Sie abgelegt, wenn die Frage erlaubt ist?"
"Ich bin Ingenieur, Herr Doktor", antwortete Hans Castorp mit bescheidener Würde.
"Ah, Ingenieur!" Und Dr. Krokowskis Lächeln zog sich gleichsam zurück, büßte an Kraft und Herzlichkeit für den Au-genblick etwas ein. "Das ist wacker. Und Sie werden hier also keinerlei ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in körperlicher noch in psychischer Hinsicht?"
"Nein, ich danke tausendmal!" sagte Hans Castorp und wäre fast einen Schritt zurückgewichen.
Da brach das Lächeln Dr. Krokowskis wieder siegreich her-vor, und indem er dem jungen Manne aufs neue die Hand schüttelte, rief er mit lauter Stimme:
"Nun, so schlafen Sie denn wohl, Herr Castorp, – im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und auf Wiedersehn!" – Damit entließ er die jungen Leute und setzte sich wieder zu seiner Zeitung nieder.
Der Aufzug hatte keine Bedienung mehr, und so legten sie zu Fuß die Treppen zurück, schweigend und etwas verwirrt von der Begegnung mit Dr. Krokowski. Joachim begleitete Hans Castorp auf Nummer Vierunddreißig, wo der Hinkende das Gepäck des Ankömmlings richtig eingeliefert hatte, und sie plauderten noch eine Viertelstunde, während Hans Castorp Nacht – und Waschzeug auspackte und eine dicke, milde Ziga-rette dazu rauchte. Zur Zigarre kam er heute nicht mehr, was ihm wunderlich und außerordentlich erschien.
"Er sieht sehr bedeutend aus", sagte er, indem er beim Sprechen den eingeatmeten Rauch hervorsprudelte. "Wachsbleich ist er. Aber mit seiner Chaussure, höre mal, da steht es scheußlich. Grauwollene Socken und dann diese Sandalen. War er zum Schluß eigentlich beleidigt?"