Der Zauberberg. Volume 2

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"Tja, die will wohl nicht?" lachte der Hofrat gemütlich.
"Nein, sie wollte nichts davon wissen. Schreibt sie Ihnen denn auch nie zwischendurch, von ihren Aufenthaltsorten?"
"I, Gott bewahre", antwortete Behrens. "Das fällt doch der nicht ein. Erstens aus Faulheit nicht, und dann, wie soll sie denn schreiben? Russisch kann ich nicht lesen, – ich kauderwelsche es wohl mal, wenn Not an den Mann kommt, aber lesen kann ich kein Wort. Und Sie doch auch nicht. Na, und Französisch oder auch Neuhochdeutsch miaut das Kätzchen ja allerliebst, aber schreiben, – da käme sie in die größte Verlegenheit. Die Ortho-graphie, lieber Freund! Nein, da müssen wir uns schon trösten, mein Junge. Sie kommt ja immer mal wieder, von Zeit zu Zeit. Frage der Technik, Temperamentssache, wie gesagt. Der eine hält dann und wann Abreise und muß immer wiederkommen, und der andere bleibt gleich so lange, daß er nie wiederzukom-men braucht. Wenn Ihr Vetter jetzt abreist, das sagen Sie ihm nur, so kann es leicht sein, daß Sie seinen solennen Wiederein-zug noch hier erleben."
"Aber Herr Hofrat, wie lange meinen Sie denn, daß ich …" "Daß Sie? Daß er! Daß er nicht so lange untenbleiben wird, wie er hier oben war. Das meine ich für meine treuherzige Person, und das ist mein Auftrag an Sie für ihn, wenn Sie so freundlich sein wollen."
Ähnlich mochte wohl so ein Gespräch verlaufen, pfiffig ge-lenkt von Hans Castorp, wenn das Ergebnis auch nichtig bis zweideutig gewesen war. Denn was das betraf, wie lange man bleiben müsse, um die Wiederkehr eines vor der Zeit Abgerei-sten zu erleben, war es zweideutig gewesen, in Hinsicht auf die Entschwundene aber gleich null. Hans Castorp würde nichts von ihr hören, solange das Geheimnis von Raum und Zeit sie trennte; sie würde nicht schreiben, und auch ihm würde keine Gelegenheit gegeben sein, es zu tun … Warum denn auch übri-gens, hätte es sich anders verhalten sollen, wenn er es wohl überlegte? War es nicht eine recht bürgerliche und pedantische Vorstellung von ihm gewesen, daß sie einander schreiben müß-ten, während ihm doch ehemals zumute gewesen war, als sei es nicht einmal nötig oder nur wünschenswert, daß sie miteinan-der sprächen? Und hatte er denn auch etwa mit ihr "gesprochen", im Sinne des gebildeten Abendlandes, an ihrer Seite am Fa-schingsabend, oder nicht vielmehr fremdsprachig im Traum ge-redet, auf wenig zivilisierte Weise?
Wozu denn also nun schreiben, auf Briefpapier oder An-sichtskarten, wie er sie manchmal nach Hause ins Flachland richtete, um über die Schwankungen der Untersuchungsergebnisse zu berichten? Hatte Clawdia nicht recht, sich vom Schreiben entbunden zu fühlen, kraft der Freiheit, welche die Krank-heit ihr gab? Sprechen, schreiben, – eine hervorragend humanistisch-republikanische Angelegenheit in der Tat, Angelegen-heit des Herrn Brunetto Latini, der das Buch von den Tugenden und Lastern schrieb und den Florentinern Schliff gab, sie das Sprechen lehrte und die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken …
Damit fielen Hans Castorps Gedanken denn auf Lodovico Settembrini, und er errötete, wie er damals errötet war, als der Schriftsteller unvermutet sein Krankenzimmer betreten hatte, unter plötzlicher Erleuchtung desselben. An Herrn Settembrini hätte Hans Castorp ja ebenfalls seine Fragen, die übersinnlichen Rätsel betreffend, richten können, wenn auch nur im Sinne der Herausforderung und der Quengelei, nicht in der Erwartung, von dem Humanisten, dessen Trachten den irdischen Lebensin-teressen galt, Antwort darauf zu erhalten. Aber seit der Fa-schingsgeselligkeit und Settembrini s bewegtem Abgang aus dem Klaviersalon waltete zwischen Hans Castorp und dem Ita-liener eine Entfremdung, die auf das schlechte Gewissen des ei-nen, sowie auf die tiefe pädagogische Verstimmung des andern zurückzuführen war und dahin wirkte, daß sie einander mieden und wochenlang kein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. War Hans Castorp noch ein "Sorgenkind des Lebens" in Herrn Settembrinis Augen? Nein, er war wohl ein Aufgegebener in den Augen dessen, der die Moral in der Vernunft und der Tu-gend suchte … Und Hans Castorp verstockte sich gegen Herrn Settembrini, er zog die Brauen zusammen und warf die Lippen auf, wenn sie einander begegneten, während Herrn Settembrinis schwarz glänzender Blick mit schweigendem Vorwurf auf ihm ruhte. Dennoch löste diese Verstocktheit sich sofort, als der Literat nach Wochen, wie gesagt, zum erstenmal wieder das Wort an ihn richtete, wenn auch nur im Vorüberstreifen und in Form mythologischer Anspielungen, zu deren Verständnis abendländische Bildung gehörte. Es war nach dem Diner; sie trafen in der nicht mehr zufallenden Glastür zusammen. Settembrini sagte, den jungen Mann überholend und von vornher-ein im Begriff, sich gleich wieder von ihm zu lösen: –
"Nun, Ingenieur, wie hat der Granatapfel gemundet?"
Hans Castorp lächelte erfreut und verwirrt.
"Das heißt… Wie meinen Sie, Herr Settembrini? Granatapfel? Es gab doch keine? Ich habe nie im Leben … Doch, einmal habe ich Granatapfelsaft mit Selters getrunken. Es schmeckte zu süßlich."
Der Italiener, schon vorüber, wandte den Kopf zurück und artikulierte: "Götter und Sterbliche haben zuweilen das Schat-tenreich besucht und den Rückweg gefunden. Aber die Unterir-dischen wissen, daß, wer von den Früchten ihres Reiches kostet, ihnen verfallen bleibt."
Und er ging weiter, in seinen ewig hell gewürfelten Hosen, und ließ im Rücken Hans Castorp, der "durchbohrt" sein sollte von so viel Bedeutung und es gewissermaßen auch war, ob-gleich er, ärgerlich erheitert über die Zumutung, es zu sein, vor sich hin murmelte:
"Latini, Carducci, Ratzi-Mausi-Falli, laß mich in Frieden!"
Gleichwohl war er sehr glücklich bewegt über diese erste Anrede; denn trotz der Trophäe, dem makabren Angebinde, das er auf dem Herzen trug, hing er an Herrn Settembrini, legte großes Gewicht auf sein Dasein, und der Gedanke, gänzlich und auf immer von ihm verworfen und aufgegeben zu sein, wäre denn doch beschwerender und schrecklicher für seine Seele ge-wesen, als das Gefühl des Knaben, der in der Schule nicht mehr in Betracht gekommen war und die Vorteile der Schande ge-nossen hatte, wie Herr Albin … Doch wagte er nicht, von seiner Seite das Wort an den Mentor zu richten, und dieser ließ abermals Wochen vergehen, bis er sich dem Sorgenzögling wieder einmal näherte.
Das geschah, als auf den in ewig eintönigem Rhythmus an-rollenden Meereswogen der Zeit Ostern herangetrieben war und auf "Berghof" begangen wurde, wie man alle Etappen und Umschnitte dort aufmerksam beging, um ein ungegliedertes Ei-nerlei zu vermeiden. Beim ersten Frühstück fand jeder Gast ne-ben seinem Gedecke ein Veilchensträußchen, beim zweiten Frühstück erhielt jedermann ein gefärbtes Ei, und die festliche Mittagstafel war mit Häschen geschmückt aus Zucker und Scho-kolade.
"Haben Sie je eine Schiffsreise gemacht, Tenente, oder Sie, Ingenieur?" fragte Herr Settembrini, als er nach Tische in der Halle mit seinem Zahnstocher an das Tischchen der Vettern her-antrat … Wie die Mehrzahl der Gäste kürzten sie heute den Hauptliegedienst um eine Viertelstunde, indem sie sich hier zu einem Kaffee mit Kognak niedergelassen hatten. "Ich bin erin-nert durch diese Häschen, diese gefärbten Eier an das Leben auf so einem großen Dampfer, bei leerem Horizont seit Wochen, in salziger Wüstenei, unter Umständen, deren vollkommene Be-quemlichkeit ihre Ungeheuerlichkeit nur oberflächlich verges-sen läßt, während in den tieferen Gegenden des Gemütes das Bewußtsein davon als ein geheimes Grauen leise fortnagt… Ich erkenne den Geist wieder, in dem man an Bord einer sol-chen Arche die Feste der terra ferma pietätvoll andeutet. Es ist das Gedenken von Außerweltlichen, empfindsame Erinnerung nach dem Kalender … Auf dem Festlande wäre heut Ostern, nicht wahr? Auf dem Festlande begeht man heut Königs Ge-burtstag, – und wir tun es auch, so gut wir können, wir sind auch Menschen … Ist es nicht so?"
Die Vettern stimmten zu. Wahrhaftig, so sei es. Hans Castorp, gerührt von der Anrede und vom schlechten Gewissen gespornt, lobte die Äußerung in hohen Tönen, fand sie geist-reich, vorzüglich und schriftstellerisch und redete Herrn Set-tembrini aus allen Kräften nach dem Munde. Gewiß, nur ober-flächlich, ganz wie Herr Settembrini es so plastisch gesagt habe, lasse der Komfort auf dem Ozean-Steamer die Umstände und ihre Gewagtheit vergessen, und es liege, wenn er auf eigene Hand das hinzufügen dürfe, sogar eine gewisse Frivolität und Herausforderung in diesem vollendeten Komfort, etwas dem Ähnliches, was die Alten Hybris genannt hätten (sogar die Alten zitierte er aus Gefallsucht), oder dergleichen, wie "Ich bin der König von Babylon!", kurz Frevelhaftes. Auf der anderen Seite aber involviere ("involviere"!) der Luxus an Bord doch auch ei-nen großen Triumph des Menschengeistes und der Menschen-ehre, – indem er diesen Luxus und Komfort auf die salzigen Schäume hinaustrage und dort kühnlich aufrecht erhalte, setze der Mensch gleichsam den Elementen den Fuß auf den Nacken, den wilden Gewalten, und das involviere den Sieg der mensch-lichen Zivilisation über das Chaos, wenn er auf eigene Hand diesen Ausdruck gebrauchen dürfe …
Herr Settembrini hörte ihm aufmerksam zu, die Füße ge-kreuzt und die Arme ebenfalls, wobei er sich auf zierliche Art mit dem Zahnstocher den geschwungenen Schnurrbart strich.
"Es ist bemerkenswert", sagte er. "Der Mensch tut keine nur einigermaßen gesammelte Äußerung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. So ist es Ihnen soeben ergangen, In-genieur. Was Sie da sagten, kam in der Tat aus dem Grunde Ihrer Persönlichkeit, und auch den zeitlichen Zustand dieser Per-sönlichkeit drückte es auf dichterische Weise aus: es ist immer noch der Zustand des Experimentes …"
"Placet experiri!" sagte Hans Castorp nickend und lachend, mit italienischem c.
"Sicuro, – wenn es sich dabei um die respektable Leidenschaft der Welterprobung handelt und nicht um Liederlichkeit. Sie sprachen von 'Hybris', Sie bedienten sich dieses Ausdrucks. Aber die Hybris der Vernunft gegen die dunklen Gewalten ist höchste Menschlichkeit, und beschwört sie die Rache neidischer Götter herauf, per esempio, indem die Luxusarche scheitert und senkrecht in die Tiefe geht, so ist das ein Untergang in Ehren. Auch die Tat des Prometheus war Hybris, und seine Qual am skythischen Felsen gilt uns als heiligstes Martyrium. Wie steht es dagegen um jene andere Hybris, um den Untergang im buh-lerischen Experiment mit den Mächten der Widervernunft und der Feindschaft gegen das Menschengeschlecht? Hat das Ehre? Kann das Ehre haben? Si o no!"
Hans Castorp rührte in seinem Täßchen, obgleich nichts mehr darin war.
"Ingenieur, Ingenieur", sagte der Italiener mit dem Kopfe nickend, und seine schwarzen Augen hatten sich sinnend "fest-gesehen", "fürchten Sie nicht den Wirbelsturm des zweiten Höllenkreises, der die Fleischessünder prellt und schwenkt, die Unseligen, die die Vernunft der Lust zum Opfer brachten? Gran Dio, wenn ich mir einbilde, wie Sie kopfüber, kopfunter um-hergepustet flattern werden, so möchte ich vor Kummer umfal-len wie eine Leiche fällt …"
Sie lachten, froh, daß er scherzte und Poetisches redete. Aber Settembrini setzte hinzu:
"Am Faschingsabend beim Wein, Sie erinnern sich, Ingenieur, nahmen Sie gewissermaßen Abschied von mir, doch, es war etwas dem Ähnliches. Nun, heute bin ich an der Reihe. Wie Sie mich hier sehen, meine Herren, bin ich im Begriff, Ihnen Lebewohl zu sagen. Ich verlasse dies Haus."
Beide verwunderten sich aufs höchste.
"Nicht möglich! Das ist nur Scherz!" rief Hans Castorp, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. Er war fast eben-so erschrocken wie damals. Aber auch Settembrini erwiderte: "Durchaus nicht. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und übrigens trifft Sie diese Nachricht nicht unvorbereitet. Ich habe Ihnen erklärt, daß in dem Augenblick, wo sich meine Hoffnung, in irgendwie absehbarer Zeit in die Welt der Arbeit zurückkehren zu können, als unhaltbar erweisen werde, ich hier meine Zelte abzubrechen und irgendwo im Orte mich für die Dauer einzurichten entschlossen sei. Was wollen Sie nun, – dieser Augenblick ist ein-getreten. Ich kann nicht genesen, es ist ausgemacht. Ich kann mein Leben fristen, aber nur hier. Das Urteil, das endgültige Urteil, lautet auf lebenslänglich, – mit der ihm eigenen Aufge-räumtheit hat Hofrat Behrens es mir verkündet. Gut denn, ich ziehe die Folgerungen. Ein Logis ist gemietet, ich bin im Be-griffe, meine geringe irdische Habe, mein literarisches Hand-werkszeug dorthin zu schaffen … Es ist nicht einmal weit von hier, in 'Dorf', wir werden einander begegnen, gewiß, ich wer-de Sie nicht aus den Augen verlieren, als Hausgenosse aber habe ich die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden."
So Settembrinis Eröffnung am Ostersonntag. Die Vettern hatten sich außerordentlich bewegt darüber gezeigt. Des längeren noch, und wiederholt, hatten sie mit dem Literaten über sei-nen Entschluß gesprochen: darüber, wie er auch privatim den Kurdienst weiter werde ausüben können, über die Mitnahme und Fortführung ferner der weitläufigen enzyklopädischen Arbeit, die er auf sich genommen, jener Übersicht aller schöngei-stigen Meisterwerke, unter dem Gesichtspunkt der Leidenskon-flikte und ihrer Ausmerzung; endlich auch über sein zukünfti-ges Quartier im Hause eines "Gewürzkrämers", wie Herr Set-tembrini sich ausdrückte. Der Gewürzkrämer, berichtete er, habe den oberen Teil seines Eigentums an einen böhmischen Da-menschneider vermietet, der seinerseits Aftermieter aufneh-me … Diese Gespräche also lagen zurück. Die Zeit schritt fort, und mehr als eine Veränderung hatte sie bereits gezeitigt. Set-tembrini wohnte wirklich nicht mehr im internationalen Sanatorium "Berghof", sondern bei Lukaçek, dem Damenschneider, – schon seit einigen Wochen. Nicht in Form einer Schlittenab-reise hatte sein Auszug sich abgespielt, sondern zu Fuß, in kur-zem, gelbem Paletot, der am Kragen und an den Ärmeln ein wenig mit Pelz besetzt war, und begleitet von einem Mann, der auf einem Schubkarren das literarische und das irdische Hand-gepäck des Schriftstellers beförderte, hatte man ihn stock-schwingend davongehen sehen, nachdem er noch unterm Portal eine Saaltochter mit den Rücken zweier Finger in die Wange gezwickt … Der April, wie wir sagten, lag schon zu einem gu-ten Teil, zu drei Vierteln, im Schatten der Vergangenheit, noch war es tiefer Winter, gewiß, im Zimmer hatte man knappe sechs Wärmegrade am Morgen, draußen war neungradige Kälte, die Tinte im Glase, wenn man es in der Loggia ließ, gefror über Nacht noch immer zu einem Eisklumpen, einem Stück Stein-kohle. Aber der Frühling nahte, das wußte man; am Tage, wenn die Sonne schien, spürte man hie und da bereits eine ganz leise, ganz zarte Ahnung von ihm in der Luft; die Periode der Schneeschmelze stand in naher Aussicht, und damit hingen die Veränderungen zusammen, die sich auf "Berghof" unaufhaltsam vollzogen, – nicht aufzuhalten selbst durch die Autorität, das le-bendige Wort des Hofrats, der in Zimmer und Saal, bei jeder Untersuchung, jeder Visite, jeder Mahlzeit das populäre Vorur-teil gegen die Schneeschmelze bekämpfte.
Ob es Wintersportsleute seien, fragte er, mit denen er es zu tun habe, oder Kranke, Patienten? Wozu in aller Welt sie denn Schnee, gefrorenen Schnee brauchten? Eine ungünstige Zeit, – die Schneeschmelze? Die allergünstigste sei es! Nachweislich gäbe es im ganzen Tal um diese Zeit verhältnismäßig weniger Bettlägrige, als irgendwann sonst im Jahre! Überall in der wei-ten Welt seien die Wetterbedingungen für Lungenkranke zu dieser Frist schlechter als gerade hier! Wer einen Funken Ver-stand habe, der harre aus und nutze die abhärtende Wirkung der hiesigen Witterungsverhältnisse. Danach dann sei er fest gegen Hieb und Stich, gefeit gegen jedes Klima der Welt, vorausge-setzt nur, daß der volle Eintritt der Heilung abgewartet worden sei – und so fort. Aber der Hofrat hatte gut reden, – die Vorein-genommenheit gegen die Schneeschmelze saß fest in den Köp-fen, der Kurort leerte sich; wohl möglich, daß es der sich nä-hernde Frühling war, der den Leuten im Leibe rumorte und seßhafte Leute unruhig und veränderungssüchtig machte, – je-denfalls mehrten die "wilden" und "falschen" Abreisen sich auch im Hause Berghof bis zur Bedenklichkeit. Frau Salomon aus Amsterdam zum Beispiel, trotz dem Vergnügen, das die Untersuchungen und das damit verbundene Zurschaustellen feinster Spitzenwäsche ihr bereiteten, reiste vollständig wilder-und falscherweise ab, ohne jede Erlaubnis und nicht, weil es ihr besser, sondern weil es ihr immer schlechter ging. Ihr Aufent-halt hier oben verlor sich weit zurück hinter Hans Castorps An-kunft; länger als ein Jahr war es her, daß sie eingetroffen war, – mit einer ganz leichten Affektion, für die ihr drei Monate zu-diktiert worden waren. Nach vier Monaten hatte sie "in vier Wochen sicher gesund" sein sollen, aber sechs Wochen später hatte von Heilung überhaupt nicht die Rede sein können: sie müsse, hatte es geheißen, mindestens noch vier Monate bleiben. So war es fortgegangen, und es war ja kein Bagno und kein si-birisches Bergwerk hier, – Frau Salomon war geblieben und hatte feinstes Unterzeug an den Tag gelegt. Da sie nun aber nach der letzten Untersuchung, im Angesicht der Schnee-schmelze, eine neue Zulage von fünf Monaten erhalten hatte, wegen Pfeifens links oben und unverkennbarer Mißtöne unter der linken Achsel, war ihr die Geduld gerissen, und mit Protest, unter Schmähungen auf "Dorf" und "Platz", auf die berühmte Luft, das internationale Haus Berghof und die Ärzte reiste sie ab, nach Hause, nach Amsterdam, einer zugigen Wasserstadt.
War das klug gehandelt? Hofrat Behrens hob Schultern und Arme auf und ließ die letzteren geräuschvoll gegen die Schen-kel zurückfallen. Spätestens im Herbst, sagte er, werde Frau Salomon wieder da sein, – dann aber auf immer. Würde er recht behalten? Wir werden sehen, wir sind noch auf längere Erden-zeit an diesen Lustort gebunden. Aber der Fall Salomon war also durchaus nicht der einzige seiner Art. Die Zeit zeitigte Ver-änderungen, – sie hatte das ja immer getan, aber allmählicher, nicht so auffallend. Der Speisesaal wies Lücken auf, Lücken an allen sieben Tischen, am Guten Russentisch wie am Schlechten, an den längs – wie an den querstehenden. Nicht gerade, daß dies von der Frequenz des Hauses ein zuverlässiges Bild gegeben hätte; auch Ankünfte, wie jederzeit, hatten stattgefunden; die Zimmer mochten besetzt sein, aber da handelte es sich eben um Gäste, die durch finalen Zustand in ihrer Freizügigkeit einge-schränkt waren. Im Speisesaal, wie wir sagten, fehlte manch einer dank noch bestehender Freizügigkeit; manch einer aber tat es sogar auf eine besonders tiefe und hohle Weise, wie Dr. Blumenkohl, der tot war. Immer stärker hatte sein Gesicht den Ausdruck angenommen, als habe er etwas schlecht Schmecken-des im Munde; dann war er dauernd bettlägrig geworden und dann gestorben, – niemand wußte genau zu sagen, wann; mit aller gewohnten Rücksicht und Diskretion war die Sache behandelt worden. Eine Lücke. Frau Stöhr saß neben der Lücke, und sie graute sich vor ihr. Darum siedelte sie an des jungen Ziemßen andere Seite über, an den Platz Miß Robinsons, die als geheilt entlassen worden, gegenüber der Lehrerin, Hans Ca-storps linksseitiger Nachbarin, die fest auf ihrem Posten geblieben war. Ganz allein saß sie derzeit an dieser Tischseite, die üb-rigen drei Plätze waren frei. Student Rasmussen, der täglich dünner und schlaffer geworden, war bettlägrig und galt für moribund; und die Großtante war mit ihrer Nichte und der hoch-brüstigen Marusja verreist, – wir sagen "verreist", wie alle es sagten, weil ihre Rückkehr in naher Zeit eine ausgemachte Sache war. Zum Herbst schon würden sie wieder eintreffen, – war das eine Abreise zu nennen? Wie nah war nicht Sommerson-nenwende, wenn erst einmal Pfingsten gewesen war, das vor der Türe stand; und kam der längste Tag, so gings ja rapide bergab, auf den Winter zu, – kurzum, die Großtante und Marusja waren beinahe schon wieder da, und das war gut, denn die lachlustige Marusja war keineswegs ausgeheilt und entgiftet; die Lehrerin wußte etwas von tuberkulösen Geschwüren, die die braunäugige Marusja an ihrer üppigen Brust haben sollte, und die schon mehrmals hatten operiert werden müssen. Hans Ca-storp hatte, als die Lehrerin davon sprach, hastig auf Joachim ge-blickt, der sein fleckig gewordenes Gesicht über seinen Teller geneigt hatte.
Die muntere Großtante hatte den Tischgenossen, also den Vettern, der Lehrerin und Frau Stöhr ein Abschiedssouper im Restaurant gegeben, eine Schmauserei mit Kaviar, Champagner und Likören, bei der Joachim sich sehr still verhalten, ja, nur einzelnes mit fast tonloser Stimme gesprochen hatte, so daß die Großtante in ihrer Menschenfreundlichkeit ihm Mut zugespro-chen und ihn dabei, unter Ausschaltung zivilisierter Sittengeset-ze, sogar geduzt hatte. "Hat nichts auf sich, Väterchen, mach' dir nichts draus, sondern trink, iß und sprich, wir kommen bald wieder!" hatte sie gesagt. "Wollen wir alle essen, trinken und schwatzen und den Gram – Gram sein lassen, Gott läßt Herbst werden, eh wir's gedacht, urteile selbst, ob Grund ist zum Kum-mer!" Am nächsten Morgen hatte sie zur Erinnerung bunte Schachteln mit "Konfäktchen" an fast alle Besucher des Speise-saales verteilt und war dann mit ihren beiden jungen Mädchen etwas verreist.
Und Joachim, wie stand es um ihn? War er befreit und er-leichtert seitdem, oder litt seine Seele schwere Entbehrung an-gesichts der leeren Tischseite? Hing seine ungewohnte und em-pörerische Ungeduld, seine Drohung, wilde Abreise halten zu wollen, wenn man ihn länger an der Nase führe, mit der Abreise Marusjas zusammen? Oder war vielmehr die Tatsache, daß er vorderhand eben doch noch nicht reiste, sondern der hofrätli-chen Verherrlichung der Schneeschmelze sein Ohr lieh, auf jene andere zurückzuführen, daß die hochbusige Marusja nicht ernst-lich abgereist, sondern nur etwas verreist war und in fünf klein-sten Teileinheiten hiesiger Zeit wieder eintreffen würde? Ach, das war wohl alles auf einmal der Fall, alles in gleichem Maße; Hans Castorp konnte es sich denken, auch ohne je mit Joachim über die Sache zu sprechen. Denn dessen enthielt er sich ebenso streng, wie Joachim es vermied, den Namen einer anderen etwas Verreisten zu nennen.
Unterdessen aber, an Settembrinis Tisch, an des Italieners Platz, – wer saß dort seit kurzem, in Gesellschaft holländischer Gäste, deren Appetit so ungeheuer war, daß jeder von ihnen sich zu Anfang des täglichen Fünf-Gänge-Diners, noch vor der Suppe, drei Spiegeleier servieren ließ? Es war Anton Karlo-witsch Ferge, er, der das höllische Abenteuer des Pleurachoks erprobt hatte! Ja, Herr Ferge war außer Bett; auch ohne Pneumothorax hatte sein Zustand sich so gebessert, daß er den größ-ten Teil des Tages mobil und angekleidet verbrachte und mit seinem gutmütig-bauschigen Schnurrbart und seinem ebenfalls gutmütig wirkenden großen Kehlkopf an den Mahlzeiten teil-nahm. Die Vettern plauderten manchmal mit ihm in Saal und Halle, und auch für die Dienstpromenaden taten sie sich dann und wann, wenn es sich eben so traf, mit ihm zusammen, Nei-gung im Herzen für den schlichten Dulder, der von hohen Din-gen gar nichts zu verstehen erklärte und, dies vorausgesandt, überaus behaglich von Gummischuhfabrikation und fernen Ge-bieten des russischen Reiches, Samara, Georgien, erzählte, wäh-rend sie im Nebel durch den Schneewasserbrei stapften.
Denn die Wege waren wirklich kaum gangbar jetzt, sie be-fanden sich in voller Auflösung, und die Nebel brauten. Der Hofrat sagte zwar, es seien keine Nebel, es seien Wolken; aber das war Wortfuchserei nach Hans Castorps Urteil. Der Frühling focht einen schweren Kampf, der sich, unter hundert Rückfällen ins Bitter-Winterliche, durch Monate, bis in den Juni hinein, erstreckte. Schon im März, wenn die Sonne schien, war es auf dem Balkon und im Liegestuhl, trotz leichtester Kleidung und Sonnenschirm vor Hitze kaum auszuhalten gewesen, und es gab Damen, die schon damals Sommer gemacht und bereits beim ersten Frühstück Musselinkleider vorgeführt hatten. Sie waren in einem Grade entschuldigt durch die Eigenart des Klimas hier oben, das Verwirrung begünstigte, indem es die Jahreszeiten meteorologisch durcheinander warf; aber es war auch bei ihrem Vorwitz viel Kurzsicht und Phantasielosigkeit im Spiel, jene Dummheit von Augenblickswesen, die nicht zu denken vermag, daß es noch wieder anders kommen kann, sowie vor allem Gier nach Abwechslung und zeitverschlingende Ungeduld: man schrieb März, das war Frühling, das war so gut wie Sommer, und man zog die Musselinkleider hervor, um sich darin zu zei-gen, ehe der Herbst einfiel. Und das tat er, gewissermaßen. Im April fielen trübe, naßkalte Tage ein, deren Dauerregen in Schnee, in wirbelnden Neuschnee überging. Die Finger erstarr-ten in der Loggia, die beiden Kamelhaardecken traten ihren Dienst wieder an, es fehlte nicht viel, daß man zum Pelzsack gegriffen hätte, die Verwaltung entschloß sich, zu heizen, und je-dermann klagte, man werde um seinen Frühling betrogen. Alles war dick verschneit gegen Ende des Monats; aber dann kam Föhn auf, vorausgesagt, vorausgewittert von erfahrenen und empfindlichen Gästen: Frau Stöhr sowohl, wie die elfenbeinfarbene Lewi, wie nicht minder die Witwe Hessenfeld spürten ihn einstimmig schon, bevor noch das kleinste Wölkchen über dem Gipfel des Granitbergs im Süden sich zeigte. Frau Hessenfeld neigte alsbald zu Weinkrämpfen, die Lewi wurde bettlägrig, und Frau Stöhr, die Hasenzähne störrisch entblößt, bekundete stündlich die abergläubische Befürchtung, ein Blutsturz möchte sie ereilen; denn die Rede ging, daß Föhnwind dergleichen be-fördere und bewirke. Unglaubliche Wärme herrschte, die Hei-zung erlosch, man ließ über Nacht die Balkontür offen und hatte trotzdem morgens elf Grad im Zimmer; der Schnee schmolz gewaltig, er wurde eisfarben, porös und löcherig, sackte zusammen, wo er zu Hauf lag, schien sich in die Erde zu verkriechen. Ein Sickern, Sintern und Rieseln war überall, ein Tropfen und Stürzen im Walde, und die geschaufelten Schranken an den Straßen, die bleichen Teppiche der Wiesen verschwanden, wenn auch die Massen allzu reichlich gelegen hatten, um rasch zu ver-schwinden. Da gab es wundersame Erscheinungen, Frühlings-überraschungen auf Dienstwegen im Tal, märchenhaft, nie gese-hen. Ein Wiesengebreite lag da, – im Hintergrunde ragte der Schwarzhornkegel, noch ganz im Schnee, mit dem ebenfalls noch tief verschneiten Scalettagletscher rechts in der Nähe, und auch das Gelände mit seinem Heuschober irgendwo lag noch im Schnee, wenn auch die Decke schon dünn und schütter war, von rauhen und dunklen Bodenerhebungen da und dort unter-brochen, von trockenem Grase überall durchstochen. Das war jedoch, wie die Wanderer fanden, eine unregelmäßige Art von Verschneitheit, die diese Wiese da aufwies, – in der Ferne, ge-gen die waldigen Lehnen hin, war sie dichter, im Vordergrund aber, vor den Augen der Prüfenden, war das noch winterlich dürre und mißfarbene Gras mit Schnee nur noch gesprenkelt, betupft, beblümt … Sie sahen es näher an, sie beugten sich staunend darüber, – das war kein Schnee, es waren Blumen, Schneeblumen, Blumenschnee, kurzstielige kleine Kelche, weiß und weißbläulich, es war Krokus, bei ihrer Ehre, millionenweise dem sickernden Wiesengrunde entsprossen, so dicht, daß man ihn gut und gern hatte für Schnee halten können, in den er wei-terhin denn auch ununterscheidbar überging.